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Vom Sinn des Soldatseins – Erinnerungen an den Wehrdienst in der DDR (Teil 8/9)

Fast jeder Mann, der ungefähr vor 1970 geboren wurde und bis 1990 in der DDR lebte, musste dort den Grundwehrdienst in der NVA oder anderen kasernierten Einheiten ableisten. Der Autor, Jahrgang 1960, erinnert sich in neun Kapiteln an seine eigenen entsprechenden Erfahrungen.

Kapitel 8

Ich hatte jetzt die Hälfte der Dienstzeit hinter mich gebracht, das Berg­fest war gefeiert worden, und wir »Vize« genannten Angehörigen des zweiten Dienst­halb­jahres fassten den Tag der Entlassung zusehends fester ins Auge. Wir blickten voll durch, hatten alle ungeschriebenen Regeln begriffen, die Schlupflöcher ausge­kund­schaftet und uns Privilegien verschafft. Wir warte­ten lediglich noch auf den Entlassungstag der gegenwärtigen EK’s, um danach selbst die un­ge­krön­ten Könige im Regiment zu sein. Bald würden wir uns unter­ein­ander ganz zivili­stisch mit »Kollege« anreden können.

Genaugenommen setzte eine frei­lich sehr lang­wierige Gam­melphase ein, in der mir einerseits Speck um die Hüften wuchs und ich anderer­seits noch selbst­verständ­licher als zuvor meinen kulturellen Interessen nachgehen konnte. Inner­halb der Kaserne betreute ich gelegentlich Veranstaltungen der Urania oder den Verkauf in der NVA-Buch­handlung, fabri­zierte sinnfreie Wandzeitungen, organisierte Theaterbesuche. Während eines Aus­­gangs ging ich zum ersten Mal in meinem Leben in eine Opernaufführung, sah im Schloss­­park­thea­ter des Neuen Palais’ »Don Giovanni«.

Eine Weile war im Gespräch, dass ich in meiner Eigen­schaft als Sanitäter auf einen Schießplatz bei Belzig versetzt werden sollte, was zwar viel Urlaub, Freizeit und Lange­weile, aber auch weitere Verlotterung bedeutet hätte, weshalb es okay war, als ich aus solchen Kader­plan­spielen irgendwann wieder her­aus war. Alles hätte also seinen tristen, mit­unter anstren­genden, aber doch vor­hersehbaren und endlichen Gang gehen können, wäre da nicht der eskalie­rende politische Auf­ruhr in der soziali­sti­schen Volksrepublik Polen gewesen.

Seit Monaten schon lei­steten die Offi­ziere politische Auf­klärungsarbeit, indem sie über arbeits­scheue Elemente inner­halb der Soli­darność-Bewegung herzogen und unterstellten, die lavierende kom­mu­nistische Füh­rung des Landes sei aus dem Westen fremdgesteuert und kneife außerdem vor Karol Wojtiła, dem (polnischen) Papst Johannes Paul II. Im Sommer fanden in der Sowjet­union Manöver ver­dächtig nahe der polnischen Grenze statt.

Ich sah nicht wirklich durch, was jenseits der Oder abging, zumal ich relativ abgeschnitten war vom Empfang westlicher Nachrichten­sendungen, aber dass meine Sym­pathien kaum beim polnischen Staat und schon gar nicht bei den aufge­schreckten Regie­­run­gen der DDR und der übrigen Warschauer Vertragsstaaten waren, lag auf der Hand. Seit Monaten schon fürch­tete ich deren Einmarsch in Polen wie ehedem 1968 in die ČSSR. Als im September 1980 eine Urlaubs­sperre über uns verhängt und erhöhte Gefechts­bereit­schaft befohlen wurde, schien es tat­sächlich nur noch eine Frage der Zeit, bis wir beim zweifellos blutigen Nie­derschlagen des pol­ni­schen Gene­ralstreiks mitzuhelfen hatten. Die Verpflegung der Truppe wurde auffallend besser; ein eindeutiges Zeichen, dass wir bei Stimmung gehalten werden soll­ten. Bei mir verfing das nicht, zu­mal ich im November frustriert erfuhr, dass DDR-Bürgern neuer­dings keine Reisen mehr in dieses ihr Nachbarland gestattet wurden. Einen Brief an die Eltern, in dem ich meine Haltung und meine Ängste andeutete, steckte ich vorsichtshalber außer­­halb der Ka­serne in den Kasten.

