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Vom Sinn des Soldatseins – Erinnerungen an den Wehrdienst in der DDR (Teil 1/9)

Fast jeder Mann, der ungefähr vor 1970 geboren wurde und bis 1990 in der DDR lebte, musste dort den Grundwehrdienst in der NVA oder anderen kasernierten Einheiten ableisten. Der Autor, Jahrgang 1960, erinnert sich in neun Kapiteln an seine eigenen entsprechenden Erfahrungen.

Laut Einberufungsbefehl begann mein Grundwehrdienst am 3. November 1979. Doch hatte die­ser gefürchtete Tag X, hinter dessen Wirklichkeit sich das frühere zivile Leben abrupt zu einem unbeschwerten, irgendwie kindlichen Traum verwandelte, seine Schatten schon seit Längerem voraus­geworfen. Bei der Musterung vor anderthalb Jahren waren die jungen Männer meines Jahr­­gangs der Erweiterten Oberschule „Philipp Melanchthon“ in Wittenberg sämtlich erfasst, begut­achtet und einsortiert worden für den künftigen Dienst an der Waffe. Nur zwei von ihnen, und zwar Andreas S. aus der Parallelklasse sowie ich selbst, hatten uns nicht bereiterklärt, drei oder gar fünfundzwanzig Jahre als Unteroffizier bzw. Berufsoffizier zu dienen, sondern wirklich nur den Grundwehrdienst abzuleisten. Spatensoldaten oder gar Totalverweigerer gab es unter uns überhaupt keine.

Wie wir der Größe nach anzutreten und zu marschieren hatten, war uns von der ersten Klasse an im Sportunterricht und bei den schulischen Fahnenappellen beigebracht worden und in Fleisch und Blut über­gegangen; dazu bedurfte es des erst 1978, also nach uns, eingeführten obligatorischen Wehrkundeunterrichts gar nicht. Eine benotete Disziplin in Sport war Keulen­weitwurf – unschwer als Vor­übung zum Handgranatenweitwurf zu erkennen. Ende der elften Klasse mussten alle Jungen unserer Schule für zwei Wochen in ein GST-Ausbildungs­lager nach Thü­rin­gen, wo wir in kärglichen Baracken hausten, wiederum viel marschierten, den Gebrauch von Gas­masken erlernten und uns über die Eskala­dier­wand schwangen.

Und obwohl der Rekrut Bött­cher sogleich nach seiner Ankunft in der Kaserne eine zu einem großen Sack zusam­men­geknüpfte Zeltplane mit sich herumschleppte, um die komplette B/A (»Bekleidung und Aus­rüstung«) abzufassen, hatte er sich schon Wochen vorher eine schwarze Reisetasche, ohne die er in keinen Urlaub hätte entlassen werden dürfen, je zweimal Nähzeug, Schuhputzutensilien, Ess­be­steck mit Tasche, ferner Wasch-, Zahnputz- und Rasierzeug sowie graue Wollsocken und etliche zusätz­liche Kragen­binden zulegen müssen. Seinen blauen Personalausweis hatte er auf dem Wehr­kreis­kom­mando gegen einen grauen Wehrdienstausweis eintauschen müssen.

Mehr als all das bewegte ihn freilich, ob er dem Sammeltransport in der Reichsbahn stolz und wider­stän­dig mit noch immer langem Haupthaar beiwohnen, dann jedoch einem womöglich betrun­kenen Regi­mentsbarbier sich anheimgeben sollte, oder ob es nicht bes­ser wäre, dem Manne diesen Triumph gerade nicht zu gönnen und sich das Haar schon am letzten Tag in Freiheit von Mut­tern scheren zu lassen.

Ich entschied mich für die zweite Variante.

Am Potsdamer Hauptbahnhof wurden die frisch eingetroffenen jungen Männer nach ihren künftigen Einheiten vorsortiert, sodann auf LKWs in die Kaserne gefahren und dort auf dem Exerzierplatz abgeladen. Ein paar Altgediente grölten höhnisch und zeigten stolz ihre eigent­lich noch sehr langen, noch unangeschnittenen Bandmaße (»Zuppis«). Ich wusste, dass die kom­menden Wochen mehr oder minder übel verlaufen würden, und stellte mich fatalistisch darauf ein. Es schien mir am klügsten, nicht sofort anzuecken oder mich zu expo­nieren, sondern zu­nächst den Überblick zu gewinnen.

