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Sorgt Autoritarismus für ein Ende des Traums einer postmaterialistischen Zivilisation?

Eine neue wissenschaftliche Studie, die in der Zeitschrift Foresight veröffentlicht wurde, kam zu dem Schluss, dass die menschliche Zivilisation am Rande des nächsten „Riesensprungs“ in ihrer Evolution stehen könnte. Allerdings werden die Fortschritte durch zentralisierte, autoritäre und rechtsextreme politische Projekte vereitelt werden. Als Beispiel wurde in der Studie die bevorstehende, neu gewählte US-amerikanische Regierung unter Donald Trump genannt.

Autor der Studie

Nafeez Ahmed, ein renommierter Systemtheoretiker und Prognostiker, ist Autor der Studie. Als Mitglied des Club of Rome, der Earth4All Transformational Economics Commission und als Distinguished Fellow am Schumacher Institute for Sustainable Systems beschäftigt er sich mit systemischen Veränderungen in der Gsellschaft.

In einer Presseerklärung zu seiner Studie stellte er diese mit folgenden Worten vor:

Die industrielle Zivilisation steht vor einem unvermeidlichen Niedergang. Sie wird durch eine postmaterialistische Zivilisation ersetzt, die auf breit verteilter und überreichlich vorhandener sauberer Energie basiert.

Die größte Herausforderung bestünde darin, dass der Niedergang der aktuellen industriellen Zivilisationsart sehr dynamisch und schnell vor sich ginge. Dies führe dazu, dass die etablierten Finanz- und Wirtschaftssysteme diese Veränderung zu verhindern versuchten, da sie sich durch die Dynamik nicht auf die Folgen der Veränderung vorbereiten könnten.

Zusammenhänge

Die Studie zeigt, dass die Zunahme von autoritären Politikformen, angeführt von reaktionären Bemühungen zum Schutz fossiler Brennstoffe, zu den Faktoren gehört, die jede Veränderung verweigert. Im Mittelpunkt dieses Rückgangs steht der weltweite Rückgang des Energy Return On Investment (EROI) für Öl, Gas und Kohle.

Es sei zwar möglich, diesen Effekt durch den Übergang zu sauberen Energiequellen, bei denen sich der EROI am Ende exponentiell verbessert, zu mildern. Im Interesse autoritärer Regierungsformen sei diese Umstellung von ERIO-Erträgen allerdings nicht, da ein postmaterialistisches System in eine andere, unberechenbarere Gesellschaft führt. Unterstrichen wird diese These durch die vielen dezentralen, privaten Photovoltaik-Anlagen (PV). Ebenso sind offene Bürgerbeteiligungen an genossenschaftlich strukturierten Energieerzeugern (Energie in Bürgerhand, Bürgerwerke, etc) Bestätigungen dafür, dass sich Teile der Gesellschaft in Bezug auf die Energieerzeugung autark machen. Derartige Strukturen sind ein unerwünschter Keil in traditionell geprägten Monopolen oder Oligopolen auf dem Gebiet der Energieerzeugung, sei es nun im Primär- oder im Sekundärbereich.

Für Nafeez Achmed gilt es als sicher, dass wichtige technologische Innovationen wie saubere Energie, zelluläre Landwirtschaft, die Umstellung auf Elektrofahrzeuge und die zunehmenden Optionen künstlicher Intelligenz die Chancen und Fähigkeiten der menschlichen Zivilisation massiv verbessern werden.

Sie könnten in der Gesellschaft einen beispiellosen Wohlstand schaffen. Viele dieser Technologien sind von Natur aus vernetzt aufgebaut und dezentralisiert. Ebenfalls bestehen klar erkennbare, postmaterialistische Grundzüge.

