Die analoge Ära geht unwiederbringlich zu Ende. Nun hat die Telekom die Telefonauskunft eingestellt. Für uns Ältere eine wehmütige Nachricht. Was aber machen die Menschen, die nicht vernetzt und digital fit sind?
In meinen sehr jungen Jahren war es ein beliebter Zeitvertreib, vom elterlichen Telefon (für Jüngere: ein schwarzes Ungetüm mit Wählscheibe, in das man einen Finger stecken musste, um sie zu drehen, was oft schief ging) die 110 oder 112 anzurufen und einen vermeintlichen Notfall durchzugeben. Was einen wohligen Nervenkitzel hervorrief und risikolos war, weil damals Anruf ja noch nicht zurückverfolgt werden konnten. Oder die 116 für die Zeitansage. Oder die 118 für die Telefonauskunft, um mit einer mehr oder weniger freundlichen „Dame vom Amt“ eine sinnlose Konversation zu betreiben. Was man so machte, wenn man nichts besseres zu tun hatte. Manchmal riefen wir auch Nachbarn an, um sie mit irgendwas zu erschrecken, und hofften, dass sie unsere Stimme nicht erkennen würden.
Wenn man heute irgendwo anruft, um eine Auskunft zu erhalten oder sich zu beschweren, landet man in der Regel bei einem Bot. Euphemistisch „telefonisches Auskunftsystem“ genannt. Mit dem kann man keine Scherze treiben. Denn dann antwortet „es“ (oder sie, meist ist es eine weibliche, abgehakte Stimme): „Ich habe Ihre Eingabe nicht verstanden.“ Und spult stoisch erneut das Auswahlprogramm ab: „Wenn Sie … wollen, wählen Sie die 1,2,3…6.“
Vor einiger Zeit habe ich nach vielen Jahren mal wieder die Telefonauskunft angerufen, weil ich eine Telefonummer auch nach langer Suche nicht im Internet finden konnte (Handynummern sind da ohnehin meist nicht verzeichnet). Es meldete sich ein echter, weiblicher Mensch. Die freundliche Frau konnte mir zwar auch nicht helfen. Aber es war ein schönes Gefühl, dass sich ein Wesen von Fleisch und Blut meines Anliegen annahm.
Eine analoge Mamuschka in Moskau
Das geht nun nicht mehr. Denn die Telekom hat zum ersten Advent die Telefonauskunft eingestellt. Für alle Zeit. Vermutlich, weil sie nicht mehr allzuviele genutzt haben und sie sich nicht mehr rentierte, auch wenn mir bei meinem Anruf als erstes (automatisiert) mitgeteilt wurde, was mich das Auskunftbegehren kostete. Es war nicht wenig.
Man muss dieses weitere Zeichen für das Auslaufen des analogen Zeitalters nicht bedauern. Aber schade ist es trotzdem. Ich erinnere mich noch gut an einen Zusammenprall dieser alten Epoche mit der beginnenden digitalen Ära. Es war beim Abschluss der 2+4-Verhandlungen über die äußeren Fragen der deutschen Einigung im September 1990 im Moskauer, damals noch sowjetischen Außenministerium. Ich war als Reporter der internationalen Nachrichtenagentur Reuters entsandt, hatte eine Art Proto-Laptop dabei und wollte damit eine Eilmeldung versenden zu der seinerzeit wichtigen Fragen, wann das geeinte Deutschland souverän wurde. Nämlich mit dem 3. Oktober 1990 – was selbsternannte Reichsbürger bis heute bezweifeln. Um mich mit der Zentrale in Bonn zu verbinden, hatte ich einen unförmigen Koppler, in den man den Telefonhörer klemmen musste. Auf das Piepsen dieses Geräts musste die angerufene Nummer binnen weniger Sekunden antworten, damit eine Verbindung zustande kam. Mir gegenüber im Außenministerium der damaligen Weltmacht UdSSR saß jedoch eine Mamuschka, die noch von Hand stöpselte und mein auf Englisch und ein paar Brocken Russisch vorgebrachtes für sie merkwürdiges Begehr nicht verstand. Auch nach mehrmaligen Versuchen klappte es nicht. Ich musste meine Eilmeldung daher durchtelefonieren. Immerhin das funktionierte.
In der Jetztzeit, in der es schon lange auch keine Telefonzellen mehr gibt, sind das Erlebnisse aus ferner Vergangenheit. Heutzutage soll man alles selbst machen, möglichst digital. In Hamburg, wo ich bis vor kurzem gewohnt habe, hat der Verkehrsverbund die Möglichkeit abgeschafft, in Bussen bar zu bezahlen. Selbst Ältere, die des Digitalen nicht mächtig sind, sollen jetzt entweder mit ihrem Handy in der App bezahlen oder sich vorher an einem Automaten (sofern es einen gibt, der funktioniert und sie ihn verstehen und der sie) eine Fahrkarte ziehen. Oder zu Fuß gehen.
Ich finde, auch in unserer digitalen Zeit mit ihren vielen Vorteilen sollte es noch analoge Nischen geben. Für die Nicht-digital-Natives. Und alle, die sich Erinnerungen erhalten wollen. Tröstlich immerhin: Die telefonische Zeitansage gibt es weiterhin, wie ich der taz entnommen habe. Unter 01806 10 11 91 erfährt man wie seit Urzeiten, was die Sekunde geschlagen hat. Ich habe es probiert. Die Stimme kommt wie schon immer vom Band. Völlig sinnfrei, weil selbst mein Backofen die genaue Zeit digital anzeigt. Aber irgendwie beruhigend.
PS: Ich frage mich schon lange, was Jüngere mit den Gehirnarealen anstellen, in denen wir Steinzeitmenschen Telefonummern gespeichert haben. Ich weiß heute noch die längst überholten Nummern meiner Eltern und einiger Freunde von damals auswendig. Wofür?
Danke für diesen amüsant wehmütigen Text, Ludwig Greven.
Vor allem die Frage, was mit den überflüssig gewordenen Gehirnarealen anfängt, in den Telefonnummern gespeichert wurden, ist interessant. Bei älteren Menschen werden sie wohl nach und nach verwüsten, bei meiner Tochter beispielsweise werden diese Bereiche einfach durch „Wo hab ich nur mein Handy hingelegt?“ oder „Ich muss noch Klopapier einkaufen“ besetzt.