Da ich Gluten und Lactose tatsächlich sehr gut vertrage, leiste ich mir dafür im zwischenmenschlichen Bereich hin und wieder einige Intoleranzen, wobei mich mein über die lange Strecke meines bisherigen Lebens erworbener Misanthropismus gelehrt hat, ohnehin soziale Kontakte weitestgehend einzuschränken. Manchmal ist es jedoch, schon aus beruflichen Gründen, unabdingbar, sich darauf einlassen zu müssen. Am Ende des hier Erzählten werden Sie verstehen, was ich meine.
Alles begann damit, dass ich eine euphorische E-mail meines Verlegers und bekam. Darin teilte er mir den Termin eines Treffens in München mit einem wirtschaftlich größeren und erfolgreicheren Verlagshaus mit. Man hätte an meinem zweiten Lyrikband lebhaftes Interesse bekundet. Ich war skeptisch. Wie Sie vielleicht wissen, ist Lyrik nicht gerade ein Verkaufsschlager, ich würde behaupten, Lyrikbände sind die Schmuddelkinder unter den Büchern, mit denen niemand spielen will. Von LORIOT-Texten mal abgesehen. Sie kennen sicher folgende Zeilen aus der Feder des größten deutschen Humoristen, der als ‚Lothar Frohwein‘ Literaturgeschichte geschieben hat:
MELOSINE
Krawehl, krawehl:
Taubtrüber Ginst am Musenhain.
Traubtüber Hain am Musenginst.
Krawehl, krawehl.
Von der 300er Auflage meines letzten Lyrikbandes – „Liebe aus Zigarettenpapier“ – wurden im deutschsprachigen Raum regulär lediglich 38 Stück verkauft, ein paar Exemplare schafften es auf die Wühltische einiger Buchhandlungen, wo sogenannte ‚Mängelexemplare‘ angeboten werden, einige gingen als ‚Werbegeschenke‘’weg. Der Großteil allerdings landete in der Recyclingtonne, einige unter meinem Bett, wo sie mir zum Abstützen des Lattenrostes bis heute gute Dienste leisten.
Es wurde also ein Termin in nicht allzu ferner Zukunft vereinbart. Der Verlag würde die Reisekosten übernehmen, aber nur, wenn ich mit dem Zug anreiste. Es sei Verlagspolicy, Verbrennerfahrten nicht mehr zu unterstützen. Sie wissen schon – Klima und so weiter.
Ich weiß nicht, wie Ihre Erfahrungen mit der Deutschen Bahn sind. Meine bewegen sich zwischen Höllenpforte und Berliner Kanalisation. Nach einem Blick auf meinen Kontostand wählte ich die Möglichkeit ab, auf die Reisekosten zu verzichten und doch mit dem Auto zu fahren. Also buchte ich ein Ticket nebst Sitzplatz für einen ICE. Da ich in meinem nicht mehr jugendlichen Leichtsinn hoffte, unterwegs noch ein wenig schreiben zu können, orderte ich einen Platz an einem Vierer-Tisch. Die Möglichkeit einer Verspätung oder eines Zugausfalls mitbedenkend, entschied ich mich, einen Tag vorher anzureisen und die Nacht bei meiner Mutter nahe München zu verbringen.
So stand ich schließlich am Reisetag auf einem Bahnsteig des Bahnhofs „Südkreuz,“ in dessen Parkhaus ich mein Auto abgestellt hatte. Außer mir hatte sich so ziemlich die gesamte Einwohnerschaft von Castrop-Rauxel entschieden, von Berlin nach München zu fahren. Kurz gesagt: Der Bahnsteig war brechend voll. Die Bahn hatte sich zur allgemeinen Belustigung dazu durchgerungen, die Wagenreihenfolge umzudrehen, wodurch ich natürlich im völlig falschen Abschnitt stand. Das entgegengesetzte Ende des Bahnsteigs zu erreichen, war aus den genannten Gründen unmöglich. Ich stieg einfach an der Tür ein, die mir am nächsten war.
