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Ein Beitrag von Ludwig Greven
Verbraucht, zerstritten, orientierungslos: Nach wochenlangem Führungschaos tritt die SPD bei der Neuwahl nun doch mit ihrem gescheiterten, bei den Bürgern wie in der Partei höchst unbeliebten Kanzler an. Fast könnte man den Eindruck bekommen, sie möchte gar nicht mehr regieren. Das wäre wahrscheinlich fürs Erste auch besser so. Für sie wie das Land.
Denn wenn man es jenseits der tagespolitischen Aufgeregtheiten um den Bruch der Ampelkoalition und dem zuletzt offen ausgetragenen Zweikampf zwischen Olaf Scholz und Boris Pistorius um die Kanzlerkandidatur nüchtern betrachtet, ist die SPD schlicht reif für die Opposition. Seit mehr als 20 Jahren regiert sie, vom schwarz-gelben Intermezzo 2009 bis 2013 abgesehen, nun mit. Zunächst mit Gerhard Schröder und Rot-Grün, dann insgesamt zwölf Jahre in der GroKo unter Merkel, seit Anfang 2022 mit der Scholz-Ampel, jetzt bis zur Neuwahl mit einer rot-grünen Restregierung. Sie hat in der Zeit eine Menge bewegt und bewirkt, aber ebenso (mit) zu verantworten, dass das Land schlecht dasteht, innen-, wirtschafts-, energie- und sicherheitspolitisch. Sie hat in dieser langen Zeit diverse Vorsitzende und Kanzlerkandidaten verschlissen und ist von 40,9 Prozent bei der Bundestagswahl 1998 auf nur noch 14 Prozent in den Umfragen abgestürzt. (Und das muss, wenn man sich die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen anschaut, nicht einmal die Tiefpunkt sein.)
Vor allem aber hat die SPD ihren inneren Halt verloren. Auch das haben die vergangen Tage und Wochen gezeigt. Sie ist damit nicht allein. Überall in Europa haben Sozialdemokraten zu kämpfen und verlieren ihre Basis, von Ausnahmen wie in Dänemark abgesehen. Die US-Demokraten haben gerade krachend gegen Trump und die Republikaner verloren. Der Hauptgrund dies- wie jenseits des Atlantiks: Die meisten Wähler wissen nicht mehr, wofür Sozialdemokraten und andere Parteien der linken Mitte eigentlich noch stehen. Erhalt und Ausbau des Sozialstaats um jeden Preis? Politik für die arbeitende Mitte der Gesellschaft, ihre klassische Klientel, oder für die Abgehängten und Minderheiten? Veraltete Industriepolitik wie Scholz zuletzt mit seinem Wirtschaftsgipfel oder Kampf für eine neue ökosoziale Moderne? Abwehrbereitschaft gegen äußere Bedrohungen vor allem durch Putin-Russland oder die alte Sehnsucht nach Frieden und Abrüstung? Innere Sicherheit und Kontrolle der Grenzen oder Aufnahmen aller Mühseligen und Verfolgten der Welt?
Entlarvend, dass es in dem merkwürdigen Duell Scholz-Pistorius um diese entscheidenden Fragen gar nicht ging. Auch übrigens nicht in den Medien. Sondern allein darum, ob die SPD mit dem amtierenden Kanzler überhaupt noch eine Chance hätte, oder ob sie in ihrer Not diesen quasi stürzen und durch seinen außer in der Innen- und Verteidigungspolitik unbeschriebenen, in der Bevölkerung jedoch hoch eingeschätzten Wehrminister ersetzen sollte. Kennzeichnend dafür war, dass sich in einer seltenen Allianz zwei Anführer des konservativen Seeheimer Kreises und der Linken in der SPD-Bundestagsfraktion gemeinsam für Pistorius als Kandidaten aussprachen, obwohl der bei den Linken in der Partei und Fraktion wegen seines Rufs nach „Kriegstüchtigkeit“ auf Ablehnung stößt. Wie hätten sie dann für ihn Wahlkampf machen wollen?
Pistorius hat sich nun aus dem Rennen genommen, wahrscheinlich auch auf Druck des Parteivorsitzenden Klingbeil und von Fraktionschef Mützenich. Denn je länger der Machtkampf anhielt und die Parteiführung ihn nicht stoppen konnte oder wollte, wuchs auch der Druck auf sie.
Die SPD ist jetzt wieder auf Anfang. Genauer: da, wo sie am vom Scholz selbst herbeigeführten Ende der Ampelregierung an jenem denkwürdigen Abend des 6. November stand. Ohne realistische Chancen, nach dem 23. Februar weiter den Kanzler zu stellen und die Regierung anzuführen. Allein mit der verzweifelten Hoffnung, dass Scholz das Wunder von 2021 wiederholen und die weit enteilte CDU mit ihrem Kandidaten Merz in den verbleibenden Wochen noch einholen könnte.