Weil ich mich bei den noch am selben Tag ein­set­zenden »Maskenbällen« – dem unter viel Gebrüll und Zeitdruck stattfindenden mehrfachen An- und Ablegen von Dienst- oder Ausgangsuniform sowie Ausrüstungen – und bald auch bei nächt­lichen Probealarmen, Exerzierübungen, Sturmbahnausbildung, Bettenbau, Spind­kon­trolle, MPi-Schießen selten blöde anstellte und kaum Anlass bot, um von den aus­bil­den­den Gruppenführern, vom Spieß oder von irgendwem aus den höheren Dienst­halb­jahren auf den Kieker genommen zu werden, handelte ich mir nicht mehr Stress ein, als normal war. Ich hatte Glück, weil ich der Situa­tion sportlich-körper­lich, intellektuell-mental und von der Geschick­­lichkeit her gewachsen war.

Und ich hatte Glück, weil ich in keiner der vielen landes­weit berüchtigten Einheiten gelan­det war, wo halbkriminelle Vorgesetzte und EKs (Soldaten im dritten, letzten Diensthalbjahr) ihren Frust unglaublich brutal an den »Frischen«, den »Zarten«, den »Sprutzen«, den »Dachsen«, den »Rotärschen« abreagierten. Im Gegen­teil, in meiner Kom­panie und auf meiner »Stube«, wo ich eines der acht Betten belegte, gaben gelassene, moderate Leute den Ton an. Erniedrigende Rituale und Beschimpfungen, die natürlich trotzdem an der Tagesordnung waren, ertrug ich einigermaßen stoisch, zumal sie mich nur selten per­sön­lich trafen. Es war sonnenklar, dass wir »Keimschweine«, wir »Hüpfer« nach Dienst das Zimmer und den langen Flur bohnerten und die Kloschüsseln schrubbten oder im Klubraum, wo die alt­gedienten »Kol­legen« Skat kloppten, wenig zu suchen hatten, doch le­gendäre Exzesse der EK-Bewegung etwa jener Sorte, dass ein »Glatter« in den Besenspind gesperrt wurde, nach Ein­wurf einer Münze zu singen hatte und, falls er sich weigerte, man die »Musik­box« auf den Kopf stellte oder aus dem Fenster warf, blieben uns erspart.

Ich war jetzt der VP-Anwärter Böttcher und diente in der 2. Kompanie der 20. Volks­polizei-Bereitschaft »Käthe Niederkirchner« in Potsdam-Eiche. Meine Ausgangsuniform (K1) war zwar die grasgrüne eines Polizisten – ich ging also als »Frosch« durch die Stadt –, doch die grünlichbraune Einstrich-Keinstrich-Felddienst­uniform (K2), deren Jacke man nicht knöpfte, sondern mit Haken schloss, war dieselbe wie die eines regulären NVA-Soldaten. In die Armee­sprache übersetzt war ich Soldat und besaß damit den untersten aller Dienstgrade, kenntlich gemacht mittels eines glatten Schulterstücks bar jeden Zierrats.

Über mir türmte sich eine schier unendliche Hierarchie auf. Sie bestand als erstes aus den Soldaten und Gefreiten (Unter­wacht­meistern) des zweiten und dritten Dienst­halb­jahres. Echte Vorgesetzte waren bereits die Ober­wacht­meister genannten und als Grup­penführer ein­ge­setz­ten Unter­offi­zie­re – freiwillig drei Jahre dienende, daher grundsätzlich zu verach­tende ehemalige Oberschüler zumeist. Es folgten der un­glaub­lich ungebildete und ordinäre Spieß im Range eines Haupt­wachtmeisters mit zehn Jahre wäh­­ren­dem Kontrakt, ein »Zehn­ender« also, welcher vor versammelter Mannschaft je­man­dem drohte, er würde ihn solange schleifen, bis er »glänzt wie ein Judenei«; dann der stroh­dumme und linkische Zugführer namens Zuck im Range eines Leutnants, der sich dem Verein für fünf­und­zwanzig Jahre verschrieben hatte und Sätze von sich geben konnte wie »Stehen Sie hoch!«; schließlich der ehr­gei­zige junge Kompanie­chef Lange und dessen eher fauler Politstellvertreter Kruse, beide im Range eines Haupt­manns.