Nach Schieben, Drängeln, Koffer in die Kniekehlen gerammt bekommen, von den dem Geruchssinn wenig schmeichelnden Ausdünstungen anderer Mitreisender umweht, fand ich etwa auf Höhe von Jüterbog meinen Sitzplatz an einem Tisch. Natürlich war der inzwischen okkupiert. Von einem Paar mit drei kleinen Kindern, eines davon im Säuglingsalter. Damit nicht genug, das mittlere Kind war auch noch gehbehindert. Eine der beiden Frauen bot mir an, mir das Geld für die Sitzplatzreservierung zu erstatten, aber sie könnten jetzt unmöglich durch den brechend vollen Zug zu ihren Plätzen gelangen. Ich versuchte mein Gesicht zu einem Lächeln zu verziehen, aber wahrscheinlich war es nur eine furchteinflößende Grimasse, denn das gehbehinderte Kind brach in lautes Weinen aus.
„Lassen Sie nur,“ sagte ich mit aller mir zur Verfügung stehenden Güte, „ich nehme gerne später einen Kaffee.“
„Danke,“ erwiderte die andere Frau, „Sie sind sehr freundlich. Kaffee kommt.“ Sie machte Anstalten aufzustehen, aber zum Bordbistro vorzudringen, war ausgeschlossen. Ich machte eine Geste, die bedeuten sollte: Lassen Sie nur, und schob mich weiter durch die Masse Mensch in Richtung Wagonende. Ich fand tatsächlich auf Höhe der Ortschaft Weißenfels einen wirklich ansprechenden Stehplatz vor einer Toilette. Ich konnte mich sogar anlehnen.
Neben mir hatten sich zwei junge Frauen platziert, die sich gerade in einem Flachwitzbattle befanden und dazu übelriechendes Ziebelmett auf Brötchen in sich reinstopften.
„Stehen eine Sachse und ein Schwabe auf dem Eifelturm. Sagt der Sachse: ‚Sach mal, aus was is’n der Turm eigentlich?‘ Sagt der Schabe: ‚Na, Guscheisse.'“
Man brach in überbordendes Gelächter aus.
„Ich hab‘ ’nem Amerikaner ein‘ Stift geklaut. Seidem hat er einen Pencylvenia.“
Beide prusteten eine Zwiebelmett-Brötchen-Mischung auf den Boden.
Noch einen: „Sagt der eine zum anderen: ‚Du, kann ich mal kurz dein Handy haben?‘ Darauf der andere: ‚Budapest.‘ Der erste: ‚Hä, was is’n das?‘ ‚Die Hauptstadt von Ungern.‘
Und so weiter und so fort. Erwähnte ich bereits, dass ich eine ausgeprägte Sozialphobie habe?
Ich hoffte auf den Halt in Erfurt. Vielleicht würde sich ja die Situation entspannen. Sie ahnen es sicher schon: Es entspannte sich so gut wie nichts. Es wollten einfach viel weniger Reisende den Zug verlassen, als solche, die noch zusteigen wollten. Allerdings wurde ich wieder in Richtung der Familie vom Anfang gespült und ich fand ein Gepäckregal, in dem ich es mir gemütlich machen konnte.
Kurz hinter Erfurt meldete sich die Zugbegleiterin über die Bordsprechanlage:
„Sehr geehrte Reisende! Wir begrüßen die zugestiegenen Fahrgäste und wünschen Ihnen eine angenehme Fahrt nach München. Das Bordbistro hält für Sie heute leider keine Erfrischungsgetränke bereit. Ursache hierfür ist ein Ausfall der Kühlung.“
Nun brachen nahezu alle Leute in Gelächter aus, was sich aber schnell wieder legen sollte, denn die Zugbegleiterin fuhr fort:
„Leider wird unser Zug heute umgeleitet. Unser nächster Halt ist Frankfurt am Main. Ursache hierfür sind Personen im Gleis. Voraussichtliche Ankunftszeit 20.23 Uhr. Von Frankfurt haben Sie Anschluss….“
Der Rest der Ansage gingen in einem Lärm unter, gegen den die Trompeten von Jericho wie Einschlafmusik gewesen sein müssen. Neben mir saß eine Frau auf ihrem Koffer und beschwerte sich lautstark:
„Mit den Werktätigen können sie’s ja machen. Sowas hättes bei der Reichsbahn nicht gegeben.“
Offensichtlich war die Dame wie ich selbst in der untergegangenen DDR aufgewachsen. Nun gut, dachte ich. Schau ich doch mal in die Bahn-App und schau nach, wie ich von Frankfurt aus weiterkomme. Tatsächlich könnte ich, Pünktlichkeit vorausgesetzt, einen ICE nach Ulm vom gegenüberliegenden Gleis bekommen, um von dort mit einem Interregio doch schon um 00.27 Uhr in München- Pasing zu sein. Den buchte dann mal fix.
