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Vom Sinn des Soldatseins – Erinnerungen an den Wehrdienst in der DDR (Teil 7/9)

Fast jeder Mann, der ungefähr vor 1970 geboren wurde und bis 1990 in der DDR lebte, musste dort den Grundwehrdienst in der NVA oder anderen kasernierten Einheiten ableisten. Der Autor, Jahrgang 1960, erinnert sich in neun Kapiteln an seine eigenen entsprechenden Erfahrungen.

Kapitel 7

Mit Stefan T. war ich noch bis Ende der achtziger Jahre – wenn auch abneh­men­d – eng befreundet. Vor allem kulturelle Interessen verbanden uns. Im Sommer nach dem Wehr­dienst wanderten und trampten wir überdies gemeinsam durch Bulgarien. Stefan war Mitglied der SED, was eigentlich Grund genug sein sollte, ihn zu ver­ach­ten und zu schnei­den, aber gleich­wohl schätzte ich ihn sehr wegen seiner außerordentlichen Auf­rich­tig­keit und Mora­lität, die ans Naive gren­zen konnte. Da ich gerade viel Hermann Hesse las, defi­nierte ich unser beider Ver­hält­nis als das von Narziss (Stefan) und Goldmund (ich).

Geradezu tragisch war seine Rolle zehn Jahre später während der Wendewirren der späten DDR. Ich selbst, der ihm gegenüber stets betont hatte, man müsse sich, um politisch und moralisch integer bleiben zu können, von der Macht weit entfernt halten, stand damals natürlich auf der rich­tigen Seite. Stefan dagegen, ein be­geisterter Gorbatschow-Anhänger und SED-Reformer, hatte sich im Som­mer 1989 zum aller­letzten FDJ-Sekretär der Greifswalder Universität küren lassen – ein Posten, der ihn unweigerlich in die Nähe von Leuten und Institutionen bringen musste, denen nichts ferner war als Integrität. Noch im Dezember 1989, als die Mauer längst offen war und in der DDR nichts weniger als irgendein Sozialismus auf der Tagesordnung stand, war er Delegierter auf jenem legendären Partei­­tag, wo unter nunmehr Gregor Gysis Ägide die SED statt sich aufzulösen einen halb­herzi­gen Neu­anfang versuchte und sich in PDS umbenannte.

Dass Stefan heute in Finnland lebt und gelegentlich im Deutschlandfunk über dieses Land berich­ten durfte, scheint mir eine glück­liche Fügung angesichts seiner so unglücklichen Ver­strickung mit einer Macht, deren Ver­worfen­heit er nicht wahrhaben und die er stets zum Guten reformieren wollte. ­

In der Kaserne zeichnete sich Ste­fan da­durch aus, dass er, im Unterschied zu mir, in einer ganz norma­len Mot.-Schützen-Einheit als Kraft­­wagen­fah­rer seinen Dienst ver­sah und keinerlei Vor­rechte genoss. Von den Vorgesetz­ten, die ihn wegen sei­ner Parteizugehörigkeit und seiner Fähig­keiten gern auf ihre Seite gezogen hät­ten, ließ er sich nie vereinnahmen. Anders als ich, den man­cher als Träumer und Spin­ner ansehen mochte, ist Stefan von ausnahmslos jedem Soldaten unse­rer Kom­panie zutiefst geachtet worden, obwohl er sich auch in der Truppe keinem anbiederte. Mich ließ man in Ruhe, Stefan aber war beliebt.

Ähnlicher war mir hier Wolfdietrich aus der fünften Kompanie, auch er ein Sanitäter. Die anstrengenden Dienste im Med.-Punkt ver­brachte ich am liebsten mit ihm. Wir versorgten nachts die Patienten, kümmer­ten uns um kleinere Verlet­zungen, schrubbten die Sta­tion, vor allem aber plauderten wir über Bücher, Musik oder fremde Länder.