Sie vergisst dabei, dass Scholz, den die Partei als Vorsitzenden nicht wollte, das vor drei Jahren nur gegen einen schwachen CDU-Kandidaten und eine ebenso schwache Grünen-Bewerberin gelang. Und die SPD mit 25,7 Prozent keineswegs Wahlsiegerin war, nur etwas stärker als die Union.
Von einem solchen Ergebnis können die Sozialdemokraten jetzt nur träumen. Ob sie mit Pistorius ein paar Prozentpunkte mehr hätten holen können, wird man nie wissen. Für ihn ist der Rückzug wahrscheinlich klug. Denn auch wenn ihm der Zuspruch aus der Partei und den Medien sichtlich gefallen hat, dürfte ihm klar geworden sein, dass auch er den Karren nicht hätte aus dem Dreck ziehen und die Wahl nicht hätte gewinnen können. Dann hätte auch er abtreten müssen. So bleibt ihm die Chance, Verteidigungsminister in einer erneuten nicht mehr so großen Koalition unter einem Kanzler Merz zu bleiben und vielleicht sogar Vizekanzler zu werden.
Für Scholz dagegen ist die erneute Kanzlerkandidatur ein zweifelhafter Erfolg. Der immer lautere Ruf nach einem alternativen Bewerber hat die großen Zweifel an seiner Führungsstärke auch in der eigenen Partei offen gelegt. Wie will er dieses Blatt bis zum 23. Februar wenden – allein damit, Merz als Vertreter des „Großkapitals“ hinzustellen, wie es die SPD-Campaneros offenbar planen? Das wird angesichts der äußerst mageren Bilanz von Scholz‘ kurzer Kanzlerschaft nicht reichen. So droht ihm in wenigen Wochen das Ende seiner langen politischen Karriere. Und der SPD eine schmähliche Niederlage, die mit seinem Namen verbunden bleiben wird.
Für das Land wäre statt einer neuerlichen schwarz-roten Koalition nach den langen Merkel-GroKo-Jahren, in denen sovieles liegenblieb, was die Ampelregierung in kurzer Zeit nicht reparieren konnte, vermutlich eine schwarz-grüne Koalition besser. Sie könnte mit Habeck als Vize einen Neuaufbruch versuchen. Und die SPD sich solange in der Opposition erholen.
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor, u.a. für „Politik & Kultur“ des Deutschen Kulturrats und die christliche Zeitschrift „Publik-Forum“. Er war Politikchef der „Woche“, Seite-1-Chef und Reporter der „Financial Times Deutschland“, zuletzt Politik- und Textchef und politischer Autor bei zeit-online und hat zwei Bücher geschrieben über Korruption und die „Skandal-Republik“. Er arbeitet auch als wissenschaftlicher Interviewer für ein sozialwissenschaftliches Institut und kommt so ständig in Kontakt mit Menschen der unterschiedlichsten Schichten.
Vielen Dank für diesen klugen Text.
Als ehemaliges SPD-Mitglied, ich bin ausgetreten, als tatsächlich viele meiner Genossen nicht wussten, wofür die Partei eigentlich steht und der fortgesetzte Verrat an denen, für die die Partei eigentlich Politik machen sollte, schäme ich mich fast für das, was diese Partei in den letzten Jahren angerichtet hat. Die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen initiieren aber nicht etwa ein Innehalten und ein nüchternes Resümee, nein, mit der Sturheit einer Gerontokratie wird der ewig gleiche Psalm von „wir-haben-nur-schlecht-kommuniziert“ heruntergebetet. Dazu kommen solche Personalien wie Esken und Kühnert, deren Attitüde dem Staatsbürgerkundeunterricht in der DDR gleicht. Pistorius hat tatsächlich gut daran getan, sich aus dem Rennen um das Ruder dieser Titanic zu nehmen. Ich habe wenig Hoffnung, dass sich die nur von purer Ideologie getriebene Politik, die sich nicht an den Bedürfnissen derer ausrichtet, die die SPD eigentlich wählen sollten, ändert. Denn: Wer sollte diesen Richtungswechsel einleiten, dafür ist schlicht kein Personal vorhanden. Um dem Gewitterleuchten einer schwarz-grünen Koalition die Kraft zu nehmen, bedürfte es eines neuen Grundsatzprogramms. Das könnte dem Land eine schwarz-grünen Koalition ersparen, unter der der Niedergang dieses Landes, nur ein wenig gebremst, weitergehen würde.
Wie soll der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine durch „Diplomatie“ beendet werden, da Putin bis heute nicht bereit ist, zu verhandeln? Das hat er ja jüngst Scholz bei dessen sinn- und ergebnislosem Anruf wieder deutlich gemacht – und sofort danach die Ukraine mit neuen Terrorangriffen überzogen. Auch mit atomwaffenfähigen Mittelstreckenraketen.
