Der Bundesminister d. Finanzen Olaf Scholz und die Ministerpräsidentin v. Rheinland-Pfalz Malu Dreyer zu Besuch bei BioNTech. CEO Prof Uğur Şahin erklärt an der Tafel die Wirkungsweise von mRNA-Impfstoffen. Wiesbaden 04.12.2020.
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Assimilationsprozesse, wie sie sich im 19. und 20. Jahrhundert in den USA vollzogen haben, wird es in den europäischen Staaten mit ihren Migrantenpopulationen jüngeren Datums nicht geben. In unserer eng verflochtenen Welt von heute reißen die emotionalen wie materiellen Bande in die alte Heimat nicht ab und wechseln immer mehr Menschen oft mehrmals im Laufe ihres Lebens ihren Lebensmittelpunkt. Grenzenlose Kommunikation und mediale Vernetzung, beschleunigte Mobilität und flexible Arbeitswelten bedingen, dass die mitgebrachten Identitäten in der neuen Heimat in transformierter Form über Generationen erhalten bleiben. Parallel dazu schwächt sich mit der Differenzierung der Aufnahmegesellschaften der Assimilationsdruck auf Migranten ab. Multiple Zugehörigkeiten wie wir sie in Deutschland bei Migranten aus der Türkei und der ehemaligen UdSSR heute schon beobachten, werden im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts zum Regelfall werden. Den europäischen Gesellschaften erwachsen daraus immense Chancen, aber auch Herausforderungen.
Zwei Türken zieren die Titelseite der ersten Ausgabe des SPIEGEL im neuen Jahr: Prof. Uğur Şahin und Dr. Özlem Türeci. Zwei Türken? Seit Monaten entspinnt sich in sozialen Medien eine Kontroverse über die nationale Einordung der BioNTech-Gründer. Zwei Positionen stehen sich dabei gegenüber. Vor allem deutsche Diskutanten bezeichnen das Paar als „Deutsche“ oder „Deutsche türkischer Herkunft“ und sind perplex, dass sie dafür Kritik von türkischer Seite ernten: „Wenn wir euch nicht Deutsche nennen, kommt der Vorwurf der Ausgrenzung und wenn wir es tun, ist es auch verkehrt!“ Die Retourkutsche lautet: „Bei Kriminellen und Obsthändlern sprecht ihr von Türken, die Erfolgsstory türkischer Wissenschaftler vereinnahmt Ihr als eine deutsche.“ Hierauf folgt von deutscher Seite, dass Şahin und Türeci in Deutschland aufgewachsen sind und ausgebildet wurden. Die türkische Replik: „Uğur Şahin, Sohn eines Arbeiters bei Ford in Köln bekam eine Empfehlung für die Hauptschule. Er hat es nicht dank deutscher Förderung, sondern allen widrigen Umständen zum Trotz geschafft.“
Diese Debatte mutet antiquiert an. So gut wie kein Teilnehmer wirft die Frage auf, als was sich diese Personen selbst sehen, wie sie sich bezeichnen. Dabei zählt die Eigendefinition der Menschen und nicht was wir in ihnen sehen. Verwunderlicher noch: Die Wenigsten ziehen in Betracht, dass sich die beiden Positionen nicht ausschließen müssen, beide ihre Richtigkeit haben und Teile eines komplexen Ganzen beleuchten könnten.
Zwei Seelen in einer Brust
Warum immerzu „entweder oder“? Kann und darf es nicht „sowohl als auch” sein? Was, wenn Menschen sich zugleich als Deutsche und Türken, und zwar beides im vollwertigen Sinne, begreifen, ganz ohne einen Bindestrich dazwischen oder den Zusatz “-stämmig”?
Zugegeben, ein befremdliches Konzept. Wir alle sind so konditioniert, dass Menschen nur eine nationale Zugehörigkeit haben können. Bayer und Deutscher, Russe und Jude, Pole und Berliner sind akzeptierte Doppelidentitäten. Deutscher und Russe oder Deutscher und Türke scheint ausgeschlossen, wenn es um das nationale Selbstverständnis geht. Dabei lebt hierzulande eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die genau so fühlt. Und das mit gutem Recht, da sie gleichermaßen in zwei Kulturen zu Hause und mit der alten wie der neuen Heimat innig verbunden sind. Aus Sorge, von „Ihresgleichen“ als abtrünnig und von ihrem deutschen Umfeld als potenziell illoyal eingestuft zu werden, sprechen sie das nicht offen heraus, vermeiden Festlegungen und betonen je nach ihrem Gegenüber mal ihre Herkunftsnationalität und mal, dass sie Deutsche sind. Erst allmählich wird ihnen bewusst, dass sie mit ihren multiplen Identitäten die Vorhut einer künftigen Normalität sind.
Migration im Vergleich: Deutschland und die USA
Heimat und Identität sind zentrale Themen der Postmoderne. Der Diskurs findet aus der Perspektive der ethnischen Mehrheit statt. Das aber greift zu kurz, denn mittlerweile hat in Deutschland jedes dritte Kind unter zwölf Jahren mindestens ein Elternteil mit nichtdeutschen Wurzeln. Linke und Grüne stellen sich dieser Realität, ohne ein Konzept zu haben, wie aus der neuen Vielfalt ein neues solidarisches Ganzes erwachsen soll. Wiederum ist unter Konservativen und Sozialdemokraten die Hoffnung verbreitet, dass sich die Zugezogenen assimilieren und sukzessive in der Mehrheit aufgehen werden. Wie beim Bundesminister a.D. Thomas de Maizière würde nur mehr der Name an ihre Herkunft erinnern.
Zur Assimilation wird es nicht kommen. Eine homogene deutsche “Leitkultur“, in die sich die Neubürger einfügen könnten, gibt es auf nationaler Ebene nicht. Und starke regionale Kulturen, wie sie manchenorts wie in Bayern existieren und die eine Sogwirkung auf Zuwanderer ausüben, lösen sich auch infolge der deutschen Binnenwanderung mehr und mehr auf. Unsere Gesellschaft ist immer weniger uniform und weist eine immer größere Diversität von Lebensentwürfen auf. Die deutsche Sprache und Verfassungstreue sind die einzig objektiven Maßstäbe der Anpassung. Wichtiger noch, Migration und Identitätsbildung vollziehen sich unter anderen Vorzeichen als im 18. Jahrhundert in Preußen oder im 19. Jahrhundert in den klassischen Einwanderungsländern.