Sie haben nicht wirklich erwartet, dass der Zug zur voraussichtlichen Ankunftszeit in Frankfurt eintrifft, oder? Es war genau 20.59 Uhr. Angesichts dessen, dass ich zu dieser Zeit bereits rund drei Stunden in München hätte sein sollen, eine stolze Leistung. Ich hatte für die rund 500 Kilometer von Berlin nach Frankfurt sieben Stunden gebraucht.
In Frankfurt erwartete mich eine ähnliche Situation wie am Südkreuz. Der Bahnsteig war so voll, dass nahezu niemand aussteigen konnte. Irgendwie gelang es mir dann doch und ich entdeckte nun auch die Ursache für Menschenauflauf: Man wartete auf den ICE nach Ulm. Meine Chancen, mich tatsächlich in diesen Zug zu quetschen, gingen gegen Null. Als jetzt noch eine Ansage verkündete, dass der Zug heute ausfallen würde – „Ursache hierfür ist eine Weichenstörung“ – nahm ich mein ganzes, mir zur Verfügung stehendes Durchsetzungsvermögen zusammen und pflügte durch die aufgebrachte Menschenmenge in Richtung Bahnhofshalle. Ich darf Sie an dieser Stelle daran erinnern, dass meine Menschenintoleranz recht stark ausgeprägt ist.
Was hätten Sie an meiner Stelle getan? Richtig. Sich einen Mietwagen genommen. Klima hin oder her. Ich öffnete die entsprechende App auf meinem Handy. Aber da hatten wohl noch drei andere Leute die Idee: Es gab keine Mietwagen mehr in Frankfurt am Main. Die nächste Station mit einem verfügbaren Fahrzeug befand sich in Aschaffenburg. Ich reservierte den Wagen per App. Jetzt musste ich nur noch nach Aschaffenburg kommen. Es gab eine schnelle Verbindung, die es mir rechtzeitig ermöglicht hätte, bevor die Mietwagenstation um 22.00 Uhr schließen würde. Genau. Hätte! Diese Verbindung mit einem Regio war allerdings 50 Minuten verspätet. Dann pfeife ich jetzt nochmal aufs Klima und fahre mit dem Taxi nach Aschaffenburg. Ein kurzer Check meines Kontostandes riet mir zwar davon ab, aber ich würde der Bahn alles in Rechnung stellen, selbst wenn es mich den Rest meines Lebens kosten würde, das durchzuboxen.
Ich fand eine freundliche Taxifahrerin, die ursprünglich aus Berlin kam. Ich weiß, „freundlich“ und „aus Berlin“ ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Aber in diesem Fall war es wirklich so. Ihre Mercedes E-Klasse wäre jedenfalls schnell genug, sollte es drauf ankommen.
„Schaffen wir das bis 20.00 Uhr?“
„Mach dir keen Kopp, allet fein.“
Wir einigten uns auf einen festen Fahrpreis, was ich sehr entgegenkommend fand, denn eigentlich würde man auch die Rückfahrt mit 50% berechnen. Los geht’s.
Es gibt den schönen Ausdruck, „fährt wie eine gesengte Sau,“ und das traf hier mehr als zu. Rita, meine Fahrerin, kniete sich mächtig rein. Ihre Schimpfkanonaden schienen eine Art telepathische Wirkung auf die anderen Verkehrsteilnehmer zu haben. Denn ich hatte den Eindruck, dass nach einem mit Verve herausgestoßenen: „Verfatz dir, Alter,“ die Adressaten sehr schnell dieser Aufforderung Folge leisteten. Auf der Fahrt über die A3 rief ich meine Mutter an, die schon sehnsüchtig auf meine Ankunft wartete und das Essen zum Warmhalten zwischen den Stepdecken im Gästezimmer deponiert hatte. Ich teilete ihr mit, dass ich es nicht vor zwei Uhr in der Nacht schaffen würde, bei ihr zu sein.