Ich schätzte Wolf­dietrichs Feinsinn, ja Dünkel. Sein langer aristokratischer Hinterkopf und die schma­len Finger, die sehr blonden Haare, die gewählte Aus­sprache, die Nickel­brille, seine Mu­sika­lität und Bür­ger­lichkeit, all das hob sich so wohltuend ab von der prol­ligen Welt ringsum voll Zoten, Dumm­heit und Biederkeit. Einige Male besuchten wir auf Ausgang gemein­­sam Auf­füh­run­gen des Hans-Otto-Theaters, Konzerte im Neuen Palais oder das Weih­nachtsoratorium in der Erlöser­kirche, oder wir gingen auch nur in die Theater­klause, um – für DDR-Verhältnisse – ein ge­diege­nes Ambiente und eine gediegene Küche zu erleben.

Dort saßen wir unter diskutie­ren­den Bart­trä­gern, über Tische hin­weg sich unter­hal­tenden und lachenden Schauspielern, ver­kauz­ten Lesen­den und überheblich Schweigenden, wunderschönen Frauen, Leuten also, die einer Welt entstamm­ten, zu der wir später dazu­gehö­ren woll­ten, jeder einzelne ein Antipode zu den in Pots­dam sonst so präsenten ver­bohr­ten Offi­zieren, öligen Verwal­tungs­angestellten, smarten SED-Genossen und cleve­ren Hand­wer­kern nebst ihren je­weils ebenso öden Gattin­nen.

Die mit Wolfdietrich im Theaterrestaurant begehrlich betrachtete künstleröse Gegenwelt war umso wichtiger, als ich trotz Gegensteuerns armee­typisch zu ver­lot­tern und zu ver­rohen begann. Am deutlichsten zeigte sich dieser Prozess im Wort­schatz. Denn auch ich be­herrschte und benutzte mittlerweile den eigentlich verachteten Armee-Jargon, und so ausgiebig ich ihn verwendete, so sehr fand ich mich offenbar mit meiner Rolle als Soldat ab. In Briefen aus jener Zeit finden sich Begriffe wie »Zapfen«/»Gonzo«/»Rüssel« (für Ver­ärge­rung), »aus­misten« (bestrafen), (Ur­laub) »wegknallen«, »Säcke« (Offiziere), »Sackstand« (stra­pa­ziö­ser Dienst), »ab­stin­ken«, »ab­mat­ten« (gammeln, verdrücken), »Syph« (Dreck), »Putterei« (Anbiederei bei Vor­gesetzten), »einen Huf fangen« (Ärger bekommen), »Rohr« (Schnapsflasche), »rotzen« (schie­ßen), »Fotze« (unange­neh­mer, verachteter Mensch), »Bärenfotze« (Wintermütze) usw.

Manche dieser verbalen Schöpfun­gen waren witzig und drückten eine ironische Distanz zum be­fohlenen Ernst aus, die mei­sten aber waren nichts als vulgär und in der Summe des infla­tio­nären Ge­brauchs öde. Ein verbürgter Satz des Spießes, der jemanden wegen Händen in den Hosentaschen anschrie, lautete: »Du Gosse, pack deine verkeimten Wichsgriffel aus dem Wichskasten, bist wohl lange nicht mehr über die Mutti gerutscht?!«

Wie reich und armselig zugleich diese spezifische DDR-Soldaten­sprache war, zeigt Klaus-Peter Möllers groß­artiges Lexikon »Der wahre E«, das ich zwanzig Jahre später im Lukas Verlag veröffentlichte. Die Arbeit am Buch hatte nebenbei einen selbst­thera­peu­tischen Effekt: Ich träumte wieder vom Armeedienst und stand eines Tages sogar vorm Tor mei­ner Ka­serne, um mich jener verhassten, weitgehend verdrängten Zeit besser erinnern zu können.

