avatar

10.000 km ostwärts – eine Reise durch das beginnende 1989 (22), auf der Rückreise

SOTSCHI, 13. und 14. März 1989

In einem Vorort Sotschis, in dem Schwester, Schwager, Bruder und Schwägerin (*) in einem Hotel wohnen, springe ich auf den Bahnsteig.

Doch niemand erwartet mich hier. Also geht es weiter zum Hauptbahnhof. Unter der großen Freitreppe befindet sich die Gepäckaufbewahrung, wo ich all meine Taschen und Sachen lasse: den dicken Mantel, die Pelzmütze und die Handschuhe. Es ist Frühling, wie gesagt.

Mein Suchen nach der Verwandtschaft aus der DDR (*) bleibt auch hier erfolglos. Haben sie mein Telegramm nicht erhalten ? Aber ich habe es doch abgeschickt ins Hotel Dagomys ?

Ein Taxi bringt mich hin. Fuhr schon der Zug 3/4 Stunde von dort bis ins Zentrum, so erwarte ich auch hier keinen kurzen Weg. Über den Preis bin ich trotzdem entsetzt. 10 Rubel kostet es, mein lieber Schwan, das ist Geld. Der Taxifahrer will warten, bis ich meinen Geschwister gefunden habe..

Sollten sie nicht hier sein, will ich gleich wieder mit zurück in die Stadt. Aber das ist Übervorsicht. Selbstverständlich sind sie hier. An der Rezeption erfahre ich ihre Zimmer- und Zimmertelefonnummer und wenig später habe ich meine Schwester (*) am Apparat:

„Was ? – Du hier ? – Warte, ich komme gleich ‚runter !“ Also Ade dann, Taxifahrer und vielen Dank !

Die Verwandtschaft (*) hat gestern lange gezecht und liegt noch im Bett. Aber sie mussten sowieso aufstehen, in einer halben Stunde gibt es Mittag.

Dem Reiseleiter von Jugendtourist tische ich jetzt eine neue Geschichte auf: Ich bin Bürger der DDR, arbeite in der Züchtung und Forschung als Gartenbau-Ingenieur und bin auf einer Schulung in Moskau. Dazu krame ich mein breitestes Sächsisch heraus, was ich noch aufzuweisen habe.

Ob ich mich nicht zu meiner Schwester (*) an den Tisch setzen kann und hier mit essen ? Selbstverständlich kann ich das, sowohl heute Mittag als auch heute Abend als auch morgen früh und morgen Mittag und morgen Abend. Das DDR-staatliche Reisebüro Jugendtourist hat sowieso viel mehr Plätze gebucht, als Reisende anwesend sind und Essen steht um einige Portionen zu viel herum. Es ist alles kein Problem.

Wir fahren zurück in die Stadt, es gibt so viel zu erzählen und dann müssen wir ja auch noch vieles besichtigen.

Sotschi ist ein teures Pflaster. Aber es scheint sehr viel hier zu geben. Am Straßenrand probieren wir getrocknete Feigen und Fladenbrote.

Die alte Frau, die es verkauft, verständigt sich mit uns mit Händen und Füßen. Sie spricht sogar noch schlechter Russisch als meine Geschwister.

Am Abend sitzen wir in einer Pizzeria bei gutem hiesigem Wein. Es ist gemütlich.

14. März 1989 – Abchasien

Der nächste Tag sollte die Reisebüro-Gruppe von Jugendtourist eigentlich nach Suchumi, hinüber in die Georgische Sowjetrepublik bringen. Aber bis in diese Stadt geht die Reise dann doch nicht.

Ich habe meinen Obulus beim Reiseleiter bezahlt und darf mitfahren. Immer weiter nach Süden geht die Fahrt. Dass wir über die Grenze der Russischen Föderativen Sowjetrepublik fahren, merken wir an den Straßenschildern. Sie sind mit für mich unentzifferbaren georgischen Schriftzeichen bemalt.