Die Situation der Türken oder Polen in Deutschland unterscheidet sich wesentlich von der jener Menschen, die 1900 in Ellis Island ankamen. Jene, die einst aus Irland oder Gallizien aufbrachen und die beschwerliche Reise über den Atlantik antraten, taten das in dem Wissen, dass es kein Zurück gibt. Sie verkauften ihr wenig Hab und Gut und brachen ins Ungewisse auf, um Krieg, Hunger, Pogromen und Ständegesellschaften zu entfliehen. Im Zielland galt es aus dem Nichts eine Existenz aufzubauen. Anfangs hielt man am ethnischen Erbe fest und organisierte sich in Landsmannschaften. Da aber die Anpassung an die dominante White-Anglo-Saxon-Protestant („WASP) Kultur dem sozialen Aufstieg dienlich war, schritt die Assimilation mit der dritten und vierten Generation rasch voran. Spätere Generationen sollten sich auf das Erbe der Väter besinnen und beginnen, dieses mit Paraden auf der 5th Avenue zu zelebrieren. Doch schwang da viel Sehnsucht mit und fehlte es an Substanz. Die Ethnizitätsforschung hat für dieses Phänomen den Begriff „symbolic ethnicity“ geprägt.
Die Heimat war weit weg. Ein German-American der dritten Generation kannte Deutschland nur aus den Erzählungen des Großvaters. Ein Italoamerikaner der zweiten Generation hätte anno 1950 eine fünftägige Schiffreise auf sich nehmen und ein Jahressalär aufwenden müssen, um das Land seiner Vorfahren zu besuchen. Noch in den 1950er Jahren hatten viele Haushalte in den USA keinen Telefonanschluss. Bis Anfang der 1990er Jahre waren Telefonate ins Ausland ein teures Vergnügen. Ein Franko-Amerikaner kommunizierte postalisch mit seinen Verwandten in Lille. War er des Briefeschreibens müde, brach der Kontakt ab. Heute begeben sich Amerikaner nach Europa, um nach ihren Wurzeln zu suchen. Die Bande sind seit langem irreversibel gekappt.
Bereits die Arbeitsmigration der 1960er Jahre in die Bundesrepublik nimmt sich anders aus. Anatolien, Kastilien oder Kreta waren zwar arm aber keine Schauplätze von Massensterben wie Irland während der großen Hungersnot. Es gab dort keine Pogrome mit unzähligen Toten wie im zaristischen Russland. Die Gastarbeiter aus dem Süden kamen in der Absicht, nach einigen Jahren des Arbeitens zurückzugehen, um daheim ihren Familien mit dem in der Fremde Ersparten ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Ausgangslage und Motivation der Migration nach Europa sind zentral für unser Verständnis der weiteren Entwicklungen. Nach etlichen Jahren in Deutschland kehrte in den 1980ern eine Mehrheit der Portugiesen und Spanier und immerhin eine halbe Million Türken zurück. Ab 1990 zeitigte die Wanderungsbilanz mit der Türkei ein Negativsaldo; mehr Menschen aus Deutschland ließen sich in der Türkei nieder als umgekehrt.
Eine Mehrheit der Türken und Jugoslawen blieb. In den 1980er und 1990er Jahren kamen Flüchtlinge aus dem Libanon, Bosnien und dem Kosovo. Ihnen folgten Russen, Juden und Aussiedler aus der UdSSR sowie polnische Einwanderer und unlängst Menschen aus Afrika, Afghanistan und Syrien. Die Republik wurde immer bunter. Generationen wuchsen in Deutschland heran. Doch gilt nicht nur für die türkische Community, dass sich noch die dritte Generation mit der Idee trägt, es wenigstens testweise für ein, zwei Jahre in der „Heimat“ zu versuchen. Auch deshalb bleibt der mentale Bruch mit der alten Heimat aus und legt man Wert darauf, dass die Kinder mit der Kultur der Vorväter vertraut sind.
Die Vitalität der Bande
Die Verbindung zur alten Heimat reißt nicht ab. Deutschland und Südeuropa trennt kein Ozean. Auch bevor es Billigflieger gab, war die Heimat für kleines Geld per Auto in zwei Tagen erreichbar. Heute sind die Bande noch stärker. Viele haben Grundbesitz in der alten Heimat. Die türkische Familie in Essen hat ein Domizil in Urla, die Bremer Polin ein Apartment in Poznán, der Ulmer Russe eine Datscha an der Wolga. Einmal im Jahr begibt man sich in die Heimat und hält sich vier Wochen dort auf. Die Kinder schließen Freundschaften mit ihren Altersgenossen. Die Jugend unternimmt Wochenendreisen nach Izmir, Kiew oder Zagreb. Der Flug kostet 200€ und dauert drei Stunden.
In Deutschland geborene jüdische Kinder besuchen Sommercamps in Israel, wo ihnen die Geschichte des jüdischen Volkes und Hebräisch beigebracht wird. Türken partizipieren an Sommerakademien in Izmir. Vor 40 Jahren war ein Auslandsstudium das Privileg von Sprösslingen betuchter Eltern. Heute greifen Studenten auf ein Dutzend Programme zu, um ihr Studium mit zwei Semestern an der Themse und hiernach einem Jahr am Bosporus abzurunden.
