WARSCHAU, 18. März 1989
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Es ist zeitig am Morgen, aber die Gepäckaufbewahrung hat schon offen. Da ich mangels polnischer Zloty kein Gepäckfach nehmen kann, gebe ich nur die Taschen am Schalter ab.
Ein Taxi bringt mich an mein Ziel und der Fahrer tauscht mir auch noch etwas Geld. Noch sind die Straßen menschenleer, weshalb wohl auch eines der in Warschau zu wenigen Taxis zu haben ist.
Wenig später stehe ich ziemlich verlassen im Flur des Hauses, in dem Michael wohnt. Au weia, es ist ein riesiger Block. Verflixt, in welcher der Dutzenden von Wohnungen mag es sein ?
Eine Liste der Einwohner ist nirgendwo zu finden. Ich muss warten, bis 7.30 Uhr der Kiosk im Hausflur aufmacht. Die Frau darin, so sagt mir ein alter Herr, hat die Einwohner-Liste. Er ist gerade daran, seinen Hund auf die Straße zu fuhren, und im Übrigen: „Sind Sie Russe ?“ – „Nein, Deutscher.“ – „Warum verwenden Sie nicht ihre Muttersprache bitte sehr.“ sagt er in flüssigem Deutsch zu mir. „Warum sprechen Sie dann um Gottes Willen Russisch ?“ Kopfschüttelnd geht er hinaus.
Als die Frau am Kiosk öffnet, registriere ich gar nicht, dass es auf meiner Uhr erst 6:30 Uhr ist. Freudig springe ich zu Michael hinauf, der auf mein stürmisches Läuten im Schlafanzug herausgestapft kommt.
„Wie lange willst Du noch schlafen ?“ frage ich ihn nach der ersten Umarmung. „Es ist gleich 8 Uhr !“ – „Psst, wecke die Kinder nicht auf. Es ist noch vor sieben.“ Wirklich ? Da ist also der Unterschied zwischen Moskauer und Mitteleuropäischer Zeit, zwei Stunden. Und dann da noch diese Sommerzeit…
„Was ist heute eigentlich für ein Wochentag ?“ muss ich jetzt erst einmal fragen „und wie spät ist es überhaupt ?“ – „Heute ist Samstag, die Kinder haben schulfrei, ich habe arbeitsfrei und gestern sind wir sehr spät ins Bett.“
Aber Michaels Gastfreundschaft ist riesig. „Du bleibst doch hoffentlich ein paar Tage ?“ Nun, eigentlich dachte ich an eine Nacht, auch schon heute weiterzufahren macht mir keine Probleme. „Mein Transitvisa erlaubt mir nur 48 h in Polen.“ sage ich. „Ach was, das ist alles nur eine Frage des Geldes. Zur Not musst Du halt noch 50 DM zwangsumtauschen !“
Auch seine Frau Ewa, die wenig später aufsteht, ist dieser Meinung. Also werden wir sehen. Wenig später stehen die Kinder auf und es gibt Frühstück. Es gibt so viel zu erzählen, von Japan, von meiner Freundin, die auch er kennt und von Russland, von Deutschland wo ich so lange nicht war und natürlich von Polen.
Ewa legt Platten mit russischen Liedern auf. Sowohl ihre Vorfahren als auch die ihres Mannes kommen aus der Ukraine. In diesem Haus wird gut Russisch gesprochen und man weiß auch etwas mehr über dieses Land, als dass dort Kommunisten regieren und deshalb Vorsicht geboten sei.
Im Übrigen erstarre ich fast vor Ehrfurcht, wenn ich die Bücherregale betrachte. So viele Schriften stehen hier in verschiedenen Sprachen. Michael spricht fließend deutsch, französisch und russisch und kann sich auch Im Englischen gut bewegen.
Ewa spricht ein perfektes Russisch und Französisch und noch etwas Deutsch. Übrigens: was will ich denn sehen in der Stadt ? Ehrlich – Museen, Galerien und die große Kultur interessieren mich sehr wenig, viel mehr interessiert mich das mit der Politik, speziell das mit den unabhängigen polnischen Gewerkschaften.
