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10.000 km ostwärts – eine Reise durch das beginnende 1989 (25), auf der Rückreise

KIEW, 17. März 1989

(Hier der Link zu allen Tagesberichten.)

Ich will nach Budapest, wie gesagt. Vorerst habe ich jedoch eine Liegekarte (Russisch: „PIazkarta“) zu erwerben. Und mit dieser Aufgabe irre ich erst einmal ziemlich hilflos in der Bahnhofshalle herum.

Dort treffe ich wieder auf meine Mitreisende Swetlana, die gerade ihre Anschlusskarte geholt hat.

Ich mache den hilflosesten und verlassensten Eindruck, den ich machen kann und schließlich erbarmt sie sich meiner. Zusammen stiefeln wir hinauf an den Schalter des sowjetischen Reisebüros und stellen uns an. Während wir immer näher an das Fenster vorrücken, bringen wir noch unser Gepäck in die Aufbewahrung, erst Swetlana, dann ich.

Sie wird heute Nachmittag 14:30 Uhr fahren. Hat sie nicht noch Zeit und Lust auf einen Bummel in der Stadt ? Sie hat, ich freue mich: es wird also kein planloses Herumgestapfe werden. In der Nähe des Schalterfensters erfahre ich allerdings Entsetzliches: der Zug nach Budapest ist seit Wochen ausgebucht. Vor mir stehen noch fünf Ungarn und wollen heim. Nein, das wird wohl nicht gehen. Möglich, dass der Schaffner am Zug noch Plätze hat. Wahrscheinlich ist das nicht. Morgen ? Das wird wieder dasselbe sein.

Soll ich warten, soll ich mit dem Bummelzug nach Lwow fahren und sehen, ob man von dort weiter kommt ? Swetlana ist so besorgt wie ich: „Und jetzt ?“ Wir tappen durch den Bahnhof. Nach Prag ? Der Zug ist vor zwei Stunden abgefahren, der Nächste geht morgen.

„Aber da:“ sagt Swetlana: „15.20 Uhr geht ein Zug nach Warschau !“ Ja, eine Fahrkarte bekomme ich, die Frau am Schalter nickt. „Das macht 35 Rubel und 30 Kopeken.“ Uff, das also wäre gelöst.

Dann geht es aber wirklich in die Stadt hinein. „Ich muss Dir gestehen,“ sagt Swetlana, „dass ich Kiew nicht kenne, obwohl ich nur wenige Kilometer entfernt von hier wohne. Das Beste ist, wir machen die Stadtrundfahrt mit. Da sehen wir wohl am meisten.“

Wir haben noch etwas Zeit, uns zu Essen zu kaufen und dann dürfen wir auch schon einsteigen. Der Bus ist zwar alt, aber liebevoll geputzt und renoviert.

„Ich begrüße Sie im Namen unserer Kooperative !“ sagt der Mann vorn am Einstieg. „Mein Bruder, der den Bus fährt, seine Frau und ich haben vor knapp einem Jahr beginnen können, private Stadtführungen zu organisieren. Wir wollen, dass sie von der Schönheit der Wiege Russlands so viel sehen, als das eben in vier Stunden möglich ist…“

Ich verstehe nicht alles und so bin ich überrascht, als Swetlana sagt: „Hast Du gehört ? Wir fahren sogar ins Höhlenkloster. Noch niemals war ich dort !“

Vorerst geht es jedoch an eine Kirche, die der Taufe Wladimirs gewidmet ist..

Sie ist sehr spät, erst im 19. Jahrhundert gebaut, von einem italienischen Architekten. „Gefällt sie Dir ?“ fragt Swetlana. Ich wiege den Kopf und sage, dass diese Kirche aussieht wie alle Kirchen, die in dieser Zeit in Westeuropa gebaut wurden. Sie sei so seltsam unrussisch.

Swetlana gefällt diese Architektur. Sie erinnert sie an die Palais in Leningrad, wo sie 6 Jahre studiert hat, der „liebsten Stadt der Welt“, wie sie mir später schreibt. Aber eben das meine ich wohl.

Ein großes Schild am Eingang weist den Besucher darauf hin, dass dieser beim Betreten gefälligst den Hut abzunehmen hat. Es ist ein seltsames Verständnis der Menschen in diesem Land hier den Kirchen gegenüber.

Aber das mag vielleicht mit der orthodoxen Tradition zusammenhängen. Sie ist sehr auf die Ehrfurcht vor dem Sichtbaren ausgerichtet, vor dem Repräsentanten. Dies ist sie noch um vieles mehr als die Römisch-Katholische Kirche. Die Ehrfurcht in diesem Gebäude galt schon immer in erster Linie dem hier verehrten Zaren.

Bild oben: In der Wladimirkathedrale in Kiew (aus Wikipedia)

Lange stehe ich vor einem Gemälde, das den Zaren Wladimir darstellt, der sich im Jahre 988 als erster russischer Fürst hat taufen lassen.

Draußen auf der kalten Straße fehlt der Busfahrer mit dem Bus. Er wollte doch nur etwas einkaufen… Der Reiseführer ist betreten und versucht, die Zeit mit Geschichten zu überbrücken. Er führt uns auf einen Hügel, auf dem der alte Kreml und die Kremlkirche gestanden haben müssen. Die Grundmauern die hier freigelegt sind, deuten darauf hin. Der Palast selbst war wahrscheinlich zum größten Teil aus Holz, weshalb nicht viel von demselben übrig ist. Endlich kommt der Busfahrer zurück und dann kann es auch schon weiter gehen.