Zurück in Deutschland wird täglich mit den Liebsten in der Heimat kommuniziert. Über WhatsApp erfährt man in Echtzeit die Neuigkeiten in der Familie. Abends wird zwischen ARD und TRT, RTL und RTR hin und her gezappt. 25 russische Sender kann man bei uns per Satellit empfangen. Der Zugang zu 32 türkischen Sendern via Kabel kostet 10 Euro im Monat. Ein Klick und der Migrant hat Bella Italia in seinem Berliner Wohnzimmer. Der letzte Skandal in Krakau? Was plant der Trainer der serbischen Nationalelf? Hat Putin Krebs? Von Aachen bis Antwerpen, von Lyon bis Luzern ist man bestens informiert. Wer den Medien aus der Heimat misstraut, nutzt das Web, um politisch auf dem Laufenden zu sein. Im Auto hört man während der Fahrt zur Arbeit das deutsche Inforadio, auf dem Nachhauseweg Radio Russkij. Die alte Heimat ist stets präsent. Wer auf Social-Media-Kanälen unterwegs ist, weiß, dass die hiesigen Türken die Außenpolitik der Türkei genauso engagiert diskutieren wie Angela Merkels letzte Rede zu Corona.
Alternierende Lebensmittelpunkte
Mehrere hunderttausend Rentner türkischer, griechischer etc. Herkunft mit Wohnsitz in Deutschland leben de facto in ihren Ursprungsländern, wo sie neun Monate im Jahr in ihrem Sommerhaus verbringen. Im Winter besuchen sie ihre Kinder in Deutschland und betreuen die Enkel. Hier aufgewachsene Türken rotieren beruflich zwischen Berlin und Antalya, zwischen Köln, Istanbul und Rom. Vier Jahre hier, sechs Jahre dort. An die 50.000 qualifizierte junge Türken, meist mit deutschem Pass, zogen zwischen 2004 und 2014 in die Türkei. Für die deutsche Wirtschaft war das kein Verlust. Viele heuerten bei deutschen Firmen in der Türkei an und haben sich im Zuge ihrer Expansion im türkischen Markt bewährt. Nicht wenige wechselten später zu den Konzernzentralen in Deutschland. Seit 2015 gibt es den umgekehrten Braindrain. Berlin zieht Softwareexperten aus der Türkei an, die allerlei Programmiersprachen beherrschen, die deutsche Sprache aber noch erlernen müssen. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen.
Zehntausende junge Italiener, Spanier etc. haben sich nach der Finanzkrise von 2008 in die Bundesrepublik begeben und hier eine Beschäftigung aufgenommen. Wer in Frankfurt die Büros von Firmen der New Economy aufsucht, wähnt sich im UNO-Hauptquartier in New York. Viele werden zurückkehren, sobald sich der Arbeitsmarkt in ihren Ländern aufhellt; nicht selten mit einem deutschen Partner und in Deutschland gezeugten Kindern im Schlepptau. Viele werden sich bei uns einrichten und Familien mit Gleich- oder Andersnationalen gründen. Manche werden nach Taiwan, Island etc. weiterziehen.
Die Dynamik von Migration, Folgemigration und Rückmigration erfasst auch Deutsche, die von Prag bis Kapstadt rund um den Globus zahlreich leben und arbeiten. Diese Menschen sind überall zuhause. Hieraus wird es immer mehr Europäer mit den „wildesten“ Mischungen geben. Im Jahre 2040 wird sich die Tochter eines deutschkoreanischen Vaters und einer äthiopischen Mutter mit einem jungen Mann vermählen, dessen 2009 aus Italien zugewanderter Vater eine Berliner Türkin getroffen und geheiratet hatte.
“Master of the Two Worlds“
Gegenüber der babylonischen Vielfalt, die uns noch bevorsteht, ist der Fall Şahin & Türeci einfach gelagert. Sie sind „Master of the Two Worlds“, Menschen, die glänzend zwei Kulturen meistern. Şahin und Türeci gehen mit deutschen wie türkischen Medien eloquent um. Im Spiegel-Interview bestechen sie durch Authentizität. Auf die Frage, ob ihr Migrationshintergrund ein Thema für sie sei, erläutern sie, dass bei BionTech Menschen aus 60 Nationen arbeiten. Sie achten die Gefühle ihrer Landsleute. Şahin bemerkt: „Ich verstehe, dass wir mit unserem Erfolg gerade für Türken inspirierend sind. Insofern haben wir eine gewisse Verantwortung, damit vernünftig umzugehen und den Menschen etwas mehr von uns zu verraten, als wir es normalerweise tun würden“. Türeci ergänzt: „Identifikation ist nichts Negatives, nur die Politisierung von Identität ist schädlich. Das wollen wir unbedingt vermeiden.“ Im türkischen TRT sagt Şahin auf Deutsch: „Es ist schön, dass wir uns als Türken mitfreuen, wenn jemand (unter uns) was schafft“. Türeci bezeichnet sich in einem früheren Interview mit einer britischen Zeitung als „preußische Türkin“.
Kurzum, das Paar bekennt sich zu seiner türkischen Identität. Auch können wir annehmen, dass ihre Würdigung als deutsche Wissenschaftler durch die hiesigen Medien ihrem Selbstverständnis nicht zuwiderläuft. Sind Şahin und Türeci Patrioten? In ihrem Tun sind sie es in beiderlei Richtung! Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, ihr Unternehmen in den USA, wo die Bedingungen für ihre Branche besser sind, zu starten. Sie hatten es sich aber zum Ziel gesetzt, dass die exzellente deutsche Grundlagenforschung auch ihre Verwertung in Deutschland findet. Mit BioNTech haben sie einen deutschen Akteur von Weltrang geschaffen. Ihr Impfstoff wird Deutschland Devisen und Steuereinnahmen einbringen. Nachwuchswissenschaftler werden ihrem Vorbild folgen und vermehrt in Deutschland gründen, statt wie bisher mit ihrem Knowhow abzuwandern. BioNTech überließ es seinem Partner Pfizer, mit den USA und der EU über die Lieferung seines Impfstoffs zu verhandeln. Im Falle der Türkei sprach Şahin persönlich mit dem türkischen Gesundheitsminister. BioNTech plant Investitionen in der Türkei, damit der Impfstoff vor Ort produziert werden kann.
Es gibt viele Türken an deutschen Universitäten, in deutschen Behörden und Konzernen, die Vorzügliches leisten. Wer kannte noch vor sechs Monaten Dr. Türeci? Dabei wurde sie schon in den 1990er Jahren mehrmals für ihre Forschung ausgezeichnet.