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber wir kamen 21.52 Uhr vor der Mietwagenstation zum Stehen.
„Sieht nich sehr belebt, eher wie uff’n Friedhof,“ merkte Rita an, „ick warte mal hier, kieck ma, ob noch jemand da ist.“
Natürlich war niemand mehr da. Geschlossen. Verrammelt. Einfach zu. Mit hängenden Schultern trottete ich zurück in die Geborgenheit von Ritas E-Klasse.
„Und jetzte? Wohin geht’s, Meister?“
„Ich habe keine verdammte Ahnung. Aber ich muss morgen früh in München sein.“
„Könnt‘ ick dir ’n Spezialpreis machen.“
Ich lehnte dankend ab, denn 620 Euro würde mir die Bahn niemals erstatten. Da hätte meine Tochter noch jahrelang nach meinem Ableben Rechtsanwälte zu beschäftigen.
„Und?
„Setzen Sie mich einfach am Bahnhof ab.“
„Kein Ding.“
Ich kontaktierte erneut die App, um eine Möglichkeit der Weiterfahrt mit dem Zug zu recherchieren. Es gab 00.22 Uhr einen Regio der 05.35 Uhr in Würzburg wäre, von wo ich um 07.06 Uhr mit einem ICE nach München weiterfahren könnte. Ich würde mit dieser Verbindung wirklich noch meinen Termin schaffen. Sogar noch ‚fünf Minuten vor der Zeit – ist die wahre Pünktlichkeit‘, wie Sie ja wahrscheinlich wissen.
Haben Sie schon einmal versucht, auf dem Bahnhof Aschaffenburg um 22.35 Uhr etwas zu essen und zu trinken zu bekommen? Nein? Dann versuchen Sie es auch gar nicht, denn es wird Ihnen nicht gelingen. Mein kleiner Abstecher in einen in der „Frohsinnstraße“ – diese Straße heißt wirklich so – gelegenen Dönergrill führte schließlich zum Erfolg. Im Ambiente eines bis in den letzten Winkel extrahell ausgelechteten Operationssaales orderte ich einen Döner:
„Mit alles?“
„Mit alles.“
„Sauce – scharf, Kräuter, Knoblauch?“
„Scharf.“
Der vegane Döner – Klima und so weiter – war in der Tat nur mit reichlich scharfer Sauce zu genießen. Der halbe Liter Cola, den ich dazu in mich reinschüttete, half auch sehr.
Der Regio RE 54 verließ auf die Minute pünktlich den Bahnhof. Er war insgesamt vielleicht mit noch etwa 50-60 anderen Nachgestalten besetzt, die sich alle einen Scheißdreck um die anderen Reisenden scherten. Das empfand ich als äußerst angenehm. Ich setzte mir Kopfhörer auf und suchte bei Youtube nach dem neuen Beitrag meiner Lieblings-True-Crimerin „What Padi Loves,“ die im realen Leben Patricia Glas heißt und aus Regensburg kommt. Ihr Art das „R“ so perfekt zu rollen, wie man es rollt, kommt man aus diesem Landstrich, hat eine exzellente Einschlafwirkung auf mich. In dem Fall, den Padi vorstellte, ging es um eine Frau, Ellis, deren Hochzeitsreise in eine abgelegene Hütte an einem See in den Rocky Mountains führt. Zu ihrer Überraschung hat ihr frisch angetrauter Ehemann, Roger, auch seinen besten Freund in diese Hütte eingeladen. Zu MEINER Überraschung hatte Ellis nichts dagegen, dass ich auch dort auftauchte. Ganz im Gegenteil. Ich hatte schon längst vermutet, dass Ellis heimlich in mich verschossen war. Und tatsächlich wusste es Ellis so einzurichten, dass sie viel Zeit mit mir allein verbrachte. Roger wurde am zweiten Tag krank und musste das Bett hüten. Ellis und ich gingen fischen und wandern, brieten die Fische über offenen Feuern und tranken reichlich Bier. Eigentlich trinke ich gar kein Bier, aber mit Ellis war das etwas ganz anderes. Am fünten Tag bemerkte ich, dass Ellis nachts in meinen Schlafsack schlüpfte. Unsere heißen Leiber befanden sich in einer schlängelnden Schlängelei, die ein Nest aus Nattern vor Neid erblassen lassen würde. Offensichtlich sollte sich jetzt unsere Leidenschaft für einander endlich bahnbrechen und es ‚zum Äußersten‘ kommen, wie meine Oma gesagt haben würde. Störend empfand ich allerdings, dass Ellis ihrer erotisch aufgeladenen Stimmung mit heftigen Ruckelbewegungen an meiner Schulter Ausdruck verlieh. Mir war bis dahin nicht klar, dass Schulterruckler für manche Frauen Teil des Vorspiels sein könnten. Als sie dann noch „Zug endet hier“ in mein Ohr hauchte, war es mit der Lust vorbei und ich sprang auf.