Jenseits der Kompanie gab es u.a. noch den Kom­man­deur, den Stabs­chef der Bereitschaft (Regiment) sowie den besonders gefürchteten Vau-Nuller, den Ver­bin­dungs­offizier (zur Staatssicherheit). Alle Berufsoffiziere und anfangs sogar die Unter­offiziere mussten sowohl innerhalb des Objekts als auch während eines Ausgangs draußen auf der Straße stets militärisch korrekt gegrüßt werden; geschah das nicht so, wie sie es für ordnungs­gemäß befanden, wurde man zurückgeschickt, um die Prozedur ein­mal, zweimal, zigmal zu wiederholen. Entsprach der Sitz des Käppis oder des Koppels nicht der Dienst­vor­schrift, wurde man ange­schnauzt und musste sein Outfit sogleich korrigieren. Trat man unrasiert oder mit un­genügend gewienerten Stiefeln oder mit nicht blüten­weiß geschrubbter Kragen­binde zum Morgen­appell an, musste man im Laufschritt ins Kompaniegebäude zurück; gelegentlich wurde ein solches Ver­gehen mit Aus­gangssperre oder zusätzlichem Revier­dienst geahndet. Lagen die Bett­wäsche, das Laken und die grauwollene »Schwarz«-Decke nicht zentimeter­genau und bügel­glatt wie vor­ge­geben, wurde das Bett wieder eingerissen, und man durfte es erneut »bauen«, gerne auch mehr­fach. Dasselbe galt für den Inhalt des Spindes, wo die Unter­hemden wegen der gefor­derten glat­ten Kanten und sonstigen Maßverhältnisse mittels ein­gelegter Zeitungen in Form ge­bracht wur­den.

Der Inhalt des Spindes durfte im Übrigen jeder­zeit von Vor­gesetzten kontrol­liert wer­den. Bücher, die nicht aus der DDR stamm­ten, wur­den sofort konfisziert. Auch Tauch­sieder, um sich auf der Stube einen Kaffee zu berei­ten, waren ver­boten und wurden regel­mäßig einge­zogen. Das Führen eines Tagebuches war strengstens unter­sagt; Briefe unterlagen – zumin­dest theo­retisch – der Zensur. Dienstliches durfte darin nicht be­richtet werden; Kontakte ins west­liche Ausland sollten unter­brochen werden. Erhaltene Pakete wurden vor den Augen des Spie­ßes geöffnet, damit er Alkohol und dergleichen beschlagnahmen konnte.

Hatte man kei­nen Hunger, musste man trotzdem mit den übrigen in den Essensaal einmar­schie­ren, denn Essen war Befehl. Befand irgendein Vorge­setz­ter, dass die Einheit nicht ordent­lich mar­schierte oder nicht kräftig genug dabei sang, durfte sie im Laufschritt an den Ausgangsort zurück und dort neu Auf­stellung neh­men und den Weg noch einmal zurücklegen. Das ging natürlich von der Essens­pause ab. Störte den Offizier immer noch etwas, ordnete er Strafexerzieren nach Dienst­schluss an. Ob die Einheit Sommer- oder Winteruniform trug, war nicht vom Wetter abhängig, sondern vom Vertei­di­gungs­mini­ster, der angeblich einen entsprechenden Befehl ausgab.

Während der Freizeit wurde die Stube zentral dauerbeschallt. Taugte die Musik ausnahmsweise etwas, drehte sie garan­tiert je­mand leise; klang sie schrecklich, war an Lektüre oder dergleichen kaum zu denken.