Chancen und Herausforderungen
Dass Migranten unser Leben mit neuen Farben, Klängen und Gaumennoten bereichern, ist unstrittig. Bekannt ist auch, dass Migranten sich durch Tatendrang auszeichnen, neue Wirtschaftszweige begründen und so frischen Wind in die Aufnahmeländer bringen. Die Transformation Europas zu Gesellschaften aus Bürgern multipler Zugehörigkeiten birgt jedoch weit bedeutsamere Potenziale.
Infolge ihrer Verbundenheit mit zwei Ländern, die sie gleichermaßen als Heimat begreifen, liegt Bürgern multipler Identität viel an guten Beziehungen zwischen diesen. Ihr Fühlen und Denken ist darauf ausgerichtet, gemeinsame Nenner herauszuschälen und Win-win-Situationen zu schaffen. Sie bringen das Rüstzeug mit, auch persönlich zu intensiven Beziehungen beizutragen. Für Europa ergeben sich daraus Chancen politischer und ökonomischer Natur.
Im gnadenlosen globalen Wettbewerb um Märkte ist kulturelle Kompetenz ein wichtiger Erfolgsfaktor. Bürger multipler Identität besitzen die Fähigkeit, sich in sehr andersartigen Kulturräumen zu bewegen, zwischen diesen zu vermitteln und ihre Akteure zu vernetzen. Das prädestiniert sie dazu, die weltweiten ökonomischen Beziehungen ihrer neuen Heimatländer zu befördern. Die Exportnation Deutschland kann in besonderer Weise profitieren. Dass das nicht bloße Theorie ist, zeigt ein Blick in die ASEAN-Region, wo ethnische Inder und Chinesen eine wichtige Rolle im Austausch von Kapital und Gütern mit ihren Herkunftsländern einnehmen. Auch die Türkei, die ihrerseits historisch ein Einwanderungsland ist, profitiert von Vielfalt. Den Außenhandelskammern der türkischen Wirtschaft stehen oft Unternehmer vor, deren Ethnizität den Dialog mit den Partnerländern erleichtert.
Bürger multipler Identität können politische Entscheider beraten, fremde Länder und ihre Gesellschaften in all ihrer Komplexität zu begreifen. Sie können helfen, dass Brüssel und Berlin diese in längeren Zeitbahnen denken und ihre Politik weniger am Tagesgeschehen ausrichten und dafür die Veränderungspotenziale dieser Länder mehr in ihr Kalkül einbeziehen. Desgleichen können Zuwanderer die Öffentlichkeit in ihren früheren Heimaten für europäische Befindlichkeiten sensibilisieren helfen und in Krisenzeiten hinter den Kulissen als beidseitig glaubhafte Mediatoren wirken.
Auch das ist keine abstrakte Hypothese, wie uns die Geschichte lehrt. Bei Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Deutschen in den Augen der Welt ein Pariavolk, das einen verbrecherischen Krieg und vielfachen Völkermord zu verantworten hatte. Deutsche und deutschjüdische Emigranten, die in Washington als Berater fungierten und in wichtigen Gremien saßen, hatten einen maßgeblichen Anteil daran, dass Pläne zur kollektiven Bestrafung, wie der von Morgenthau, begraben wurden und die USA den Wiederaufbau und die Integration der Bundesrepublik in die Völkergemeinschaft tatkräftig unterstützt haben.
Dass Deutschland das Potenzial aus seiner Vielfalt und den Mehrfachidentitäten seiner Bürger heben kann, ist an Voraussetzungen geknüpft. Die Annahme der Realitäten ist die erste. Es gilt, die Illusion zu begraben, die Zugezogenen könnten vollständig assimiliert werden. Es gilt, Misstrauen gegenüber Mehrfachzugehörigkeiten abzulegen. Überhaupt gilt es zu erkennen, dass sich das auf maximale Konformität angelegte klassische Modell des Nationalstaats überlebt hat und sich postmoderne Gesellschaften aus Individuen mit multiplen Identitäten zusammensetzen, wobei die ethnische Herkunft nur eine von vielen Koordinaten ist. Auch gilt es zu verstehen, dass es im wohlverstandenen deutschen Interesse ist, das Bedürfnis der Migranten nach Pflege ihres Erbes zu respektieren und sie in diesem Bestreben zu unterstützen, um so ihre kulturellen Kompetenzen zu erhalten.
Es sind die mit einer guten Ausbildung, die mit einem akademischen Werdegang oder einem Berufsabschluss, die eine vielseitig vitale Identität entwickeln und diese für sich und ihr Umfeld produktiv auszugestalten vermögen. Nicht wenige Migranten haben weder das eine noch das andere. Mit letzterem Personenkreis, der sich von seinen Wurzeln löst und zugleich den Anschluss an die deutsche Gesellschaft nicht findet, sind Probleme in unseren Metropolen verknüpft. Darunter leidet die Akzeptanz von Vielfalt unter der angestammten Bevölkerung, zumal die Medien tendenziell die problembehafteten Aspekte der Migration ins Zentrum ihrer Berichterstattung rücken. Damit auch dieses Segment zu einem Gewinn für unsere Gesellschaft werden kann, muss beim Nachwuchs angesetzt und die Bildung der Jugend gefördert werden. Darüber wird seit Jahrzehnten geredet, ohne dass viel passiert ist. Bildung ist der Schlüssel für Mobilität. Soziale Mobilität wiederum ist die beste Gewähr gegen Abschottung und Radikalisierung.
Im Umgang mit Mehrfachidentitäten braucht es Weisheit. Denn mit ihnen können irritierende Loyalitäten einhergehen, zumal dann, wenn staatlich verordnete Gesinnungen in den Herkunftsländern, der hiesigen freiheitlichen Ordnung zuwiderlaufen oder gar Ausdruck einer Systemkonkurrenz sind. Ein russischstämmiger Unternehmer, der bei uns Beschäftigung schafft, mag in Bezug auf Russland ein leidenschaftlicher Putin-Anhänger sein. Ihn deshalb zu stigmatisieren wäre kontraproduktiv. Statt Migranten frontal für ihre Präferenzen anzugehen, müssen wir den beschwerlicheren aber viel lohnenderen Weg gehen, die Werte und Vorzüge der pluralistischen Demokratie allen Mitgliedern unseres Gemeinwesens Tag für Tag aufs Neue nahezulegen.
