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10.000 km ostwärts – eine Reise durch das beginnende 1989 (10)

CHABAROWSK, 11. Februar 1989

Als erstes geht es hinunter in die Gepäckaufbewahrung, den Schlafsack loswerden. Was sollte ich in Japan damit ? Es ist ein wirres Durcheinander in dem Raum. Ein freundlicher Milizionär
schreibt mir dann den unumgänglichen Papierkram:

An den Vorsteher des
Bahnhofs Chabarowsk
11.2.1989
Chabarowsk ,

Erklärung
Hiermit erkläre ich, der Reisende Bodo Walther, geb. am / in, Reisepass Nr. / Ausgestellt am / in, dass ich am 11.2. meinen blauen Schlafsack ( Inhalt: 1 Schlafsack / Farbe: blau ) zur Gepäckaufbewahrung abgegeben habe. Ich werde das Gepäck am 3. März wieder abholen.
…….Unterschrift

Der Milizionär nickt väterlich: Ja, das ist schon schwer, das alles richtig zu formulieren, auch für Russen selbst. Fein säuberlich schreibe ich die Worte ab und schließe mein Gepäck in einem Schließfach ein.

Dorthinein habe ich auch noch einen Zettel mit meiner Pass – Nr. zu legen. Dann aber verstehe ich die Welt nicht mehr: Die Erklärung an den Bahnhofsvorsteher habe ich zusammenzufalten, in meine Tasche zu stecken und mit nach Japan zu nehmen. Ja, ich denke der Brief ist an den Bahnhofsvorsteher ?

Ja, ja: der Milizionär nickt, „Wenn Sie wieder hier sind, legen Sie diese Bescheinigung vor und dann erhalten Sie Ihr Gepäck!“

Das System verblüfft mich. Es enthält in sich aber doch irgendwo die Garantie, dass jeder irgendwann wieder zu seinem Gepäck kommt. So stelle ich keine weiteren Fragen.

Bürokratie ist nichts ursprünglich Russisches. Ohne sie kann man aber kein Gemeinwesen organisieren. Zar Peter l. und später Jekaterina hatten das klar erkannt.

Sie holte preußische Verwaltungsfachleute und Juristen ins Land und diese haben die russische Sprache bereichert. Mit dem Wort „schtrafowatch“ z.B., was so viel heißt, wie „Eine Geldstrafe auferlegen“ . Hier unten in der Gepäckaufbewahrung begegnete mir das seltsame Wort schon am Eingang: „Rauchen Verboten, SCHTRAF: 5 Rubel.

Es ist übrigens gar nichts Ungewöhnliches, sein Gepäck hier für drei Wochen abzugeben. Um mich herum steht eine Traube von Sowjetbürgern, die alle dasselbe wollen. Emsig formulieren sie ihre Erklärung und vergewissern sich dabei an dem ausgehängten Muster, dass sie es richtig machen: „Ich, der Reisende, geboren am / in, Pass–Nr., Ausgestellt am / in…“

Chabarowsk – benannt nach dem russischen Entdecker Chabarow (Bild unten aus Wikipedia), liegt im fernsten Osten Asiens. Und doch fühle ich mich immer noch in Europa.

Die Stadt, auf die der denkmalne Chabarow vor dem Bahnhof herunterschaut, ist nur anderthalb Jahrhunderte alt. Es fehlen die großen, goldenen Kuppeln der Kirchen und auch sonst die Geschichte.

Die tristen Wohnblocks, an denen das Taxi auf dem Weg zum Flughafen vorbeifährt, sehen aus wie überall in Osteuropa: grau und abgewirtschaftet. Und doch: auch Osteuropa ist noch Europa und alles hier erscheint so vertraut, bekannt, verlässlich.

EIN HAUSBACKENER FLUGHAFEN

Die Angestellten auf dem internationalen Flughafen sind erleichtert, dass ich besser russisch spreche als sie englisch. Dies ist keineswegs ein Hinweis auf meine Russisch-Kenntnisse, als vielmehr auf das miserable Englisch, das hier gesprochen wird.

Aber wahrscheinlich braucht man dies hier sowieso nicht. Dafür ist der Airport zu wenig genutzt. Freitags geht ein Passagierflugzeug nach Japan. Am Dienstag und am Donnerstag geht eines nach Nordkorea. Ebenso viele Linienflüge kommen an und dann gibt es da noch die drei Hin – und Rückflüge, die nur Post und Frachtgut transportieren. – Hier ist Japanisch und Koreanisch wichtiger als Englisch.

Ich befinde mich, so scheint es mir, am Ende der Welt.