Die SPD ist wie von mir beschrieben nicht deshalb schon lange im Absturz, weil sie den Schulterschluss mit den Verbündeten in der Nato sucht, sondern aus den genannten Gründen, wozu gehört, Deutschland zusammen mit der Union praktisch wehrunfähig gemacht zu haben. Und die Ukraine in ihrem verzweifelten Überlebenskampf bis heute nur zögerlich zu unterstützen. Der Versuch, Scholz als „Friedenskanzler“ darzustellen, ist schon im Europawahlkampf kläglich gescheitert. Und er wird auch jetzt im Wahlkampf scheitern. Für einen Putin-Anbierdungskurs gibt es schon 2 Parteien: AfD + BSW.
Antiamerikanismus ist i.Ü. eine uralte Haltung auf der Rechten wie der Linken. Die USA haben Europa und auch Deutschland zusammen mit den Allierten von den Nazis befreit. Und nur der amerikan. Schutzschirm sorgt bis heute dafür, dass wir in Frieden und Freiheit leben können. Wie wollten Sie eine europäische Sicherheitsordnung mit einem russischen Neo-Imperator erreichten, der ganz Europa bedroht und das alte Zaren- und sowjetische Reich mit aller Gewalt wiedererrichten will?
Des Kanzlers Anruf bei Putin war wohl ergebnislos – aber bestimmt nicht sinnlos. Wie weit wollen Sie denn den Konflikt eskalieren, wenn Diplomatie (Warum schreiben Sie das Wort in Anführungszeichen?) Ihrer Ansicht nach nichts bringt? Bis zum III. Weltkrieg? Was kommt nach Taurus? Nato-Truppen? Was ist der nächste „Game Changer“?
Die Forderung nach diplomatischen Lösungen ist nicht per se ein „Putin -Anbiederungskurs“.
Das wäre sie, wenn man Putins Handeln auch noch gut heißen würde. So steht „Putin – Anbiederungskurs“ für eine unterkomplexe Argumentation auf Strack – Zimmermann – Niveau, nicht weit von S. Lobos „Lumpenpazifisten“.
Eine europäische Sicherheitsordnung mit einem „russischen Neo-Imperator, …, der ganz Europa bedroht und das alte Zaren- und sowjetische Reich mit aller Gewalt wiedererrichten will“, wäre sicherlich kaum möglich, aber Ihre Charakterisierung Putins bzw. der Politik der russischen Regierung kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Entspricht sie doch eher einer uralten und tiefsitzenden Haltung der „Angst vorm Russen“.
Verhandlungen über eine Beendigung des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine kann es erst geben, wenn Putin echte Verhandlungsbereitschaft zeigt. Bislang besteht er, wie offensichtlich auch in dem Telefonat mit Scholz, weiterhin auf einer Kapitulation der Ukraine und ihrer Unterwerung und Eingliederung in die RF. Das ist für die große Mehrheit der Ukrainer unzumutbar. Mit Scholz wird er ohnehin nicht darüber verhandeln, sondern nur mit Trump.
Ich will und kann überhaupt nicht eskalieren. Der einzige, der diesen Krieg seit 2004 ständig eskaliert, ist Putin.
Angst „vorm Russen“ habe ich nicht. Bin mit einer Russin verheiratet. Aber ich fürchte mich wie viele vor der Aggression des russ. Regimes.
Die alles überragende Frage für viele Menschen in diesem Land ist die nach Krieg und Frieden auf unserem Kontinent. Der Einsatz für Diplomatie im Ukraine-Konflikt hat in den Parteien der bisherigen Regierung sowie bei CDU/CSU keine politische Heimat. Dies ist der erste Grund für den Niedergang der SPD.
Der zweite Grund ist, dass die Sozialdemokratie seit den Schröderschen Sozialreformen austauschbar ist, daran ändert auch die aktuelle – durch und durch verlogenene – Diskussion um das Bürgergeld nichts.
Der dritte, damit zusammenhängende Grund: Die europäische Dimension der künftigen sicherheitspolitischen sowie sozio-ökonomischen Herausforderungen, auf die der Autor in seinem Beitrag gar nicht eingeht. Das Projekt, die strategische Positionierung Europas im Kraftfeld USA – China, zu definieren und diese wirtschafts- sozial- und sicherheitspolitisch zu grundieren, ist gescheitert. Europa ist Opfer der eigenen durch forcierte Erweiterung herbeigeführten Überdehnung. Daran trägt Deutschland als europäischer Hegemon die Hauptschuld.
Die intellektuelle Kapazität sowie der politische Scharfsinn, ein Konzept der europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands zu entwerfen, das notwendiegerweise einen höheren Grad an europäischer Autonomie zur Folge hätte, fehlt der SPD völlig, geschweige denn, der politische Gestaltungswille. Sinnbild dafür: Ursula von der Leyen und auch Boris Pistorius.
Mit der vom Autor favorisierten schwarz-grünen Regierung bleibt Deutschland / Europa Handlanger für die Umsetzung der strategischen Aspirationen der USA. Die dann absehbare verstärkte Eskalation durch ungehemmte Waffenlieferungen an die Ukraine lässt eine solche Konstellation sogar zum Horrorszenario werden, das wohl nur durch das Phänomen im Weißen Haus abgewendet werden könnte. Das, immerhin, wäre eine aparte Wendung!