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10.000 km ostwärts – eine Reise durch das beginnende 1989 (24), auf der Rückreise

SOTSCHI – KIEW, 16. und 17. März 1989

(Hier der Link zu allen Tagesberichten.)

Das Abteil, das ich beziehe ist leer. Das heißt, Gepäck und Mantel meiner drei Mitreisenden sind sehr wohl hier, nicht aber diese selbst.

Aus dem Nachbarabteil höre ich Gitarrenklänge. So klopfe ich dort an. Richtig: hier sitzen sie alle zusammen, fast nur Schwarze und ein paar dunkelhaarige Weiße.

Am nächsten Morgen erfahre ich, dass sie aus Kuba sind. Ilja, ihr Betreuer sitzt bei mir im Abteil und erzählt mir ihre Geschichte.

Jagdflieger sollen sie werden, in Rostow am Don. Drei Jahre sind sie hier zur Ausbildung. Jetzt waren sie in Sotschi zu einem Ausflug.

Die Flieger-Schüler hauen ziemlich auf den Putz. Die Schaffnerin, die von ihnen eine Fahrkarte sehen will, gibt sich vergebliche Mühe. Und schließlich ist das mit den Fahrkarten Iljas Sache.

Mit ihm komme ich ins Gespräch und dann sitzt auch noch ein etwa 60-jähriger Mann mit dünnem, vergilbtem, ehemals rotem Haar bei uns. Er hat rote Wimpern und Augenbrauen. Sein Gesicht ist wettergegerbt und nach und nach bekomme ich mit, dass er immer nur rastlos umher gezogen sein muss.

Er erzählt von den Wendungen der Weltgeschichte, von der Zeit, als er für die Sowjetmacht in China gearbeitet hat und vom sozialistischen Aufbau.

Ilja mit seinen 26 Jahren hält viel von Veränderung, Aufbruch und Wirtschaftsreform. Ständig zitiert er dazu… Lenin.

„Schon Lenin hat gesagt, dass man die Arbeiter materiell am Gewinn interessieren muss. Und das geschieht ja eben in Westeuropa.“ Ich habe meine Zweifel darüber, ob das Wirtschaftssystem im Westen so ist, weil Lenin das so empfohlen hat. Aber ich ziehe es vor zu schweigen.

Dann kommen die beiden auf politische Verfolgung und Stalinismus zu sprechen. Jetzt zieht sich der Alte in seiner Argumentation zurück. Ich finde es schade. Denkt Ilja etwa, dass die Sowjetmacht hätte mit Rücksichtnahme und barmherzigen Sprüchen durchgesetzt werden können ? Hätte ein Stalin mit anderen Mitteln seine Macht wirklich erhalten können, als mit denen, die er ergriffen hat ?

Ich bin überzeugt, dass der Alte ein Lied vom Kampf um die Macht, erzählen könnte. Aber – wie gesagt – er zieht es vor, zu diesem Thema zu schweigen.

Ilja ist auch ein Kenner der Landschaft und der hiesigen Geschichte. Die Häuser hier sind blau gestrichen, in der traditionellen Farbe der Kosaken. „Kosak“ heißt „Freier Mann“. Und als solche verstanden sich die Kosaken immer. Sie schlossen sich in einer Art Wehr – Genossenschaft zusammen und bildeten damit auch immer eine politische, für den Zaren gefährliche Macht.

Mehrere Kosakenaufstände bedrohten den Kreml. Erst im 18. Jahrhundert gelang es Moskau, die Kosaken an die Interessen der Krone zu binden. Sie übernahmen den Schutz der Grenzen gegen die Türken und der Zar sicherte ihnen ihre Privilegien und die Lieferung von Waffen zu. So wuchsen sie nach und nach in die Rolle der staatstragenden Krieger hinein.

Wenn Ilja nicht mehr weiter weiß, ergänzt der Alte seine Erzählungen.

In Rostow am Don steigen die Kubaner und die beiden aus. Ein Ehepaar aus Aserbaidshan und eine junge Russin, steigen ein.

Swetlana heißt sie und ist auf dem Weg zur Arbeit in der Nähe von Kiew. Swetlana hat Feinoptik studiert an der Universität in Leningrad, 6 lange Jahre. Heute entwickelt sie mit anderen Wissenschaftlern Kameras für die Weltraumfotografie. Dafür bekommt sie 90 Rubel im Monat, weniger als die Schaffnerin.

Waldemar, der Taxifahrer in Sotschi verdient dies an einem Abend. Swetlana ist peinlich sauber und achtet auf ihr Äußeres.

Sie ist attraktiv, hübsch. Neben ihr stehend, fallen einem Westler dann noch andere Dinge ins Auge: der Mantel ist gestopft, die Nähte sicher mehr als einmal gerissen, sie sind nachgesteppt. Ihre Stiefel sind alt, steif und brüchig. Zwar sind sie sorgfältig gefettet, aber irgendwann ist der gepflegteste Stiefel hinüber. Dicht sind sie jedenfalls nicht mehr.

Was sind ein Paar neue Stiefel für Swetlana ? Drei Monatsgehalte, vier ?

Sie ist in Königsberg geboren, Kaliningrad wie sie sagt. Über diese Stadt muss nicht nur ich viel fragen.

„Sind alle Bahnhöfe in Deutschland so, wie der in Kaliningrad ?“ will der Aserbaidshaner wissen. Und zu seiner Frau gewandt fügt er erklärend hinzu: „Der Bahnhof in Kaliningrad, stell Dir vor, ist
wie ein riesengroßes Gewächshaus. Alles Ist mit einem Dach überglast, sogar die Schienen mit den Eisenbahnwaggons darauf.“

Nein, selbstverständlich sind nicht alle Rahnhofe in Deutschland so angelegt. Ganz zu schweigen davon, dass ich ja auch nicht alle Bahnhöfe kenne. Aber viele sind so konstruiert, der in Leipzig z.B.oder der in Stuttgart.

Am nächsten Morgen, gegen 9:00 Uhr sind wir in Kiew. Wir packen, ziehen uns an und stehen mit unseren Koffern im Gang.

Heute will ich mir noch ein wenig Kiew ansehen und dann will ich am Mittag weiter nach Budapest.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

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