Beispiele verdeutlichen den Konflikt

Die Dominanz und die Abhängigkeit von den bestehenden, alten, industriellen Hierarchien verschwindet, je stärker sich bestimmte Technologien „ungebremst“ in der Gesellschaft verbreiten. Beispiel: ein Hausbesitzer mit einer leistungsstarken PV-Anlage, einem Batteriespeicher, einem Elektroauto und einer Wärmepumpe hat durch seine privaten Investitionen seine Abhängigkeit in Energiefragen zumindest sehr stark reduziert. All diese Investitionen „schaden“ dem Energieversorger, dem Hersteller von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor und den Tankstellenbetreibern und ihren Oligopolen. Anbieter von Gas- und Kohle als fossile Brennstoffe für Heizung und Energieversorgung von Privathaushalten oder wärmeintensiver Industrie müssen Wärmepumpen, PV-Module und Windräder aus Interesse an ihren bestehenden sprudelnden Geldquellen ablehnen.

Dadurch entsteht potenziell eine wachsende Kluft zwischen dem, was die Studie das aktuelle industrielle Betriebssystem nennt, und dem neu entstehenden System einer in weiten Teilen postmaterialistisch geprägter Versorgung.

Dies könnte am Ende zu großen politischen und kulturellen Störungen der etablierten Wirtschafts- und Politiksysteme führen. Frei nach dem Ausspruch „Don’t rock the boat“ muss es für bestehende autoritär geprägte Staatsformen eine letale Giftpille sein, wenn sich Gesellschaftsformen mit mehr Autarkie durchsetzen würden.

Die Studie triggert

Der besondere Gedankenimpuls von Ahmed, nachdem ein postmaterialistischer, neuer Raum entstehen könnte, in dem sich die Menschheit mit überreichlicher Energie, Transport, Nahrung und Wissen versorgen kann, ohne der Erde zu schaden, triggert.

Eine meiner zentralen Fragen war und ist es, was genau die Kluft zwischen den Klimaleugnern und den Klimaaktivisten mit einer überwiegenden Anzahl von verunsicherten Menschen befeuert.

Meine bisherige Begründung betrachtete die rein finanzielle Seite, die auch in der Studie ihren Platz findet.

Wenn übermäßige Gewinnabschöpfungen zu verschwinden drohen, ist höchste Alarmstufe angesagt.

Im Wort Konservatismus steckt das Bewahrende von bestimmten Gegebenheiten. Im politischen Konservatismus ist es genau diese Strömung, die Menschen dazu verleitet, sich politischen Spektren zuzuwenden, die ein bewahren beziehungsweise auch eine Rückkehr in die gute alte Zeit versprechen. Dahinter liegt eine drohende, veränderte Verteilung von Vermögen.

Postmaterialistische Unabhängigkeit in Gesellschaften muss zwangsläufig dazu führen, dass die Reichen nicht weiter ungebremst immer reicher werden, sondern ein Abschmelzen droht. Auch würden postmaterialistische Arme nich automatisch immer ärmer, sondern immer unabhängiger.  Die politische Antwort: konservative Parolen, Nationalismus, das Infragestellen bestehender politischer Strukturen als sofortige Gegenmaßnahmen: Gefahr im Verzug.

Evolutionssprung?

Wenn man den gut beschriebenen Thesen von Ahmed folgt, könnte der nächste große Sprung in der menschlichen Evolution tatsächlich greifbar nahe sein. Wenn wir diesen Entwicklungssprung (gesteuert durch politische Einflüsse) verpassen, werden wir uns nicht weiterentwickeln. Die Art und Weise, wie wir Menschen diese aufkommenden, vernetzten Fähigkeiten verantwortungsbewusst und zum Nutzen aller verwalten würden, bliebe dann unerkannt.

Dies könnte dazu führen, dass wir in unserer Entwicklung zurückgehen und als Gesellschaft am Ende auch komplett im Zusammenhalt auseinanderbrechen könnten.

