CHABAROWSK – SPASSK DALNI – CHABAROWSK. 4. März 1989
„Guten Morgen.“ Der Schaffner hat mir einen Platz bei einem jungen Ehepaar im Abteil zugewiesen. Sie reisen bis kurz vor Wladiwostok. Die Stadt soll auch im Winter eisfrei sein. Vorerst jedoch fahren wir noch durch Schnee und kalte Winterlandschaft.
Es wird Mittag. Ein Mann mittleren Alters und in Zivil betritt das Abteil. „Guten Tag !“ sagt er und: „Darf ich mich ein wenig zu Ihnen setzen ?“ Dann sitzt er auch schon. Der Tonfall, mit dem meine Mitreisende ihr: „Natürlich, setzen Sie sich doch !“ sagen, spricht Bände. Sie haben längst begriffen, wer der Mann ist. Damit begreife auch ich. Es fällt kein Wort. Nur die Räder unter uns schlagen über die Schienenstöße. Rattam, Rattam.
Endlich holt er ein Kärtchen aus seinem Jacket: „Bahnpolizei, Sie haben Ihre Papiere ?“ – Die beiden kramen eilig in Ihren Taschen, doch der Mann winkt ab: „Glaub‘ ich Ihnen ja. Aber – “ und jetzt wendet er sich mir zu: „Ihre Papier hätte ich gern einmal gesehen.“
Aus – ich kann jetzt vielleicht noch ein wenig ahnungslos spielen, nach Wladiwostok komme ich nie und nimmer.
Mit aller Unschuldsmiene, die ich aufbringen kann, reiche ich meinen Pass. „Ah, Deutscher, Bundesrepublik. Er wendet mein Visum von vorn nach hinten. „So ? Wo ist denn Ihre Erlaubnis, nach Wladiwostok zu reisen ?“ – „Braucht man die ? Ich denke, der Meeresrandbezirk ist offen.“ – „Das schon, aber lesen Sie selbst, was hier auf dem Visum steht: >Jeder Reisende ist verpflichtet, die auf dem Visum aufgeführten Punkte auf dem kürzesten Wege und ohne Unterbrechung anzusteuern.< “
Bild oben: Der „Meeresrand-Bezirk“ (Primorski Krai). Dass China denselben irgendwann einmal „zurückforden“ könnte, halten einzelne Analysten für möglich. Auf dem rechten Teil der Grafik (aus Wikipedia): Der Chanka-See.
Der Eisenbahnpolizist ist unerbittlich. „Also, in der nächsten Station steigen wir aus und dann werden wir sehen.“
Jetzt wendet er sich an die beiden Mitreisenden: „Sie kennen den Ausländer ? Sie sind zusammen eingestiegen ?“ – „Nein, nein !“ Ich kann das noch einmal bestätigen. – „Rauchen Sie ?“ fragt der Polizist. Mir ist zwar nicht danach zumute, aber den Mitreisenden ist der Gast offensichtlich unangenehm. So nicke ich und wir gehen hinaus auf den Gang.
Ertappt!
Er will dies und jenes wissen und ich biete alle Freundlichkeit auf, die ich habe. Verflixt, ich bin mitten drin in dem, was Vaclav Havel die „Scheinwelt“ nennt . Ich habe Angst, ich kann mich dem nicht entziehen.
Jetzt muss ich auf Toilette. Ich präge ich mir Aschots Adresse ein, reiße sie aus dem Notizbuch. In kleinen Schnipseln verschwindet sie im Abort. Ich habe einen dicken Kloß im Bauch und male mir das Schwärzeste aus. Zumindest aber soll nicht noch jemand davon betroffen sein.
Tatsächlich werde ich gleich darauf nach der Fahrkarte gefragt. „Ich habe sie am Schalter gekauft.“ – „Wissen Sie noch, an welchem ?“ – „Nein, warum ?“ „Es hätte Ihnen überhaupt niemand eine Fahrkarte verkaufen dürfen ?“ – „Warum ?“ – „Weil Sie keine Papiere haben !“ – „Aber die Frau am Schalter hat mir doch eine verkauft. Da, sehen Sie!“
Ich wühle in den Taschen. Ach so, die Fahrkarte hat ja der Schaffner.