Erst als General Jaruzelski Mitte Dezem­ber das Kriegs­recht in seinem Land verhängte, Soli­dar­ność verbot und die alten Verhältnisse aus eigener Kraft zu restaurieren ver­suchte, endete nach zehn Wochen die Urlaubssperre und löste sich unsere Span­nung ein wenig. Das alles war freilich ein weiterer Grund, das Ende meines Grundwehr­dienstes herbei­zusehnen. Bis dahin waren es noch viereinhalb Monate.

Sie zogen sich hin. Den Briefen an Andreas legte ich regelmäßig die abge­schnit­te­nen Schnipsel meines Bandmaßes bei. Ein Zenti­meter sym­bo­lisierte einen Tag. Nur selten war das Warten von Kurzweil unterbrochen. Und wenn doch etwas Außergewöhnliches passierte, war das nicht immer erfreulich. Ein­mal rettete ich die Kom­pa­nie vorm Tod durch Ver­hun­gern und Erfrieren, denn die Offiziere hatten im Januar wäh­rend eines Schießens und der an­schließenden Komplexübung mal wieder gezeigt, wie unfähig sie waren. Den Eltern gegenüber beschrieb ich den Vorfall wie folgt: »Nach einund­zwan­zig Stunden stän­di­gen Frierens bei und zwischen den Schieß­übungen wurde nachts um ein Uhr das vorläufig letzte Essen an die Truppe ausgegeben. Danach bibberten die Leute weitere sechs Stunden mitten in der Nacht bei eisigem Wind teils stehend, teils hinten auf den KFZ sitzend. Frühmorgens war ein Marsch angesetzt: zwanzig Kilo­meter über Schnee und Eis ohne jede Ver­pflegung seit Mitter­nacht. Zum Teil natür­lich Magen­krämpfe. Der Kompaniechef trug die Marsch­karte. Bei Ankunft am Zielort Neuen­dorf, wo end­lich ein Essen geplant war, standen weder eine Küche noch ein KFZ. Schließ­lich hatten Stefan und ich – als halbwegs Ortskundige – den rettenden Gedanken: Es gibt ja noch ein anderes Neuendorf, und zwar bei Brück! Ich spielte den Scout, und prompt fanden wir auch die vermissten Fahrzeuge. Inzwischen war es immer eisiger gewor­den; die bei Niemegk noch ver­schwitzten Leute froren wieder sehr. Nachmit­tags um drei gab es endlich was zu futtern.«

Zwei Monate später stießen ich und der Fahrer des Sanitäts­kraft­wagens auf einen zivilen Motorradunfall. Wir bargen die mit einem Schädel­basis­bruch schwer­verletzte Sozia, brachten sie ins Krankenhaus und waren so vermutlich an einer Lebens­rettung beteiligt, wurden jedoch von Vorgesetzten angemurrt, weil wir statt zum weiter entfernten Potsdamer zum christlich betriebe­nen Lehniner Krankenhaus gefahren waren.