Ewa nickt, das trifft sich gut. Heute Mittag ist Pressekonferenz der Solidarnosc in einem großen Hotel. „Heute spricht dort der Schwarm aller polnischen Frauen, ein Held !“ zwinkert mir Michael zu.
Ewa will es gar nicht leugnen. „Gutaussehende und mutige Männer haben immer meine Sympathie !“
Um 12:00 Uhr geht es dort los, bis dahin verziehe ich mich noch in die Stadt, betrachte Markt, Supermärkte, Geschäfte und hole mein Gepäck vom Bahnhof.
Solidarność
Die Fotoapparate blitzen und ein britisches Kamerateam leuchtet immer wieder den Saal aus. Für den oberschlesischen Solidarnosc-Führer, der heute im Warschauer Hotel „Europejski“ den Journalisten Rede und Antwort steht, scheint es Routine zu sein. Es ist im März 1989, die Solidarnosc ist eine noch immer verbotene Organisation und ich kann gar nicht recht glauben, dass dies hier real existierender Sozialismus ist.
Ein anwesender Journalist der parteitreuen Zeitung „Tribuna Ludu“ scheint ähnliche Gedanken zu haben. „Die Gespräche am Runden Tisch über die Wiederzulassung der Gewerkschaft sind noch nicht zu Ende,“ so fragt er, „trotzdem gebärdet sich Ihre Organisation, als sei sie schon lange legalisiert. Wird das die Gespräche nicht belasten ?“
Wie gesagt, der Mann auf dem Podium scheint Routine zu haben mit derlei Fragen und den Antworten darauf: „Wissen Sie, wer bislang die kluge und umsichtige Politik der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei verfolgt hat, dem muss eigentlich klar sein, wie die Partei sich entscheiden wird.“
Ich bin verblüfft. Vieles hätte ich jetzt erwartet, nicht aber einen solch geschliffenen Satz.
Nach der Pressekonferenz hat auch Andrzej (*) von der ebenfalls verbotenen Studentenorganisation NZS Zeit für mich. Moment, er muss noch die Mikrophone und den Verstärker abbauen. So, jetzt können wir gehen.
Wohin ? – Zur Uni, so verabschiede ich mich von Michael und Ewa, zur Uni gehen wir natürlich !
Nach und nach erfahre ich Näheres über die unabhängige Studentenorganisation Niezalezne Zrceszenie Studentow, NZS.
An Andrzejs (*) Fakultät zum Beispiel, der Geschichtswissenschaftlichen in Warschau sind sie 300 Mitgliieder unter den 900 Studierenden. 1200 Mitglieder sind sie universitätsweit. Die Arbeit ist einfach und genial zugleich: Da der NZS verboten ist, kandidieren seine Mitglieder bei den Wahlen zu den Studentenvertretungen als Einzelkandidaten. Da aber alle Kommilitonen wissen, dass diese Leute Mitglieder des NZS sind, werden sie regelmäßig gewählt. So sie auch ein offizielles Gremium, in dem sie agieren können. – Als Studentenvertreter in der Fakultät etwa oder im Rat der Universität, der dem Senat an bundesdeutschen Universitäten entspricht.
Es sind viele Dinge, die ihn und seine Freunde vom NZS stören, die Ausbildung im vierten Studienjahr zum Beispiel. Ein Tag in der Woche ist hier für die „Militärische Ausbildung“ reserviert.
Acht Stunden dieses Tages sind damit für das Studium verloren. Gegen die Idee, auf den Wehrdienst vorzubereiten, will Andrzej (*) erst einmal gar nichts sagen.
„Aber was wir da machen ist so sinnlos, weißt Du ? Von militärischen Dingen ist da ja gar keine Rede. Es geht nur um die Ideoloqie die >feindlichen Imperialisten< und solche Dinge, die eh keiner glaubt, nicht mal der, der das alles erzählt !“
Aber hier, so meint Andrzej (*), sei erst einmal kein Weiterkommen.
Und einiges hat man ja auch schon erreicht, dass Studentinnen die militärische Ausbildung nicht mehr mitmachen müssen, zum Beispiel.