Plädoyer für einen zeitgemäßen Patriotismus
Wenn wir wollen, dass Neubürger nicht der Strahlkraft autoritärer Regimes erliegen und sich lieber für Öffnung in ihren Ursprungsländern stark machen, dann müssen wir noch grundsätzlicher ansetzen und ein Verständnis vom Deutschsein und der deutschen Nation begründen, der durchlässig ist, somit die Inklusion und hierüber die Identifikation der Zuwanderer mit Deutschland und dem freiheitlichen System bestärkt. Zuwanderer sehen sich nämlich regelmäßig mit einer schizophrenen Haltung konfrontiert. Weiterhin sind nicht wenige Deutsche der Auffassung, dass Deutschsein „gefühlt“ von der Abstammung abhängt. Dieselben Leute verübeln es einem Berliner Italiener, wenn dieser im Finale einer Europameisterschaft, bei der sich Deutschland und Italien begegnen, mit der italienischen Elf mitfiebert. Überspitzt gesagt: „Du wirst nie ein Deutscher sein, benimm dich aber gefälligst wie einer.“
Auch in Zeiten der Globalisierung bleibt der Nationalstaat alternativlos, wenn es gilt der Bevölkerung in einem bestimmten Territorium ein Maximum an Rechtssicherheit, Teilhabe und Wohlstand angedeihen zu lassen. Damit Vielfalt und multiple Identitäten nicht zulasten der Kohäsion im Nationalstaat gehen, braucht es neben einem erweiterten Begriff von der deutschen Nation ein zeitgemäßes patriotisches Narrativ.
Der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder, der Stolz auf „Made in Germany“ und „dass man“ wieder zu einem gefragten Mitglied der Völkergemeinschaft geworden war, waren die Pfeiler des Patriotismus in der jungen Republik der Nachkriegsära. Über die letzten 40 Jahre kamen der Stolz auf das Grundgesetz, die soziale Marktwirtschaft und die Vergangenheitsbewältigung sowie der Stolz auf die Revolution von 1989 und die friedliche Wiedervereinigung hinzu und erfüllten den deutschen Patriotismus mit mehr Substanz.
All das hat weiterhin seine Berechtigung. Um dem gesellschaftlichen Wandel und den neuen Realitäten Rechnung zu tragen, brauchen wir nunmehr eine „dritte erweiterte Auflage“, der den deutschen Patriotismus um solche Werte wie die Wertschätzung von Diversität anreichert und diese zu deutschen Tugenden deklariert. An Anknüpfungspunkten für eine neue identitäts- und sinnstiftende Erzählung fehlt es der deutschen Geschichte nicht. Einzig, wir müssen uns der Zukunftsrelevanz dieser Aufgabe gewahr sein und uns seiner annehmen. Die dunklen Kapitel der deutschen Geschichte dürfen kein Hemmnis darstellen, ja machen es vielmehr geboten, sich dem Thema „nationale Identität und patriotisches Bewusstsein unter freiheitlich-demokratischen Vorzeichen“ zu stellen.
Ich giesse ungerne Wasser in einen Wein, sehe mich hier trotzdem veranlasst, das zu tun:
Natürlich haben Sie, Herr Uzun, mit Ihrem beitrag in allen Fragen Recht. Sie haben nur vergessen, eine dafür lebensnotwendige Voraussetzung zu benennen – Frieden plus positive Beziehungen zwischen den (je anderen) Staaten multipler nationaler Identitäten.
Gibt es Krieg oder auch nur erhebliche Spannungen zwischen z.B. den nationen Deutschland und der Türkei, funktioniert das Konzept für Deutsch-Türken fast automatisch nicht mehr, wenn sie sich beiden herkunftsstaaten gleichermassen verbunden fühlen.
Und da ich nicht an den ewigen Frieden glaube …
Gruss,
Thorsten Haupts
Antwort Teil 1
Werter Herr Haupts,
multiple Identitäten und die damit einhergehende Verbundenheit mit zwei Heimaten, da bin ich bei Ihnen, sind Belastungen ausgesetzt, wenn die Beziehungen zwischen den Staaten der Bezugsländer nicht gut sind.
Und im Falle eines Krieges zwischen diesen ist eine Zerreißprobe für Menschen multipler Identität unvermeidlich. Auch da pflichte ich Ihnen bei.
ABER:
1.
Beginnen wir mit dem Extremfall eines Krieges.
Der letzte „deutsch-türkische“ Krieg liegt 300 Jahre zurück. Deutsch-türkisch in Anführungszeichen weil die Kriege des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit zwischen dem Heiligen Römischen Reich (eigentlich Österreich) und dem Osmanischen Reich keine Kriege zwischen Nationalstaaten waren.
Schon gar nicht waren diese Kriege zwischen Nationen. Es waren dies die Kriege dynastischer Imperien.
Die deutschen Kurfürsten waren im Grunde recht froh darüber, dass der Kaiser in Wien sich mit den Osmanen rumschlagen musste. Die osmanische Führung wiederum hat die Reformationsbewegung und die protestantischen Fürsten unter der Hand mit viel Gold unterstützt. Es gab also keine klaren Fronten und keinen nationalstaatlichen Konflikt.
1870 und 1914 haben sich Franzosen und Deutsche als Nationen gegenüber gestanden.
Einen deutsch-türkischen Krieg bei dem sich die Völker bekriegt hätten, hat es hingegen nie gegeben.
Im I. Weltkrieg waren das Deutsche und das Osmanische Reich Verbündete. Im II. Weltkrieg verblieb die Türkei neutral.
Und seit 1949 sind die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Republik bei allen konjunkturellen Tiefs und Hochs unterm Strich durchweg konstruktiv und zum Vorteile beider Seiten verlaufen.
2.
Deutschland und die Türkei sind heute beide Mittelmächte.