Je näher die Entlassung heranrückte, desto gelassener nahm ich den Alltag. Wir EK’s strotz­ten vor Selbstbewusstsein, denn solange nicht Haft in der berüchtigten Militär­haft­anstalt Schwedt zu befürchten war, besaßen die Offiziere bei Disziplinwidrigkeiten kaum noch Druck­mittel. Nicht einmal gestrichene Urlaubstage oder Ausgänge taten mehr weh. Es wurde gefeiert und gesoffen bis zum Exzess. Einmal musste ich den stark blutenden Fuß eines Voll­trun­kenen ver­sorgen, der in eine Scherbe getreten war; ich sah aus wie ein Schlächter. Am nächsten Morgen wun­derte sich der Typ, dass er auf der Krankenstation lag und einen Verband trug.

Nicht nur um solchen allseits gefürchteten »plötzlichen EK-Tod« zu vermeiden, hielt ich mich meist sehr zurück, wenn kollektive oder stille Besäufnisse anstanden. Das ging so weit, dass ich zwar eine oder mehrere Schnapsflaschen einschmuggelte, selbst jedoch keinen Tropfen davon anrührte.

Mitte März erhielt ich zum letzten Mal Heimaturlaub und brachte von dort Zivil­sachen für den Entlassungstag mit. Stolz und lässig schlenderte ich frühmorgens in meinen ge­lieb­ten Bluejeans über den Exer­zierplatz. Symbolisch und mental, aber auch praktisch berei­tete ich mich also schon mal auf die Zeit »danach» vor. Mit Stefan und Andreas wollte ich im Sommer im bulgarischen Pirin­gebirge wandern und durchs Land trampen. Über Monate hinweg organisierte ich den Erwerb eines unverschämt teuren russischen Stereoton­band­gerätes, was ja in der DDR ein sehr aufwendiges Unterfangen war. Ferner versprach ich Vater, ihm ge­legentlich im Garten und im Haus zur Hand gehen zu wollen, und streckte meine Fühler aus, um bei der Witten­berger Kirchgemeinde erneut ein paar Monate arbeiten zu können.

Die einzige Sorge, die mich kon­stant umtrieb, blieb die unklare Situation im nach wie vor unruhigen Polen. Die fort­gesetzte Hetze der Vorgesetzten war leider auch in meinem Fall nicht ohne Wir­kung geblieben; neuerdings war ich eher ratlos und indifferent, jedenfalls nicht mehr so soli­da­risch mit Soli­dar­ność wie ehedem. Vor allem aber fürchtete ich, dass wir wegen der Krise nicht wie geplant Ende April entlassen würden. Schließlich war es aber doch so weit: Nach stoisch er­tragenen Orgien der Pflege bald abzugebender B/A und Reinigung der Quartiere sowie schika­nös-absur­dem Heraus­zögern der Entlassungsstunde verließ ich die Pots­damer Kaserne für immer. Ich hatte es geschafft.

Draußen wartete Vater im weißen Skoda; ich hatte ihn gebeten, mich ab­zuholen. Ich war in den vergangenen achtzehn Monaten zweifellos ein weiteres Stück erwachsen geworden, doch wer wird im Alter von neunzehn, zwanzig Jahren nicht sowieso halbwegs er­wach­sen? Ich hatte in der Zwangs­gemeinschaft der Kaserne ein paar bereichernde zwischen­mensch­liche Er­fahrungen gemacht, verspürte aber nur bei wenigen Kameraden Lust, die Adressen zu tauschen. Ich blickte ausschließlich nach vorn. Mehr als zwanzig Jahre lang vermied ich es, Potsdam zu besuchen. In schlechten Träumen bin ich manchmal noch immer ein kasernierter, eingesperrter junger Bereit­schafts­polizist oder wache schweißgebadet auf, weil ich zur Reserve eingezogen wurde.

 

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Über Frank Böttcher

Frank Böttcher wurde 1960 in Lutherstadt Wittenberg geboren und lebt seit 1981 in Berlin. In den 1990er Jahren schrieb er Kunstkritiken und dergleichen für den Tagesspiegel. Vor allem aber ist er Verleger des 1995 gegründeten, bis heute existierenden kleinen, aber feinen Lukas Verlags.

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