Konservatismus und Nationalismus als Gegenmittel

Der Fokus unserer aktuellen, medialen Berichterstattungen liegt komplett gegensätzlich zu der Studie von Nafeez Ahmed. Die komplette Studie Planetary phase shift as a new systems framework to navigatethe evolutionary transformation of human civilization kann gerne bei mir per Mail angefordert werden. Schreiben Sie nur „Studie“ an ralf.roschlau@gmail.com

Nahezu alle Schlagzeilen in den traditionellen und sozialen Medien konzentrieren sich auf eine Belebung und damit eine Fortsetzung der bisherigen rein wachstumsgeprägten Wirtschaftspolitik – und ihrer dahinterliegenden Industrieformen.

Es geht um nationale Abschottung oder um den Aufbau von Handelsbeschränkungen als Antwort auf die Globalisierung und den freien Welthandel. Berichterstattungen drehen sich um ein Wiederaufleben der fossilen Energieträger und ihrer Antriebssysteme, die unsere Mobilität der letzten 100 Jahre geprägt haben. Oder um den Abbau sozialer und auch karitativer Systeme, die bisher eine gewisse Balance im arm/reich-Verhältnis dargestellt haben. Nicht zuletzt dreht sich alles um den absoluten Schutz und die Ausweitung der bestehenden Vermögen superreicher Menschen. Diese Aufzählung ist nicht vollständig, sondern nur beispielhaft.

Einfache Antworten auf schwierige Fragen

Die multiple Komplexität unserer Zeit führt zu Ängsten und zu einer Verunsicherung, die scheinbar gewachsene und auch Demokratie basierende Systeme ins Wanken bringt. Der Aufstieg autoritärer, oligarchischer und nationalistisch/faschistischer Regierungen auf der ganzen Welt schafft keine Sicherheit, sondern erhöht das Risiko eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs auf der Welt.

Das Ergebnis der USA-Wahl darf uns Europäer nicht überraschen, denn es folgt nur genau diesem Trend. Nahezu alle europäischen Wahlergebnisse der letzten Jahre zeigen, dass traditionelle, demokratische Parteien auf dem Rückzug sind und nur mit großer Mühe schwierige Regierungskoalitionen bilden. Wo ihnen das nicht gelingt, entstehen nationalistische Autokratien oder scheinbar demokratische Regierungsformen, die nach der Machtübernahme an einem Staatsumbau arbeiten und letztendlich Oligarchien oder Autokratien anstreben.

Der Trump-Härtetest

Die kommende Donald-Trump-Regierung mit ihrem Engagement, die Produktion fossiler Brennstoffe zu erhöhen und gleichzeitig die Produktion von regenerativer Energie zurückzufahren, zeigt mit dieser Absicht genau die Gegenbewegung zu einem entstehenden Postmaterialismus. Ihr Fokus auf die Zentralisierung der Macht entlang ethnonationalistischer Linien wird nicht nur die USA daran hindern, erfolgreich in die nächste Stufe der menschlichen Evolution zu gehen.

Ich lade Sie alle sehr gerne zu Kommentaren auf diesen Artikel ein. Hilfreich wäre es, wenn Sie sich, wie ich selbst, vor einer Antwort mit dem Inhalt der Studie beschäftigen würden. Aber auch spontane, rein auf meinem Text basierte Antworten sind natürlich gerne willkommen. Allen Leserinnen und Lesern der Blogs von starke-meinungen.de wünsche ich einen guten Jahresstart in ein harmonisches neues Jahr.

Ralf Roschlau, 29.12.2024

Ralf Roschlau beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Fragen und möglichen Antworten zum Klimawandel. Der zweifache Buchautor schreibt regelmäßige Beiträge zu Klima und Nachhaltigkeit für www.daswetter.com und die Stuttgarter Straßenzeitung Trott-War. Er ist Gastdozent an der Uni Konstanz und Referent bei der VHS Unterland und freien bzw. kommunalen Institutionen. Seine internationalen journalistischen Verbindungen bestehen unter anderem zum deutschen Netzwerk Klimajournalismus, zu Carbon Brief sowie zu Covering Climate Now.

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