Beide Länder verfügen nicht über die militärischen Kapazitäten um in weit entfernten Geographien fullscale Kriege führen zu können.
Die Türkei hat Interessen und Ambitionen im östlichen Mittelmeerraum. Ankara hat aber definitiv keine geopolitischen Ambitionen in Mitteleuropa.
Deutschland hat Interessen im östlichen Mittelmeer. Berlin hat aber keine geopolitischen Ambitionen in Südosteuropa oder dem Vorderen Orient.
Ertuğrul Uzun; ‚Der letzte „deutsch-türkische“ Krieg liegt 300 Jahre zurück.‘
… werter E.U., der letzte ‚deutsch-türkische‘ Krieg ist noch im Gange. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat schon vor Jahren einseitig, mit der Umwandlung der Hagia Sophia in Istanbul in eine Moschee, den kulturellen Krieg gegen den Westen erklärt. Und die richtet sich nicht nur gegen Christen, sondern auch und vor allem gegen Juden und den Staat Israel. Nicht umsonst hat Erdoğan in seiner ersten Erklärung zur aktuellen Entscheidung gesagt, dass diese «Wiederbelebung” die Befreiung der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem einläuten solle.
Erinnern will ich auch an den deutsch-türkische Freundschaftsvertrag zwischen dem nationalsozialistischen Deutschen Reich aus 1941 und an die Kriegserklärung der Türkei Deutschland anno 1945 als ‚Eintrittskarte‘ für die UNO.
… unter uns, ‚aufklären‘ Sie die ‚Multiplen Identitäten‘ Ihrer Heimat, vom Völkermord an den Armeniern, der Vertreibung der Griechen und der kulturellen Unterdrückung der Kurden. Damit haben Sie, meine ich, genug zu tun.
Sehr geehrter Herr Uzun,
ich halte Krieg auch für extrem unwahrscheinlich. Wesentlich wahrscheinlicher – und bei der Fortsetzung der eingeschlagenenen Wege der Türkei und Deutschlands (als Teil der EU) halte ich wachsende, massive, Spannungen. Ob die derzeitige und voraussichtlich auch zukünftige türkische Führung noch wirklich weiss (und danach handelt), dass sie Mittelmacht ist 🙂 …
Letztlich wollte ich auch nur verdeutlichen, wo die natürlichen Grenzen multipler nationaler Identitäten liegen. Und meine persönliche Überzeugung ist, dass wir das Zeitalter der Nationalstaaten noch lange nicht verlassen haben. Wachsende internationale wirtschaftliche und kulturelle Verflechtungen sind – das hat die Vorgeschichte des ersten Weltkrieges eindrucksvoll bewiesen – nicht einmal ein ernsthafter Hemmschuh für einen mörderischen Krieg.
Gruss,
Thorsten Haupts
Hallo Herr Uzun,
Ihrem Beitrag kann ich in allen Punkten zustimmen. Und er hat mich veranlasst, Benedict Andersons „Die Erfindung der Nation“ einmal wieder zur Hand zu nehmen. Dem Text vorangestellt ist ein Zitat von Daniel Defoe (Aus „The True-Born Englishman“):
„Thus from a Mixture of all kind began,
That Het’rogeneous Thing, An Englishman:
In eager Rapes, and furious Lust begot,
Betwixt a Painted Briton and a Scot:
Whose gend’ring Offspring quickly learnt to bow,
And yoke their Heifers to the Roman Plough:
From whence a Mongrel half-bred Race there came,
With neither Name nor Nation, Speech or Fame.
In whose hot Veins new Mixtures quickly ran,
Infus’d betwixt a Saxon and a Dane.
While their Rank Daughters, to their Parents just,
Receiv’d all Nations with Promiscuous Lust.
This Nauseous Brood directly did contain
The well-extracted Blood of Englishmen…“
Superb. Dieses Buch werde ich bestellen. Vielen Dank.
Lieber Herr Uzun,
wenn alles gut geht, geht alles gut – das leuchtet ein. Und ich hoffe, dass es gut geht.
Die „Pflege des Erbes“ könnte man doch auch als die Indoktrination von durch und durch deutschen Kindern verstehen, damit Herr Papa vor der Familie im Urlaub nicht dumm dasteht. Die Loyalitätskonflikte werden ja selten zwischen Deutschen und Migranten ausgetragen, die finden doch eher im Kopf von Migranten statt, die mit der neuen Wunderwelt der Grenzenlosigkeit nicht zurechtkommen. Deutsch geboren, Deutsch aufgewachsen, Deutsch denkend – die meisten müssen erst von den Eltern zu Russen, Türken oder Serben gemacht werden. Die „Pflege des Erbes“ ist so authentisch wie ein „Herr der Ringe“-Rollenspiel. Migranten neigen zu einem gewissen Konservativismus – kein Wunder, ihr Erbe ist der aktuelle Stand des Herkunftslandes der 80er oder 90er Jahre. Wenn man den Dingen ihren Lauf lässt, dürfte doch Assimilation der Normalzustand sein. Es kostet eine nicht unerhebliche Anstrengung, um nach drei Generationen immer noch Türke, Russe oder Serbe zu sein. Es sollte natürlich jedem freistehen, diesen Weg zu gehen.
„Mit letzterem Personenkreis, der sich von seinen Wurzeln löst und zugleich den Anschluss an die deutsche Gesellschaft nicht findet, sind Probleme in unseren Metropolen verknüpft.“
Mit Verlaub, ich glaube, da machen Sie es sich zu einfach. Ich konnte bei dieser Gruppe nie ein zu wenig an türkischen Fahnen, russischen Trinkgewohnheiten oder serbischen Verschwörungstheorien feststellen. Dafür einen eklatanten Mangel an Bewusstsein, dass nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder noch hier sein werden und, dass die Anerkennung des Onkels aus Diyarbakir zur Hochzeit mit einer „guten“ Frau das nicht ersetzen kann. Ich weiß nicht mehr, wie vielen Freunden ich Händchen halten musste, weil die „Pflege des kulturellen Erbes“ eine Leben mit der Frau, die sie liebten, unmöglich machte.
