Kapitel 6
Aber das war alles noch sehr ferne Zukunftsmusik. Ende Februar rückten wir wieder in die Potsdamer Kaserne ein, wo uns ein meist unerträglich langweiliger, schier endloser Alltag aus militärischer Ausbildung, diversen Wach- und Bereitschaftsdiensten und hoffentlich nur wenigen Einsätzen erwartete. Wieder und wieder und wieder hetzten wir über die Sturmbahn, stürmten Häuserattrappen, schippten Kohlen, exerzierten, reinigten das Revier, standen bei Appellen herum, putzten die Kalaschnikow, waren GUvD (Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst), dösten im Politunterricht, kloppten Skat. Einmal hatte ich sechsundfünfzig Stunden lang die Felddienstuniform nicht ausziehen können, das war unangenehm, aber entscheidend war, dass jede Stunde, die wie auch immer verging, »gediente Zeit« war und mich dem am fernen Horizont vage schimmernden Entlassungstag ein kleines Stück näherbrachte.
Neben den drei Mot.-Schütze-»Arsch«-Zügen besaß jede Kompanie einen mehr oder weniger privilegierten Kompanietrupp aus Funkern sowie je einem Koch, Fourier, Schreiber und Sanitäter. Vor allem die letzteren Druckposten waren begehrt. Wer sie innehatte, schlief statt in einer Achtmann- in einer Viermannstube, war dem Ausbildungstrott nur bedingt unterworfen und konnte sich kleine Vergünstigungen organisieren. Mancher besaß gar eine gewisse Macht: Der Schreiber konnte aufgrund seiner Nähe zum Kompaniechef und zum Spieß bei Urlaubsscheinen schon mal nachhelfen, und Koch und Fourier vermochten natürlich diese und jene Leckerei zu organisieren. Der Sanitäter wiederum musste statt einer schweren Maschinenpistole oder Panzerfaust nur eine Pistole tragen und konnte sich leicht in den Med.-Punkt des Regiments abseilen, wo er häufig vierundzwanzigstündige Dienste schob sowie für die Offizierssauna mitverantwortlich war.
Da sich herumgesprochen hatte, dass ich ganze Sätze in fehlerfreier Orthographie und Grammatik zu Papier bringen wusste, wurde gemunkelt, ich würde ab dem zweiten Diensthalbjahr den bisherigen Schreiber beerben, doch übernahm diesen Geheimnisträgerjob schließlich jemand anders; ich glaube mit einigem Recht, dass der Mensch bei der Stasi war. Mich dagegen erklärte man zum Sanitäter, was eigentlich noch besser war, weil ich so mit dem Offizierspack weniger zu tun hatte.
Um mich einigermaßen zu befähigen, kommandierte man mich vier Wochen zu einem entsprechenden Lehrgang nach Magdeburg ab. Viel gelernt habe ich dort nicht, aber immerhin konnte ich nun Verbände anlegen und dergleichen. Lehrfilme aus den fünfziger Jahren zeigten ferner, wie man sich bei einem Atomschlag verhalten sollte: nämlich unbedingt hinter einer Betonwand in Deckung gehen sowie hinterher den Schutzanzug mit nicht kontaminiertem Wasser gründlich abspülen.
Andere künftige Sanitäter, die später meist Medizin studieren wollten, nahmen die Sache ernster als ich. Für mich war entscheidend, dass ich den Rest der Armeezeit überwiegend mit Lesen von Büchern würde verbringen können. Und weil ich gerade dabei war, über meine Zukunft mir Gedanken zu machen, meldeten sich erste Zweifel, ob es richtig gewesen war, mich für den Lehrerberuf beworben zu haben. Ich hatte meine pädagogischen Ambitionen und Fähigkeiten bisher offenbar überschätzt. Viel lieber hätte ich jetzt Germanistik studieren und Literaturwissenschaftler werden wollen.
Den Eltern gegenüber, obwohl ich ihnen regelmäßig schrieb, gab ich solches nur beiläufig zur Kenntnis. Eine umfangreichere und tiefergehende Korrespondenz mit Briefen von bis zu zehn, fünfzehn Seiten unterhielt ich mit meinem Schulfreund Andreas H., der im sächsischen Oschatz frustriert seinen notgedrungen dreijährigen Dienst – ebenfalls als Sanitäter – ableistete. Am wichtigsten aber war der intellektuelle und seelische Austausch mit einigen Kameraden in der Kaserne, die teils zu engen Freunden wurden. Immerhin lebte ich auf engstem Raum in einem Klima, das von versoffenen, dummen Offizieren und Unteroffizieren und von Soldaten mit nur acht und gar sechs Klassen Schulbildung geprägt war.
Letztere spielten zwar ausgebufft Skat und entwickelten verblüffende Ideen, wenn es ums Einschmuggeln von Schnaps ging, bekamen darüber hinaus aber nicht viel auf die Reihe. Wenn ihnen die Argumente ausgingen oder ihre verbalen Fähigkeiten nicht genügten, diese zu artikulieren, behalfen sie sich stereotyp mit Kraftwörtern und den immergleichen Aldi-Weisheiten oder boten kurzerhand Dresche an.
Ich schreibe das ohne jede Überheblichkeit. Etliche unter ihnen waren anständige Leute, die ich ehrlich mochte, aber ich hätte mich selbst aufgegeben, hätte ich mich mit ihnen gemein gemacht. Gleichwohl verkehrte ich nicht allein mit angehenden Akademikern wie Stefan T., der Nordeuropawissenschaften studieren, oder Wolfdietrich R., der Arzt werden wollte, beides begeisterte Klavierspieler und Leseratten, sondern einschränkungslos auch mit einem eigensinnig-stolzen Schäfer aus dem Brandenburgischen namens Matthias B. oder einem Glaser namens Thomas aus dem Harz.
Falls die Armeezeit überhaupt einen positiven Aspekt gehabt hat, dann den, eine Schule reicher sozialer Erfahrungen gewesen zu sein. Ich erwarb hier gleichermaßen die Fähigkeit zur Achtung gegenüber Menschen, deren Bildungshorizont ein geringerer als meiner war, wie zur klaren Distinktion gegenüber Dummköpfen und Arschlöchern. Natürlich gab es immer auch Reibereien und Sticheleien untereinander, viel erstaunlicher aber ist, wie gering – jedenfalls in meiner Einheit – die Konflikte zwischen den wegen der dauernden räumlichen Nähe und kollektiven Ausbildung einander ausgelieferten jungen Leuten meist blieben. Der Druck, unter dem der Kessel permanent stand, war ja beträchtlich. Was uns alle, die wir die einfache Truppe, das getriezte, eingesperrte und schikanierte Fußvolk bildeten, offenbar solidarisierte, war, sich der Forderungen all der Herrschenden, Bestimmenden, Vorgesetzten irgendwie zu erwehren.