Alle Zivilkleidung war verboten, eigene Unterbekleidung nur soweit erlaubt, wie sie den militärischen Vorschriften entsprach. Immerhin durfte man auch eigene schwarzgraue Socken und lange weiße Unterwäsche besitzen. Ich nutzte meist die Möglichkeit, letztere, wenn sie schmut­zig war, Mut­ter zukommen zu lassen, um nur ausnahmsweise am kollektiven Wäsche­tausch teil­neh­­men zu müssen.

Die einzige Stelle im Spind, wo man per­sönliche Bilder oder der­gleichen anbringen durfte, war an der Innenseite des sogenannten Wert­faches, welches ein sepa­rates Vor­hänge­schloss besaß. Das Innenleben des Spindes regelten akribische Vorschriften für den »Schrank­bau«. Ein Fach war für die Unterwäsche und die Kragenbinden vor­gesehen, eines für Speisen und Ge­tränke, eines für das Waschzeug, ein weiteres für die Sport­sachen. Im untersten Fach, mit Ablage für Schuh­putz­zeug, standen die Stiefel und Ausgangs­schuhe. Im rechten, grö­ßeren Teil des Spin­des hingen auf Bügeln die Uniformen, darüber befand sich noch ein Fach für die Kopfbe­deckun­gen. Auf dem Spind lagen die Schutzausrüstung (Schutz­anzug und Gas­maske), das sogenannte Teil 1 und Teil 2 (die Ausrüstung für den Feld­einsatz) und natürlich der Stahl­helm.

Ging man zu Bett, hatte man die Kleidung vorschrifts­mäßig gefaltet auf einem Hocker mit kleiner quadra­tischer Sitz­fläche abzulegen, die blankgeputzten Stiefel standen darunter. In der Freizeit diente die­ser Hocker als einzige Sitzgelegenheit um den einzigen Tisch im Zimmer. Die Doppel­stock­betten waren aus Eisen. Auf dem bei jeder Bewegung quietschen­den und rasselnden Spiralfeder­boden lagen eine Schaum­gummi­matratze und ein Keilkissen. Der Bett­bezug war blau-weiß kariert, das Bettzeug bestand aus einer eingezogenen und einer am Fuß­ende abgelegten zusätz­­lichen grauen Wolldecke.

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Über Frank Böttcher

Frank Böttcher wurde 1960 in Lutherstadt Wittenberg geboren und lebt seit 1981 in Berlin. In den 1990er Jahren schrieb er Kunstkritiken und dergleichen für den Tagesspiegel. Vor allem aber ist er Verleger des 1995 gegründeten, bis heute existierenden kleinen, aber feinen Lukas Verlags.

2 Gedanken zu “Vom Sinn des Soldatseins – Erinnerungen an den Wehrdienst in der DDR (Teil 1/9);”

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    Es ist mir aufgefallen, dass vor allem Abiturienten zum „Ersatzdienst“ bei der Bereitschaftspolizei eingezogen worden sein müßten. Solche, die keinen dreijährigen Dienst machen wollten. Ist der Eindruck richtig ?

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      Genauso könnte ich es auch erzählen, nur zwei Jahre früher mit dem Weg aus meiner Heimatstadt Potsdam nach Torgelow-Drögerheide, ins „Land der drei Meere: Kiefernmeer, Sandmeer, nichts mehr.“ Mit 17 Jahren hatte ich all‘ meinen Mut bei der Musterung zusammen genommen und habe mich nicht zu den Grenztruppen verpflichten lassen. Nun ging’s zu den „Muckern“, ins Motschützenregiment (MSR) 9. Den Rest hat Frank Böttcher geschildert. Nach 18 Monaten fühlte ich mich mit 20, aussehend wie 15, unglaublich erwachsen. Viermal sollte ich die Kasernen der „Arbeiter-und Bauernarmee“ als Reservist bis 1987 für jeweils drei Monate wiedersehen. Dann ließ man mich in Ruhe und 1989 war dann der Spuk vorbei.

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