Wir halten an dem riesigen Gelände des Kiewer Höhlenklosters.
Mönche hatten hier begonnen, in Höhlen am Berghang ein Einsiedlerdasein zu führen. Später schlossen sie sich zu Gemeinschaften zusammen, schrieben dicke Bücher ab, malten Ikonen und rieben Wissenschaft. Hier ist die Wiege aller russischen Kultur, die Wiege Russlands. Erst viel päter, mit dem Einfall der Tataren, verschob sich das Machtzentrum nach Moskau.

Ein Kloster war hier vor über tausend Jahren nach dem anderen entstanden, Priesterseminare, Kultur …

1936 ließ Stalin – wie überall in Russland – die letzten Mönche hier verhaften.
Die Räume in der „Laura“ wurden von sowjetischen Verwaltungsstellen genutzt. Auch 1941, als Stalin zur Verteidigung des Landes den Frieden mit der Orthodoxie suchte, blieb dies so.

Mit „Glasnost“ und „Perestroika“ zogen vor einigen Jahren hier wieder Mönche ein, zwar ein dutzend nur, aber ohne sie machte die ganze Anlage keinen Sinn.

Von ihrem Tagesablauf bekommen wir nach einem Spaziergang an den Mauern der Anlagen mit. Gerade wollen wir in eine der Kirchen gehen, da schallen Glockenklänge über das Gelände. Ein bärtiger alter und ein bärtiger junger Mönch schlagen am Glockenstuhl die Stunde an.

Der Alte hat drei bis vier Seile in den Händen, mit denen er die großen Glocken schwingt: Bum, Bum und Gong. Der Junge dirigiert ein halbes dutzend Seile in seinen Händen und bewegt die
kleineren Glöckchen, schnell und klingelnd. Ihr Zusammenspiel mag zwar Variationen erlauben, man spürt aber den Ritus dahinter. Es ist streng rhythmisch und dadurch mitreißend, was die beiden da zum Klingen bringen.

Es nimmt einen mit auf die Reise wie karibische oder brasilianische Musik, die mit ihrem schwarzafrikanischen Ursprung ja auch auf die Macht des strengen Rhythmus setzt. Ich bin gefesselt, wie alle die Besucher um mich rum. Sie müssen stehen bleiben und schauen, wie auf Leute von einem fremden Stern.

Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren: den jungen Leuten hier ist der letzte Song von Michel Jackson wohl vertrauter als das Glockenspiel russischer Mönche.

Dann geht es aber endlich in die Höhlen. Am Eingang verkauft ein junger Mönch „Eintrittskerzen“. Wozu sie gut sind, werden wir gleich sehen. Jeder mit einer Kerze in der Hand steigen wir die in den Fels gehauenen Gänge hinunter. Es zieht ein wenig hier drinnen. Das wiederum sorgt für trockene Luft, ein Umstand, der zur Mumifizierung der hier Bestatteten geführt hat.

Jetzt kommen wir auch schon an den Gängen mit den halboffenen Särgen vorbei. Welche Dimensionen mögen sich für Menschen ergeben, die so mit den Verstorbenen „zusammenleben“ ?

Das eigene Wollen scheint zurückzutreten, es wird Glied einer großen Sache. Das Tor in die Ewigkeit wird ein Stück weit auf getan.

Unten, am Ende der Gänge gelangen wir in eine Kapelle, in die schwaches Tageslicht hinein scheint. Wir kleben unsere Kerzen auf die hier aufgestellten gusseisernen Becken und gehen hinaus, ins Freie.

Wir befinden uns an der Talsohle eines Hanges.
Der Reiseleiter hat Mühe, alle seine Schäfchen wieder zusammenzusuchen.

Es kann weiter gehen, zum „Heldenhügel“. Hier, nur wenige Meter von der „Laura“ entfernt, wurden in den 1940er Jahren die deutschen Truppen gestoppt und zurückgeschlagen. Die Kommunisten haben daraufhin ihr eigenes Heiligtum dazu errichtet. Ein riesiger Stahlbeton-Held schaut trutzig übers Land. Zu seinen Füßen stehen die Waffen aus dem Krieg: Panzer, Kanonen, Raketenabschussrampen.

Swetlana entfaltet einen Hauch von Andacht. Ich habe es schwer, dem nachzukommen.
Mit dem Bus fahren wir wieder zurück ins Zentrum, vorbei an der Universität und den Einkaufsstraßen der Stadt. Wir bedanken uns bei den beiden Kooperativtschikis. Viel Mühe haben sie sich gegeben, uns die Schönheiten Kiews zu zeigen.

Zusammen kaufen Swetlana und ich noch ein. Es ist nicht leicht, am Rande der größten Schwarzerdezone Europas eine Wurst zu bekommen. Zu erhalten ist sie letztendlich nur in einer „Kooperative“ zu für Swetlana unvorstellbaren Preisen.

Noch einmal schlendern wir in die Straßen rund um den Bahnhof, trinken einen letzten Tee und dann verabschieden wir uns. Wir werden schreiben.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

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