Bis die Gutscheine für den Flug in Tickets umgeschrieben sind, wird es noch eine Weile dauern und außerdem muss ich wieder in die Stadt, die Rückfahrkarten für den Zug bestellen. Die Taschen ? Eine Gepäckaufbewahrung gibt es hier nicht, aber die freundliche Flughafenangestellte weist mich an einen Schreibtisch im Büro der Flughafenverwaltung: „Hier können Sie Ihr Gepäck
drunter stellen.“

An den Schaltern auf dem Rahnhof werde ich abgewiesen.
Bestellungen werden erst 10 Tage vor Abfahrt des Zuges angenommen. Kann ich das Schild nicht lesen ? – „Der Nächste bitte !“ Im Reisebüro „Intourist“ auf dem Bahnhof ist das Ganze wiederum kein Problem. Wann ? Am 9. März ? Geht in Ordnung.

Schließlich ist man ja ein Gast aus dem Westen. Und die Fahrkarte nach Wladiwostok ? Auch das sei kein Problem, vorausgesetzt ich bringe ein Visum für die Stadt mit. Und ohne ? Nein, das wird wohl nicht gehen. Verflixt ! Auch am Schalter erhalte ich die gleiche Auskunft.

Auf der Post will ich ein Telegramm an Aschot nach Nachodka aufgeben: „Brauche eine Einladung für den Kauf der Fahrkarte, bitte an Adresse in Tokio schicken !“ Die Frau am Schalter liest den Text und schüttelt den Kopf: „Wieso brauchen Sie eine Einladung wegen der Karte dorthin ? Die Stadt ist seit Oktober eine offene Stadt.“

Eine ältere Frau in der Schlange hinter mir pflichtet ihr bei: „Für den ganzen Meeresrand-Bezirk braucht man keine Einladung, die Reisen sind hier frei.“ Sollte ich trotzdem auf die Absendung bestehen ? Es war dem Armenier ganz offensichtlich unangenehm, das mit der Einladung, und der ganzen Bürokratie. Immerhin muss die Einladung von der Miliz genehmigt werden, dann muss dieselbe bestätigen, dass der Gastgeber auch ein Bett hat, den Ausländer zu beherbergen… und, und, und.

Also gut. Wenn die Frauen hier meinen, dass das alles irgendwie auch ohne Einladung geht, dann will ich es mal ohne versuchen. Zum Flughafen muss ich wieder mit dem Taxi. Dass mir der vorletzte Taxifahrer das Dreifache des Tarifs abgenommen hat, habe ich schon mitbekommen. Der hatte aber schon vorher seinen Preis genannt und ich hatte zugesagt. Dieser hier hält nicht einmal das für nötig.

Einen Rubel und achtzig Kopeken zeigt die Uhr an. Er nimmt die fünf Rubel, steckt sie ein und heißt mich, auszusteigen. „Und ?“ sage ich. „Ich bekomme noch etwas heraus !“ – „Was ?“ fragt er „Du bekommst etwas ? – Nichts bekommst Du !“.

Wir sind beide wütend. Er auf den Gast aus dem Westen, der mit einer Mark siebzig geizt, ich auf den Taxifahrer. Aber Streit bringt nichts, außerdem habe ich keine Zeit.

Missmutig haste ich noch auf die Post und gebe ein Telegramm nach Moskau auf: „Ankomme 15. März. 15.50 Uhr Moskauer Zeit. Waggon Nr. weiß ich noch nicht.“ Dann stehe ich auch schon in der Traube der Fluggäste und warte aufs Einchecken.

Die freundliche Flughafenangestellte und ihre Kolleginnen stehen jetzt an der Abfertigung und kontrollieren das Gepäck der Passagiere. Einige von ihnen werden dann als Stewardessen mitfliegen. Man ist halt Mädchen für alles auf so einem Flughafen.

Hinter mir in der Reihe stehen zwei dutzend russische Sportler. Sie fliegen nach Sapporo zum Eishockey, wie ich später feststelle.

„Bitte lassen sie zuerst die Delegation durch !“ ruft eine Flughafenangestellte und schiebt die Sportler an der Menschentraube vorbei in den Aufenthaltsraum.

KRIEGSFOLGEN

Wenn ich mich später drüben in Japan über die vielen Fernsehkameras wundere, die unsere Ankunft filmen und dies zuerst auf die Sportler beziehe, so sollte ich mich getäuscht haben. Die Menschen, für die drüben in Japan schon die Linsen geputzt werden, stehen immer noch vor mir.
Sie warten, geduldig wie ich, auf ihre Abfertigung. Es sind zwei Greise. Der eine ist gekleidet in einen speckigen Kunstpelz, der andere in einen abgetragenen Mantel. Zwischen ihnen steht eine Frau von etwa 35 Jahren.

Sie sind klein, haben Schlitzaugen, Mongolenfalten, schwarzes bzw. ergrautes Haar und sprechen eine mir unbekannte Sprache. – „Nun, was ?“ Der Mann vom Zoll zwingt sich zur Freundlichkeit. Es ist schon ein Kreuz mit den beiden alten Herren. Den sowjetischen Pass haben sie zwar in der Hand, aber russisch verstehen sie kein Wort. Jeden Satz muss ihnen die jüngere Frau erst noch in die unbekannte Sprache  übersetzen.

