PRAG, 29. Januar 1989
Alexander (*) muß ich besuchen, sonst verstehe ich zu wenig von Prag.
Kaum dass ich da bin, schlägt er vor, eine ihm bekannte russische Malerin zu besuchen. „Interesse ?“ Natürlich habe ich Interesse. Unterwegs hält er an einem Tor. „Moment , hier hat ein BiIdhauer sein Atelier, der seit langem aus den Ausstellungen der staatlichen Kunst verbannt ist. Wir sollten uns seine Skulpturen einmal anschauen.“ Die Werke stehen im Hof, hinter einem Metallzaun. Das Türchen in dem selben ist offen und an diesem wiederum steht ein steinerner Kopf. Alexander (*) bleibt stehen und betrachtet das Gestell genau. „Ich glaube. . . . nein ich bin mir sicher, das ist das Portrait Jan Pallachs. Man sagt, der Künstler habe damals die Totenmaske abgenommen und ein Portrait gemeißelt. Es ist die einzige Skulptur Pallachs, schau sie Dir genau an.“
Später, bei anderen Freunden in Prag sehe ich ein gezeichnetes Bild Pallachs auf dem Schreibtisch stehen. Ja – es ist dasselbe Gesicht.
Die Figuren im Hof des Bildhauers sind fesselnd und beängstigend zugleich. Es sind Statuen, meist von Frauen. Die Gesichter sind wunderschön. Eine gewaltige Haarpracht türmt sich bei einer der Frauen über den Schädel und fließt kerzengerade die Rücken hinunter. Aber die Augen… sie sind tot, haben nichts auszustrahlen und den Körpern fehlt das Fleisch. Waden, Arme, Bäuche, Brüste, alles ist nur fetzenhaft angedeutet und teilweise kann man die Knochen erkennen.
Einschub 2024:
Wir sind im Hof von Olbram Zoubek, wie ich später verstehe. Zoubek wird einmal ebensolche Figuren in einem Mahnmal für die Opfer des Kommunismus aufstellen (Bild unten, aus Wikipedia).
„Würdest Du so etwas kaufen ?“ fragt mich Alexander (*) an jenem Januartag 1989. Ich schüttele den Kopf. Es ist zu grausig.
„Es stellt die Krankheit unserer Zeit dar,“ sagt Alexander (*), „was den Figuren fehlt, ist die Widerstandskraft, der Wille zum Überleben. Alle Abwehrkräfte gegen die Zerstörung sind erlahmt und die Verwesung breitet sich aus… Könntest Du Dir vorstellen, dass Menschen so stehen könnten, wie zum Beispiel dieses Liebespaar ?“
Ich schaue mir die beiden an. Sie sehnen sich zueinanander, einer schwankt auf den anderen zu. Tatsächlich:
Nach den Gesetzen des Gleichgewichts werden beide jeden Moment zu Boden brechen. Menschen könnten so nicht stehen, schon gar nicht jahrelang.
Bei der Russin ist es eng, aber gemütlich. Der Tee ist schnell gekocht und ich bestaune die vielen Bilder im kleinen Raum, die der Tapete keine Chance geben. Eine mystische, surrealistische
Fantasie strahlt mich an, die ich später auch in anderen Werken in der Sowjetunion sehen werde. Und immer wieder: ein Licht, das sich mühsam seinen Weg durch die Dunkelheit bahnt. Und alles ist gemalt mit präzisem Pinsel und mit einem Fleiß, für den Künstler im Westen kaum mehr die Zeit haben. Hier ist es der Heiland, der dem Betrachter entgegen scheint, auf einem anderen Bild einfach nur das Licht, das an einer lebensfeindlichen, Sturm umspülten Steilküste strahlt. Irgendwoher ist es gekommen, ein Feuerball im Dunkel. Die beiden unterhalten sich und ich bekomme nur Bruchstücke mit. Es wird spät und wir brechen auf.
Am Abend bin ich im Hotel „Flora“. Alexander (*) hat mir das empfohlen. Eine evangelische Initiative aus Holland hat die Unruhigen Prags zum Treffen eingeladen. Es ist eine legale Veranstaltung, auf der sich hier die Menschen treffen. Über die jüngsten Verhaftungen wird gesprochen und über den Frieden in der Welt. Daheim wollen die Gäste ihre Kirchen daran erinnern, dass es Frieden ohne Gerechtigkeit nicht geben kann.
Einschub 2024:
Doch, Alexander (*) ist ein guter Wegweiser. Nein, einen Oppositionellen würde er sich nicht nennen. Er macht seine Zugeständnisse, ist Mitglied in der Partei, die der ostdeutschen CDU entspricht. Allerdings sei diese Partei um vieles katholischer, sagt er. „Alle in unserer Familie sind da drin, das ist so eine Tradition, weißt Du ?“ Alexanders Bruder wird 15 Jahre später tschechischer Außenminister sein.