Erst später werde ich erfahren, welchen Streit es darum gibt. Die Gegend, in der wir uns befinden, heißt Abchasien. Genauer gesagt heißt sie „Abchasische Autonome Sowjetrepublik“. Die Abchasen sind wie die Tscherkessen eine Bevölkerungsgruppe, die eine nordwestkaukasische Sprache pflegt. Im Gegensatz zu den Georgiern, die eine südkaukasische Sprache gebrauchen.

In Pizunda, einer uralten und schon von den antiken Griechen angelegten Stadt, machen wir Halt.

Es ist Zeit zum Umschauen. Ein Museum in der Nähe des alten Kirchengebäudes wird uns empfohlen. Hier bewundern wir antike Mosaiken, Geräte, Schmuck. Hier also bin ich in der sagenhaften Kolchis. Hier lebte der sagenhafte König Aietes, dem Jason und die Argonauten einst das Goldene Vließ raubten.

Georgier, Griechen, Perser, Römer, Türken und Russen stritten um dieses Gebiet.

Die Kirche selbst ist aus dem 9. Jahrhundert. Ich bin begeistert von dieser Architektur und ziehe die Verwandtschaft (*) ins Innere.

Bild oben: Die Patriarchalkirche des Heiligen Andreas in Pizunda (aus Wikipedia)

Doch dort bin ich erst einmal sprachlos: Die AItarempore ist leer.
Kein Kreuz und kein Tisch ist dort, lediglich ein großer Konzertflügel. Im Kirchenschiff reihen sich Kinoklappstuhl an Kinoklappstuhl.

Aber seien wir zurückhaltend: Die ehemals wohl blühende und reiche Gemeinde Pizunda wurde schon im 16. Jahrhundert vom türkischen Sultan Suleiman II. überrannt. Stiche aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts zeigen die Kirche zerstört und als Ruine inmitten einer rastendenden Karawane .

Es sind übrigens mehrere deutsche Reisende, die zuerst das Land hier dem Westen beschrieben. Sie bringen Kunde nach Europa von der „Sammlung der Russischen Erde“ die der Kreml dort 1803 bis 1810 veranstaltet hat. ( Was ist an dieser Erde hier ist eigentlich russisch ? )

Wenn man an diesem Ort also nicht mehr recht weiß, wie man eine alte Kirche anders nutzen könnte, denn als Konzertsaal, so ist dies keinesfalls Schuld der Sowjets. Und halten wir auch fest: sie wird überhaupt genutzt.

Draußen schlendern wir eine Promenade entlang zum Strand. Wir sind in einem Kurort.
Dann geht es wieder in den Bus und… zurück.

Nein, nach Suchumi fahren wir nicht. Alexej, unser Dolmetscher erklärt uns, dass das gestrichen sei. Warum wisse er nicht recht und es fragt auch niemand danach, auch ich nicht.

Erst später und daheim fallen mir die Berichte von Demonstrationen in Suchumi ins Auge.

Einschub 2024:

Einmal, bis 1931, hat es eine eigene Abchasische Sowjetrepublik gegeben, welche das kyrillische Alphabet nutzte. Der Georgier Stalin, so heißt es, habe den Landstrich Georgien, die Russen sagen „der Grusinischen“ Sowjetrepublik zugeschlagen.

Das mag noch in den 1970er Jahren keine Rolle gespielt haben. Aber 1989 erwachen die Nationen.

Im Sommer des Jahres 1989 schon werden abchasische Aktivisten die (Wieder-) Ausgliederung Abchasiens aus dem georgischen Verwaltungsapparat fordern.

Was glaubte Lenin vor 70 Jahren ? – Nationen seien künstlich von den Herrschenden erschaffen. Sie benötigten nationale Gegensätze, um ihr Herrschaft im Inneren zu erhalten.

Mit Errichtung der „klassenlosen Gesellschaft“ würden sich alle Nationen wie von selbst auflösen. Die Menschen würden zu einer neuen Qualität von Nation verschmelzen, der sozialistischen.

 

Shares
Folge uns und like uns:
error20
fb-share-icon0
Tweet 384
avatar

Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Shares
Scroll To Top