Die rüde sexistische Sprache, die in der Kaserne den Ton bestimmte, war ein natürliches Produkt der dortigen männlichen Notgemeinschaft. Angesichts der Übermacht des Juvenil-Masku­li­nen geriet alles Weibliche zur Projektion. Nur wenige Soldaten nann­ten da­heim eine Frau oder eine Freundin ihnen zugehörig, und selbst die eine Partnerin hatten, erleb­ten sie derart selten, dass sie sich, sobald der Urlaub vorbei war, diese mehr oder weniger her­bei­phanta­sieren mussten. Für alle übrigen, also die meisten, war Weiblichkeit umso mehr nur ein Phan­tom. Späte­stens im Suff war jedermann ein wilder Hengst, dem trotz angeblicher Verab­rei­chung von »Hängolin«-Tee die Eier immer dicker wurden. Frauen waren nun nichts als Matrat­zen, Büchsen, Fick­schlitten, Freuden­bürsten, Käfer, Käthen, Kirschen, Mucker-Ellis, Puppen, Post­enentsafter, Schlitz­pisser, Schnecken, Steckdosen, Stoßdämpfer oder sonst etwas.

Ich hielt besser den Mund, denn so umgab mich wenigstens ein gewisses stol­zes Geheimnis. Hätte ich etwa berichten sol­len, dass ich mit weib­lichen Wesen noch niemals Zärtlichkeiten ausgetauscht hatte, die über Küs­sen und schüch­ternes Reiben »da unten« hinaus­gegangen waren? Ein bisschen Angeben musste sein, um nicht als schwul zu gelten und die Hölle auf Erden zu erleben, aber dabei beließ ich es; ich wollte nicht ebenfalls wild herumspinnen.

In der Schul­zeit war es mir ja leider nicht vergönnt gewesen, die entscheidende Erfahrung gemacht zu haben, und dass ich sie während der Armeezeit nicht würde machen können, war sowieso sonnenklar. Ich würde mich also bis auf Weiteres damit be­gnügen müssen, heimlich einen gegen fünf kämp­fen zu lassen, Frau Faust und ihre fünf Töchter zu be­suchen, krumme Finger zu bekommen, zu kloppen und zu rubbeln und mir einen runter­zu­holen. Das war nicht erhebend, aber was konnte ich sonst tun.

Auch im Halb­jahres­urlaub würde gewiss nichts Entscheidendes passieren, denn welches Mädel ließe sich wohl auf einen schüch­ternen Armisten mit kurzen Haaren, der in wenigen Tagen wieder einrücken musste, ein? So gänzlich ohne jede Hoffnung war ich folg­lich sehr entspannt, als ich im Sommer 1980 für ein paar Tage nach Wittenberg durfte. Die Eltern und Geschwister waren gerade im Riesengebirge im Urlaub, ich sollte daheim die Hühner füttern, musste aber auf nie­man­den Rücksicht nehmen, hatte das Haus und mein Zimmer für mich allein.

Mit den alten Freunden war ich in Pratau zum Tanz, es war ein herzliches Beisammensein, ich tanzte und schwatzte mit der fröhlichen, burschikosen A. aus R., die neuer­dings eine zwei-fünfer TS fuhr und Friseurlehrling war. Früher war sie mal mit M. zusammen gewesen, aber das sei echt lange her. Wie selbstverständlich kam sie nach dem Tanz zu mir nach Hause mit, zumal ich gerade sturmfrei hatte, und blieb bis zum anderen Morgen. Ich war natur­gemäß aufgeregt und nicht gerade ein Held, aber sie blieb all die Zeit verständ­nisv­oll, locker und nett.

Wir waren so klug, uns nicht eine Sekunde lang zu verlieben, schrie­ben einander noch ein paar schöne Briefe und verloren uns bald aus den Augen. Dankbar bin ich ihr bis heute, und dass ich, als ich wie­der nach Potsdam musste, das Kasernentor irgend­wie befreit, glücklich und zuver­sicht­lich durch­schritt, ver­steht sich von selbst. Wenn die Kame­raden prahlten, schwieg ich auch weiter­hin, doch es versetzte mir keinen Stich mehr.

 

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Über Frank Böttcher

Frank Böttcher wurde 1960 in Lutherstadt Wittenberg geboren und lebt seit 1981 in Berlin. In den 1990er Jahren schrieb er Kunstkritiken und dergleichen für den Tagesspiegel. Vor allem aber ist er Verleger des 1995 gegründeten, bis heute existierenden kleinen, aber feinen Lukas Verlags.

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