„Die Annahme der Realitäten ist die erste.“ Ja, dazu gehört auch die Überlegung, was die eigentliche Funktion einer Wurzel ist.
Werter Herr Stevanovic,
heutzutage wachsen in Deutschland Kinder mit nichtdeutschen Wurzeln nicht „durch und durch als Deutsche“ auf.
Dafür sind die Kindergärten und Grundschulen ethnisch allzu heterogen. Bei unter 8-Jährigen beträgt der Anteil von Kindern mit mindestens einem Elternteil nichtdeutscher Herkunft bereits 45%. Und dieser Anteil wird in den kommenden Jahren noch deutlich weiter zunehmen.
Auch geht der Wunsch, an dem Erbe der „Vorväter“ anzuknüpfen keineswegs nur von Eltern aus, die verbissen an der mitgebrachten Identität festhalten möchten.
Die Kinder selbst bringen eine ganz natürlich kindliche Neugier für die Sprache und Kultur ihrer Vorfahren mit. Ich kenne viele Familien, die überhaupt keinen Wert darauf gelegt haben, dass die Kinder mit der ethnischen Identität aufwachsen. Spätestens mit der Pubertät haben die Kinder begonnen, zu insistieren, einen direkten Bezug zum ethnischen Erbe ihrer Eltern und Großeltern herzustellen.
Und anders als die türkischen Kinder, die in den 1980er Jahren in Deutschland aufwuchsen, haben die türkischen Kinder von heute deutlich bessere Kenntnisse ihrer Muttersprache (Stichwort mediale Vernetzung).
Nicht zuletzt:
Ich habe, auch anbetracht ihres Kommentars zu meinem vorherigen Artikel, den Eindruck, dass Sie die Erfahrungen der serbischen Community und Ihre persönlichen Erfahrungen allzu pauschal auf andere Migranten übertragen.
Im serbischen Fall gab es mit dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens, dem Zerfall der einstigen Heimat, ein Trauma und einen Knick in der „serbischen Seele“, der viele Serben in Deutschland veranlasst, nicht mehr an der ethnischen und nationalen Identität festzuhalten.
Alles serbische nimmt sich infolge dieser bitteren historisch-politischen aber sehr persönlich erlebten Erfahrung dermaßen „schmerzhaft“ aus, dass man die Kinder damit nicht „belasten“ und am liebsten im Deutschen aufgehen möchte.
Analoge Erfahrungen und „Brüche“ sind bei Türken, Griechen, Russen, Polen etc. etc. nicht gegeben.
Ja, bei mir persönlich liegen Sie da natürlich richtig und der Bruch war hart. Ich nehme das Angebot, dass mir Deutschland gemacht hat, gerne an und mach das Beste daraus. Wenn mein Bestes dann nicht mehr serbisch ist, dann ist es halt so. Deswegen bilde ich mir auch ein, eine Antenne für freiwilliges Interesse entwickelt zu haben. Für Kopftücher, die nicht immer freiwillig getragen werden. Für Ehen, die Liebe auf den ersten, aber eben arrangierten Blick sind. Das sind ja alles Probleme, die es da draußen durchaus gibt. Toxische Maskulinität ist keine Erfindung. Woher kommen den solche Rollenbilder her? Aus dem integrativen deutschen Kindergarten bestimmt nicht. Abgesehen von der Frage, was ein richtiger Türke oder Serbe sein soll. Laut meinen kurdischen Freunden ist dieser Punkt selbst in der Türkei nicht unumstritten. Ich glaube nicht, dass serbische Erfahrungen da etwas besonderes sind. Wenn ich die verschiedenen Fraktionen der Syrer höre, scheinen auch andere Gruppen ähnliches durchgemacht zu haben. Ehrlich gesagt, kommt mir Ihr positives und bruchfreies Bild der Herkunft sehr türkisch vor. Nicht nur deutsches Volksempfinden sollte einer kritischen Betrachtung unterliegen, sondern auch das mitgebrachte. Und dass durch die Vernetzung, die sozialen Medien, auch die soziale Kontrolle, die soziale Indoktrination, weitaus effektiver als in den 80ern ist, sieht man an der explosiven Zunahme an nationalistischem Merchandising – Wappen der Grauen Wölfe, serbische Freischärler-Embleme, albanischen Adlern, russischen Flaggen. Es reicht eben nicht mehr zu wissen, woher man kommt, Kontakt zur Familie zu halten und die Feiertage zu ehren. Was man so in den 80ern als Wurzelpflege empfand. Man ist heute politisierter und weitaus unentspannter. Das sind keine Wurzeln, die gepflegt werden, das sind hochpolitische Bilder, die nach Deutschland importiert werden und wenn Sie mich fragen sollten, sind die alle gar nicht alt oder tradiert, sondern hoch aktuell. Identität sind ja nicht nur Schuhe, die vor der Wohnung ausgezogen werden. Ich war auf vielen türkischen Hochzeiten, auch in den 80er/90ern. Dass Straßen gesperrt werden und ein türkisches Fahnenmeer entrollt wird, ist keine Tradition, das ist in der Form neu und eine direkte Rückkopplung der Tagespolitik. Ich sehe da kein selbstverständliches Nebeneinander von Identitäten, ich sehe Druck, der nicht von der deutschen Identität kommt. Aber an der Stelle drehen wir uns im Kreis. Migration kann einen Neuanfang bedeuten, muss es aber nicht. Am Ende des Tages wird das jeder für sich entscheiden müssen. Ich finde es gut, dass Sie darüber schreiben. Das Thema ist heiß, nicht nur im Verhältnis gegenüber den Biodeutschen, auch unter Migranten ist es nicht unumstritten.
Ein Beitrag, der die Migrantenthematik sehr gut analysiert und auf den Punkt bringt.
Es ist wünschenswert, dass die Bundesrepublik das Potential erkennt und nutzt.
Es ist wünschenswert, der Gesellschaft in den Medien, dieses Potential aufzuzeigen. Leider sehe ich einen sehr langen Prozess vor uns.
