BUDAPEST – MOSKAU 2. – 4. Februar 1989
„Guten Abend“ sage ich, als ich meine Taschen ins Abteil schleppe.
Auf Russisch natürlich.
Außer mir sind noch ein junger Mann und eine junge Frau in dem Abteil mit den vier Liegen. Die Taschen sind schnell verstaut. Wir wechseln ein paar Worte. Dann kann ich ihren Fragen auch schon nicht mehr folgen. „Ach, Sie sind kein Russe ?“
Es ist mehr eine Feststellung, denn eine Frage. „Nein, Deutscher, Bundesrepublik, Bonn, Student.“ Aber jetzt stellen wir uns erst einmal vor. Sie,Tanja und er, Sergej sind ebenfalls Studenten. Ihre Universität ist am Ural, in der Udmurtischen Autonomen Sowjetrepublik. Jetzt waren sie auf einem Archäologie – Praktikum in Ungarn.
„Rauchen wir eine ?“ – „Ja“ – Wir gehen auf den Gang hinaus.
Sergej nimmt keine Zigarette. Er stopft sich eine Pfeife und führt sie zum Mund, der sich irgendwo zwischen seinen tief ins Gesicht hängenden Haaren und dem zottigen Bart befindet.
Später sage ich ihm, daß er genau so aussieht, wie man sich im Westen einen Sibirier vorstellt. Er nickt. Nun, warum nicht ?
In der Nacht um zwei werden wir an der Grenze sein. Das ist viel Zeit, um eine halbe Flasche Whisky zu leeren und vor allem – um zu erzählen. Über Bonn, die Stadt in der ich lebe, über bundesdeutsche Parteien, die Sowjetunion, die Veränderungen und den Ural.
„Wieviele der Leute dort sind eigentlich Udmurten ?“ frage ich.
„Dreißig Prozent,“ sagt Tanja. „Sie sind so wenig,“ fügt Sergej augenzwinkernd hinzu, „ weil die Hälfte von ihnen in Amerika lebt.“
Tanja widerspricht.
In der Nacht kommen die Grenzer. „Was ist das ?“ Die Frau vom sowjetischen Zoll blickt anfangs entgeistert in meine Tasche, wo sich Lebensmittel für 10 Tage befinden. Dann nimmt sie es mit Humor.
Als „Inostranez“ muß ich, wie auch zwei Schweizerinnen hinaus auf den Bahnhof. Unsere Pässe sind schon dort.
„Inostranez“ – dieses Wort werde ich noch oft hören. Es heißt eigentlich Ausländer. Konkret sind damit aber nur die richtig ausländischen Ausländer gemeint, die aus dem Westen.
Sergej und ich stehen draußen auf dem Gang. „Wie fühlst Du Dich?“ frage ich ihn. „Bist Du zu Hause ?“ Er nimmt die Pfeife aus dem Mund und schüttelt den Kopf. „Nein, zu Hause bin ich erst am Ural, wo es Schnee gibt und Wald, viel, viel Wald.“
Am nächsten Tag erzählt Sergej von seiner Leidenschaft: Jagd und Jagdwaffen. Ab und an stockt das Gespräch. Dann blättern wir im Wörterbuch. Tanja hat das Russisch-Deutsche, ich das Deutsch-Russische in der Hand. Ein vierter Passagier steigt ein und wieder aus. Ein anderer kommt. Seit Vormittag dudeln in den Abteilen die Lautsprecher. Radio Moskau bringt Musik und Politik.
Wir haben den Lautsprecher ausgeschaltet und unterhalten uns.
Am Kiewer Bahnhof werden wir ankommen (Bild unten aus Wikipedia).
Tanja und Sergej müssen zum Kasaner, ich zum Jaroslawer Bahnhof. Tanja zeigt auf meinen Moskauer Stadtplan, den ich mir in Budapest gekauft habe.
Den Shdanow Bezirk gebe es nicht mehr. „Shdanow war ein Stalinist und deshalb wurde er umbenannt.“ Nein – wie er heute heißt, weiß sie nicht.
Vergeblich suche ich auf dem Plan nach Kirchen in Moskau. Auf dem gibt es keine. Dafür verzeichnet derselbe alle Lenin – Denkmale der sowjetischen Hauptstadt.
„Aufstehen Genossen !!!“ – Um fünf Uhr am nächsten Morgen weckt uns der Schaffner.
In einer Stunde werden wir auf dem Kiewer Bahnhof sein. Dann rollen wir auch schon durch die Vorstädte.
Punkt sechs Uhr schmettert in den Lautsprechern im Zug die sowjetische Nationalhymne los – „…Du, meine Sowjetunion.“
Einschub 2024:
Melodien sind übrigens langlebiger als Texte, weil einprägsamer.
Ein neuer Text „darauf“ und fertig ist die gegenwärtische Russische Nationalhymne.
Daraus kann man Kontinuitäten ableiten, muß man aber nicht. Auch die Deutsche Nationalhymne wurde zu einem anderen Anlaß komponiert. Es gibt sie sogar als anglikanisches Kirchenlied.