Und dann ist noch die Sache mit dem Pflichtrussisch. Nein, Andrzej (*) will auch hier wieder nichts dagegen sagen, dass Polen russisch lernen. Aber freiwillig, bitte schön und ist Englisch nicht wichtiger ?
Überhaupt, so scheint mir, ist alle politische Aktion in Warschau auf London und Washington ausgerichtet. Anders als in Prag spielt Deutschland hier im politischen oppositionellen Denken, so scheint mir, kaum eine Rolle.
Aber Stopp, der Reihe nach. Noch befinde ich mich mit Andrzej (*) auf dem Weg zur Universität. Dort begrüßt mich ein großes Solidarnosc – Transparent schon am Eingang. Tag und Nacht hängt es dort. Gibt es Ärger mit den Professoren deswegen ?
Andrzej (*) lacht: „Wieso das ? Die haben doch selbst längst ihre eigene Solidarnosc – Gruppe gegründet, sind doch selbst fast alle Mitglieder in der unabhängigen Gewerkschaft.“
Er ist amüsiert und stolz über mein ungläubiges Staunen. „Wenn Du am Montag hier vorbei kommst, wirst Du sehen, wie wir auf offener Strasse unsere verbotenen Publikationen verkaufen, unsere Kalender und Sticker.“
Beim Essen erzählt mir Andrzej (*) von seiner Mitarbeit in einer Gruppe, die sich „offene Meinung“ nennt. Tag für Tag stehen sie auf den, Strassen und verkaufen verbotene Literatur.
„Es ist wichtig für die Erziehung unseres Volkes,“ sagt er, „es geht uns gar nicht darum, unsere Meinung zu verbreiten. Es geht uns darum, das Volk an unseren Anblick zu gewöhnen. Wir müssen etwas Normales werden, dass sich keiner mehr über uns erstaunt. Weißt Du,“ sagt Andrzej (*), „die Kommunisten haben alles verboten. Letztendlich ist ein Lachen über ihre Blödheit genauso bestraft worden, wie das Durchschneiden der Kehle einer alten Frau. Oder sagen wir es umgedreht: Einer alten Frau die Kehle durchzuschneiden ist im Bewusstsein des Rechts genauso harmlos, wie über die Blödheit der Kommunisten zu lachen.
Das ist das schlimmste Erbe, das sie uns hinterlassen haben: den Verlust der Fähigkeit, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Alles ist gleichmäßig verboten und damit gleichmäßig erlaubt. Wirtschaft kann man sehr schnell wieder aufbauen, ein Rechtsbewusstsein nur in Generationen.“
Wir schlendern durch die Stadt, zu Ludmilla. Sie hat uns noch gar nicht erwartet. Tee gibt es und Osterkuchen. Auf Russisch und Englisch unterhalten wir uns. Ludmilla kann wenig Englisch, aber perfekt Russisch. Andrzej (*) wiederum spricht ein geschliffenes Englisch.
Der Gebrauch der russischen Sprache ist ihm unangenehm. „Ist doch verrückt.“ sagt er. „Da spreche ich jetzt über Demokratisierung und das Sowjetreich und das alles auf Russisch. Versteht mal, das geht nicht so fließend.“
Einschub 2024:
Mit Andrzej (*) werde ich mich anfreunden. Er wird mich dann in Tübingen drei Monate besuchen und ich werde ihn dort durch die politischen Nachwuchsorganisationen führen.
Die Dinge, um die die hohenzollersche Junge Union streitet, werden für ihn von einem anderen Stern sein.
Von einem Treffen mit den Tübinger Jungsozialisten wird er sagen, dass nur die ebenfalls anwesende Frau Däubler-Gmelin einigermaßen verstanden habe, worum es jetzt, im Sommer des Jahres 1989, in Ostmitteleuropa gehe.
„Die Juso-Studenten, stell Dir vor, sie wollten mich immer davon überzeugen, die Errungenschaften des Sozialismus in Polen jetzt auf keinen Fall über Bord zu werfen. Ich habe sie nur immer lächelnd angeschaut und gefragt, welche Errungenschaften das sein sollten.“
Andrzej wird dann noch ein Semester in London studieren und dann ins Warschauer Politgeschäft einsteigen.