Bei ihm wird sich die Miliz auch nach Besonderheiten im Zug erkundigt haben.
Es läuft übrigens alles glimpflicher ab, als ich dachte. In Spassk-Dalni steigen wir aus. In der Milizstation kann ich mein Gepäck abgeben.
An der Stätte des fernen Erlösers
Einschub 2024:
„Spas“ ist der Erlöser. Der „Spasski-Turm“ im Moskauer Kreml ist der „Erlöser-Turm“ und „Dalni“ ist fern oder weit. Schließlich bin ich in Spassk-Dalni im „Dalni Wostok“, dem „Fernen Osten“.
„Alles war normal.“ sagt mein Begleiter. „Aber hier, im siebten Waggon war der Bürger der Bundesrepublik, Jurastudent.“ Seine Kollegen nicken. Dann soll ich mich ein wenig umschauen. „Aber nicht zu weit weg gehen, gelt ?“
Der Bahnhof und ein paar Häuser liegen etwas abseits. Dort hinten, hinter den Bäumen ist der riesige Chanka – See. Und an dem anderen Ufer desselben wiederum liegt China. Aber das kann man nicht sehen. Und im Übrigen: es sind noch 280 km bis Wladiwostok. Ich gehe essen und weil mir allmählich zu kalt wird, wieder in die Milizstation.
Ich bin ein seltener Vogel hier und lange und viel wird erzählt. Noch ein Milizionär kommt, noch einer. Sie telefonieren. Nein, nach Wladiwostok darf ich auf keinen Fall. Der Mann am anderen Ende der Leitung tobt. Dann unterhalten sich die Milizionäre über meine Fahrkarte. „Das ist nicht unser Problem“ sagt einer der drei.
Sie holen ein Büchlein heraus. „Verwaltungsstrafen der RSFSR“ steht auf dem Deckel. Lange blättert einer der Milizionäre darin herum, dann liest er vor: „ABWEICHEN VOM TRANSITWEG: Ausländische Bürger, die von dem vorgeschriebenen Transitweg abweichen, werden mit einer Geldstrafe von 50 Rubeln belangt.“
Da ist es wieder: „Schtrafowatch“, das so preußisch klingende Wort. Ich muss grinsen und eigentlich fällt mir auch ein Stein vom Herzen. Wenn es weiter nichts ist.
Den Milizionären, die mein Gesicht nicht verstehen, erkläre ich den für mich so vertraut erscheinenden Klang dos Wortes. Sie nicken und zucken dann mit den Schultern. Einer sagt: „Ja. so ist das mit dem Recht, da kann ich nun mal nichts machen.“ Und ein anderer: „Versuchen Sie es doch mal in Chabarowsk auf der Miliz, ob Sie dort eine Erlaubnis bekommen, nach Wladiwostok zu fahren. Aber wir dürfen Sie hier wirklich nicht durchlassen.“
Ich sage, dass das ein guter Rat ist und dass ich für Ihn dankbar sei. Natürlich werde ich in Chabarowsk nicht auf die Miliz gehen. Auch dort würde man nur mit den Schultern zucken und sagen, dass man mir nicht weiterhelfen könne. Miliz ist nicht dazu da, etwas zu gestatten, sondern etwas zu verbieten.
Es wird ein Protokoll aufgesetzt: „Ich, der Bürger der Bundesrepublik, geb. am / in. Paß-Nr. / Visa-Nr.. befand mich am 4.3.1989 auf dem Weg von Chabarowsk nach Wladiwostok…. bei mir hatte ich kein Visa…“
Muss ich Jetzt auch noch 50 Rubel zahlen ?
Nicht doch, ich bin Student und brauche meine Rubel noch für Chabarowsk und Moskau. Aber zurückfahren muss ich. Da gibt es kein Pardon.
Als ich abends 21 Uhr in den Zug nach Chabarowsk einsteige, werde ich von zwei Soldaten bis in mein Abteil geleitet. Zwei weitere stehen draußen. Denkt man wirklich, ich bin so lebensmüde und springe jetzt mitten in der Nacht wieder aus dem Zug ? Immerhin sind draußen schon wieder minus 15 Grad Celsius.