„Gold im Gepäck ?“ fragt er, die junge Frau übersetzt und die beiden Greise schütteln den Kopf. „Nein“ sagt die Frau.
„Rubel ?“ Auf die Übersetzung holt einer der Greise zitternd ein Bündel Geldnoten aus der Tasche.“ – „Genosse !“ sagt der Zollbeamte vorwurfsvoll. „Sie wissen doch, dass Sie Rubel nicht ins kapitalistische Ausland mitnehmen dürfen !“

Unwillkürlich jucken mich die 60 Rubel in meinem Strumpf. „Jetzt zählen wir das Geld. Sie bekommen eine Quittung und wenn Sie aus Japan zurückkommen, bekommen Sie es wieder ausgehändigt. “

178 Rubel sind es. Der Greis blickt traurig auf die Schublade, in der es verschwunden ist. Drei bis vier Monatsrenten dürften es für ihn sein. Dass er davon nicht einmal die Fahrkarte für 350 km Eisenbahn von Niigata nach Tokio bezahlen könnte, weiß er noch nicht.

Und weiter geht die Kontrolle: „Die Taschen ?“ Sie sind voll gestopft mit Lebensmitteln, mit Wurst und Brot. Das ist eigentlich nicht gerade gestattet. Dem Zöllner tun die drei armen Wichte aber offensichtlich leid. „Gut.“ Sagt er. „Aber sehen sie selbst: Ihr Gepäck wiegt 118 Kilogramm. 90 sind nur gestattet für Sie drei… Na ja, packen Sie doch etwas davon ins Handgepäck. Und die Brote lassen Sie hier.“

Während die drei umpacken, bin ich an der Reihe. „Gold ?“. „Nein, nur in den Zähnen !“ Der Zöllner atmet auf: „Sie sprechen Russisch ? Wie bin ich lhnen dankbar !“

Die Greise sind jetzt auch fertig. Später, in Japan erfahre ich ihre Geschichte: Sie kommen von der Insel Sachalin, genauer gesagt von Süd-Sachalin, dem Teil der bis 1945 ein Teil Japans war. Koreaner sind sie und wurden in jungen Jahren aus der Japanischen Kolonie Korea nach Sachalin gebracht. Die beiden sind Brüder und im Gegensatz zu ihrem dritten Bruder, der 1945 mit den Japanern geflohen ist, sind sie auf Sachalin geblieben. Der Bruder lebt in Tokio. Nach 44 Jahren werden sie sich zum ersten mal wieder sehen.

Ich erinnere mich an die Bilder aus Europa, weinende alte Leute, die einander um den Hals fallen. Hat hier jemand gedacht, das sei ein deutsches Privileg ? In Niigata wird der eine der beiden Greise die Tränen hochschneuzen und dem Japanischen Zollbeamten die seit einem halben Jahrhundert nicht mehr benutzten Schriftzeichen aufs Papier malen.

Die zwanzigjährigen japanischen Flughafenangestellten werden abseits stehen, flüstern
und ansonsten hilflos mit den Schultern zucken. Was könnten sie auch anderes tun ?

Aber noch sind wir auf dem Flughafen in Chabarowsk. Ich freue mich auf Japan und doch ist mir etwas bang. Endgültig werde ich Europa verlassen. Die Menschen um mich herum werden keine Europäer mehr sein wie hier in Chabarowsk. Schon vom Gesicht her werde ich auffallen, einen Kopf größer sein als alle Passanten auf der Straße…

Was mögen die beiden Alten jetzt fühlen ? Vielleicht genau das Gegenteil . . . ?

ÜBER DIE BERGE

Das Flugzeug hebt ab und ich sehe das Land von oben. Die Wipfel der Fichten und Kiefern sind vom Schnee bedeckt, besonders dick oben auf den Hügeln. Hügel ist dabei vielleicht nicht das richtige Wort, denn die Hänge sind steil und die Kämme scharf. Sie erreichen aber keine nennenswerte Höhe. Es ist ein wild durchfurchtes Land, in dem ein Drittel der Oberfläche aus Hängen bestellt, unwirtlich und nicht kultivierbar. – Einzig im Tal des Amur, des wasserreichen Flusses weitet sich die Ebene.

Später werde ich in Japan dieselbe Geographie sehen. Nur das Klima ist dort anders. Der Schnee ist verschwunden. Es ist wärmer und jedes Fleckchen Erde ist genutzt, sorgfältig genutzt. Und auch sonst ist es ein Sprung in eine andere Welt: Die Menschen tragen modische Kleider. Abends strahlen Neonreklamen in das Dunkel. Und das Wichtigste: Ich bin sprachunkundig und Analphabet.

Aber noch ist es nicht soweit. Noch sitze ich im Flugzeug. Und auf meine Frage, ob ich noch einen dritten Becher Limonade haben kann, sagt die Stewardess: „Ich lasse Ihnen jetzt mal das ganze Fläschlein da.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

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