Vor mir stand die Zugbegleiterin und bellte:
„Zug endet hier. Grund dafür ist, dass die Lokführerin ihre Arbeitszeit bei Weiterfahrt überschreiten würde. Aussteigen.“
Bitte was? Wo war ich überhaupt? Wie spät war es? Ich sah aus dem Fenster und sah nur mein eigenes Spiegelbild. Ein abgehärmter, alter weißer Sack, dessen Gesicht einem alten Turnschuh Kokurenz gemacht hätte, in der Mitte von Nirgendwo. Die Beatles haben überigens darüber einen sehr schönen Song gemacht: „He’s a real nowhere man, sitting in this nowhere land, makaing all his nowhere plans for nobody.“
Als ich den Zug verließ, stand mit mir ein Häufchen trauriger Nowhere-Männer und Nowhere-Frauen um 01.16 – der Zug hatte 20 Minuten Verspätung (wahscheinlich wegen Dunkelheit im Gleis) auf dem zugigen Bahnsteig von Langenprozelten.
Kennen Sie Langenprozelten? Nicht? Laut Wikipedia ist Langenprozelten, das sich an der Main-Spessart-Bahn befindet, für sein, westlich der Gemarkung liegendes Pumpspeicherwerk und für pompöse Fronleichnamsumzüge bekannt. Der Ort wurde 1978 nach Gmünden am Main eingemeindet. Ich stand vor dem ehemaligen Bahnhofsgebäude, das längst außer Betrieb war, dessen Gibelseite aber ein im Stile naiver Volkskunstmalerei aufwändig restauriertes, drolliges Fresco zierte: Ein Zug mit Dampflokomotive und ein überlebensgroßer Schaffner, der dem Zug gerade das Ausfahrtssignal gibt.
Meine mitgestrandeten Mitreisenden waren alle mit ihren Handys beschäftigt und suchten nach einer Möglichkeit diesem ungastlichen Ort zu entfliehen, als der Zugführer erschien und verkündete, dass ein Bus uns nach Würzburg bringen würde. Wann dieser Bus allerdings einträfe, sei nicht bekannt.
Inzwischen gesellte sich die Lokführerin zu uns. Ihr schlug eine äußerst feindselige Stimmung entgegen, denn schließlich hatte sie das Desater ja zu verantworten. Als sie der Gruppe, um sich zu rechtfertigen, mitteilte, dass auch sie jetzt nicht wüsste, wie sie nach Hause kommt, tat die Frau mir leid.
Nach und nach trollten sich alle auf die Straße vor dem Bahnhof. Hier sollte ja der Bus ankommen. In Sichtweite war das Hotelrestaurant „Zum letzte Hieb“ auszumachen, das um diese Uhrzeit den selbigen schon bekommen hatte. To make a long story short: Der versprochene Bus ließ sich nicht blicken. Die Zugführerin, der mich so unsanft von Ellis getrennt hatte, glänzte durch Abwesenheit. Wahrscheinlich fürchtete er sich davor, gelyncht zu werden. Ich konsultierte um 04.28 Uhr die Bahn-App und fand heraus, dass in Kürze ein Regio nach Nürnberg fuhr. Ich überwand meinen Misanthropismus und teilte das den anderen mit. Ausnahmslos alle stürmten auf den Bahnsteig. Und wirklich kam der Zug auf die Minute pünktlich.