Wenn selbst die Eliten, wie z.B. Journalisten von sonst als seriös benannten Tageszeitungen wie die FAZ zu Mesut Özil’s Transfer zu Fenerbahce Istanbul mit großen Lettern im Überschrift schreiben, Mesut Özil, ein in Deutschland geborenes, aufgewachsener, in allen Jugendnationalteams der Bundesrepublik erfolgreich gespielter und 2014 mit der A-Nationalmannschaft Weltmeister gewordener deutscher Spieler sei nun nach Hause gekehrt, zeigt das deutlich, wie weit der Weg noch ist.
Özil selbst hat keinen Hehl daraus gemacht, daß für ihn die Verpflichtung bei Fenerbahce in der Tat ein „heimkommen“ ist.
Und auch als er noch bei der deutschen Nationalmannschaft (heute: Die Mannschaft) spielte, hatte man immer den Eindruck, er spiele nur dort, weil er mit der türkischen Nationalmannschaft kaum zu einer WM, geschweige denn zum Titel gekommen wäre.
Darin unterschied er sich deutlich von anderen Nationalspielern ausländischer Herkunft, wie z.B. Gerald Asamoah. Dem nahm man immer ab, daß er stolz ist, das deutsche Trikot zu tragen.
… eine Nation – gemeinsame Sprache, Religion, Geschichte, gemeinsames Territorium und ‚multiple Identitäten‘ auf der gleichen Seite – puuuh, was für ein Widerspruch. Das ist sozialistische Utopie.
Warum? Ideologie und/oder ‚ethnische Identität‘ werden immer in den Vordergrund gestellt, wenn es um eine Anerkennung ihrer Rechte (über andere) oder um Zugang zu Ressourcen geht.
In Deutschland finden sich Minderheiten im Art. 3 GG. Mehr brauchen ‚wir‘ nicht. Nicht einmal die doppelte Staatsbürgerschaft. Und dann gibt es ja noch das Völkerrecht.
Wer in meinem Artikel eine sozialistische Utopie ausmacht, hat meinen Artikel nicht verstanden.
Auch wird in diesem Artikel nicht die Forderung erhoben, Migrantenpopulationen einen Minderheitenstatus einzuräumen.
Und hinsichtlich Zugang zu Ressourcen ist anzumerken, dass in der Bundesrepublik Deutschland dies entlang sozioökonomischer und nicht ethnischer Zugehörigkeiten erfolgt.
Der türkische Arbeitslose sitzt mit dem deutschen Arbeitslosen in einem Boot und sieht sich womöglich bei Die Linke gut aufgehoben.
Die türkische Angestellte sitzt mit der deutschen Angestellten im gleichen Boot und sieht sich womöglich bei VERDI, IG METALL etc. gut aufgehoben.
Analog der türkische, russische etc. Unternehmer, der seine Interessen bei der FDP oder der Mittelstandsvereinigung der CDU gut vertreten sieht.
Ich möchte dem blonden Hans nahelegen, den Artikel erneut durchzulesen und zu verstehen.
E.U.. ‚Auch wird in diesem Artikel nicht die Forderung erhoben, Migrantenpopulationen einen Minderheitenstatus einzuräumen. … Und hinsichtlich Zugang zu Ressourcen ist anzumerken, dass in der Bundesrepublik Deutschland dies entlang sozioökonomischer und nicht ethnischer Zugehörigkeiten erfolgt.‘
… von ‚Minderheitenstatus‘ einräumen habe ich nicht geschrieben. Fällt mir nicht im Traum ein. Ich habe darüber geschrieben, dass ‚multiple Identitäten‘ in einer Nation sich widersprechen. Das ist ein Fakt.
… und mehr Beweis für eine bereits sozialitische Wirklichkeit in der ‚BRD‘ gibt es nicht, wenn der Zugang zu Ressourcen ’sozioökonomisch‘ erfolgt. Wobei es für ‚Sozioökonomie‘ noch nicht einmal eine Definition gibt. Im Übrigen werden und sind Quotenreglungen in Politik und Wirtschaft sehr wohl ’sozioökonomisch‘ und damit auch ethnisch begründet. Aber sie sind eben auch grundgesetzwidrig.
… und bitte, ‚derblondehans‘ – ein Wort und klein geschrieben.
„Ich habe darüber geschrieben, dass ‚multiple Identitäten‘ in einer Nation sich widersprechen. Das ist ein Fakt.“ Das ist kein Fakt, sondern eine bloße Behauptung Ihrerseits. Und es ist fernliegend, von einer „sozialistischen Wirklichkeit“ hierzulande zu sprechen.
@Fr. B.
… na ja, Fr. Bednarz, dann schauen Sie sich ‚multiple Identitäten‘, zum Beispiel, in der Türkiye Cumhuriyeti als ‚eine Nation‘ an. Brüder und Schwestern sind Türken und Kurden ganz bestimmt nicht. Ich könnte unzählige Beispiele in aller Welt benennen.
(Von Deutschland und seine Historie will ich gar nicht erst anfangen.)
@Fr B.
… im Übrigen sind die ‚multiple Identitäten‘ in einer Nation bereits im Mainstream angekommen.
Wer ist denn nicht stolz, dass wir seit den späten 1960er jähren zunehmend (seit einem Jahr deutlich weniger) unter demokratischen Verhältnissen leben können, ein gutes Gesundheitssystem haben, gute Schulen und Universitäten, einen robusten Sozialstaat und gute Aufstiegs Chancen. Auch ist die Generationen- und Geschlechter-Gerechtigkeit sehr viel besser als je zuvor. Rassismus gibt es zwar, aber eine solche Haltung wird allgemein verurteilt. Desgleichen Antisemitismus. Auch die Polizei ist – von Ausnahmen abgesehen – relativ gut ausgebildet. Die schwere Kriminalität ist niedrig.
Wir haben also gute Gründe patriotisch zu sein.
Monika+Frommel, d’accord.
Auf diese Ankerpunkte eines deutschen Patriotismus habe ich ja auch in meinem Artikel Bezug genommen und hinzugefügt, dass wir nunmehr eine „dritte erweiterte Auflage“ benötigen, in der dieser um Werte wie Diversität und den Stolz auf derseselbigen ergänzt wird.