Sie ahnen es sicher schon. Die Pünktlichkeit verlor sich mit fortschreitender Zeit – Grund dafür jetzt wahrscheinlich zunehmendes Tageslicht im Gleis – und am Ende liefen wir mit 40 Minuten Verspätung in Fürth ein. Ich entschied mich, nochmals ein Taxi zu nehmen, um zum Hauptbahnhof nach Nürnberg zu fahren, wo ich in den RE 1 um 07.33 Uhr zu springen gedachte, der 09.06 Uhr planmäßig in München sein sollte.
Und wieder ahnen Sie sicherlich, dass auch dieser Plan zum Scheitern verurteilt war. Denn der RE 1 fiel an diesem Tag aus. Die Alternative – der ICE 521 – der um 07.58 Uhr fahren sollte und mit dem ich den Termin ebenfalls noch geschafft hätte – Sie erinnern sich vielleicht, dass dies der eigentliche Zweck meiner Abenteuerreise war – hatte 62 Minuten Verspätung. Adé, Schriftstellerkarriere!
In einem letzten Aufbäumen gegen mein mieses Schicksal rief ich meinen Verleger an und schilderte ihm die Situation. Ich fragte ihn beiläufig, ob man den Termin mit dem Verlagshaus nicht vielleicht um ein bis zwei Stunden verschieben könnte.
„Ausgeschlossen.“
„Aber wenn du der Verlegerin erklärst ….“
„Wieso bist du denn nicht gestern schon losgefahren?“
Ohne weiteres Wort trennte ich die Verbindung. Kennen Sie diese berühmte Geschichte von Quincy Jones? Während der Aufnahmen zu „We are the world“ unterbrach er bei dem Part von Cindy Lauper die Aufnahme mehrere Male wegen Störgeräuschen. Als sich herausstellte, dass Laupers Halsketten diese Störgeräusche verursachten, wendete er sich dem Tonmeister zu und sagte über Cindy Lauper: „Was für eine unmögliche Person.“ Genau das trifft auch auf meinen Verleger zu.
Ich bemerkte, dass ich inzwischen selbst zu den Leuten gehörte, über deren Ausdünstungen ich mich vor nunmehr 18 Stunden mokiert hatte. Ich ergab mich meinem Schicksal, orderte über die App ein weiteres Mal einen Zug, aber dieser Zug würde mich wieder nach Hause bringen. Berlin. Südkreuz. Wo mein Auto im Parkhaus stand.
Ich fand einen freien Sitzplatz und versuchte mein Handy zu laden. Richtig, sie haben recht, die Steckdosen, die sich an jedem Sitz befinden, waren an diesem Tag stromlos. Wie sollte ich jetzt erfahren, was mit Ellis und ihren Gefährten wirklich passiert ist. Ich schlich mich in die 1.Klasse. Hier funktionierte alles. Der ICE 602 schaffte es an diesem Tag, bis Bamberg pünktlich zu sein.
„Sehr geehrte Reisende! Unsere Ankunft in Erfurt Hauptbahnhof verzögert sich voraussichtlich um 20 bis 30 Minuten. Ursache hierfür sind Tiere im Gleis.“
Und wissen Sie was? Es war mir egal. Und wenn ganze Herden von Bisons, Kühen oder Gnus sich im Gleis aufgehalten hätten, es war mir ganz einfach „Schnurzpiepe,“ wie Taxifahrerin Rita sagen würde. Um auch das noch zu einem Abschluss zu bringen: Es gab keinen neuen Termin bei dem großen Verlagshaus in München. Immer, wenn ich jetzt ins Bett gehe und die Stapel von Büchern unter meinem Bett sehe, denke ich, dass es wahrscheinlich gut war. Gut, dass der Termin nicht stattfinden konnte. Warum? Das ist eine Geschichte, die ein anderes Mal erzählt werden soll.
Ich ging den Rest der Fahrt mit Ellis, Roger und dessen bestem Freund, der übrigens in Wirklichkeit Sander hieß, erneut auf Hochzeitsreise in die Hütte.
Als ich 90 Minuten zu spät am Südkreuz ankam, wusste ich, was ihnen widerfahren war. Falls auch Sie es erfahren wollen, werde ich es Ihnen nicht verraten. Schauen Sie selbst mal bei „WhatPadiLoves“ auf Youtube vorbei. Und lassen Sie sich von Patrizias rollendem „R“ verzaubern.