Von Enzio Rességuier de Miremont
„Denken wir neu“ war der Slogan der FDP zur Bundestagswahl. Unser Gastautor setzt sich mit der Frage auseinander, ob die Kritik des Parteivorsitzenden Christian Lindner an den während der Schulzeit stattfindenden Demonstrationen, des liberalen Gedankens würdig ist. Und ob die Erben der Aufklärung und von 1848 für eine sich politisierende Jugend nicht andere Botschaften parat haben sollten.
Gut zwei Dekaden ist es her, dass der heutige FDP-Chef genau in jenem Alter war, in dem viele Anhänger der „Fridays-for-Future“- Bewegung sich aktuell befinden. Während die adoleszenten Einlassungen bei den meisten undokumentiert verblieben sind, verstand Lindner es, sich 1997 als selbstbewussten Jungunternehmer medial zu verkaufen. Mit Kuhmuster auf der bis zum Nabel gebundenen Krawatte und reichlich Gelim blonden Haar verriet der damals achtzehnjährige Schüler der 13. Klasse des städtischen Gymnasiums in Wermelskirchen bei Remscheid den geneigten Fernsehzuschauern eines Jugendmagazins beim Sender „Deutsche Welle TV“ seine Lebensweisheiten, darunter die Folgende:
Lindner anno 1997 – der Jungunternehmer in der Limousine
„Viele haben nicht das Selbstbewusstsein, einem 50-jährigen Geschäftsführer zu sagen: ‚Das was Sie gemacht haben bisher, das sind überkommene Strukturen. Die haben in der Vergangenheit Erfolg gesichert, können ihn in der Zukunft aber nicht mehr garantieren. Sie müssen umdenken.'“ Wer den Beitrag mit Lindner gesehen hat, dürfte wenig Zweifel an dessen unerschütterlichen Selbstbewusstsein haben. In einer geliehenen Limousine sitzend verriet er sein Erfolgsrezept: „Wenn man im Gespräch überzeugt durch Leistung, gerade auch durch Kompetenz, die nicht akademisch domestiziert ist, dann sagt der Kunde: Wir haben den richtigen Fang gemacht.“ Die Schulzeit betrachtete Lindner als Zeitverschwendung im Hinblick auf seine Herausforderungen als Jungunternehmer. Das klang so „Wenn man in der Schule sitzt, und man sitzt seine Zeit ab, weiß, dass man telefonieren, den Kunden besuchen oder Arbeiten erledigen müsste, dann kommt man sich so vor, als sei die Zeit durch den Schredder gelaufen.“
Nun sollte man Lindner nicht alte Haltungen vorwerfen. Es war auch der Zeitgeist der späten 90er, in der viele mehrmals täglich die Kurse am „Neuen Markt“ im Videotext checkten und schnelles Geld und Verkaufstalent als das Maß der Dinge betrachtet wurden. Freilich ändern Menschen sich nicht selten im Laufe der Jahre. Manchmal können nur wenige Ereignisse, neue Gedanken, Erfahrungen oder auch nur vereinzelte Eindrücke ein komplettes Umdenken bewirken. Wie Lindner sein „Scheitern“ in eigenen wirtschaftlichen Belangen mit der „Moomax GmbH“ im Nachgang betrachtet, zeigte seine fulminante Rede im Januar 2015 im nordrhein-westfälischen Landtag.
Lindner, der FDP-Chef und der Ruf nach Kllimaschutzexperten
Wenn Lindner heute davon spricht, dass „Profis“ an der Klimadebatte zu beteiligen seien, so ist ein Widerspruch zu früherem Denken insofern erkennbar, als Lindner sich damals gegen Akademiker gewendet hat, jetzt aber akademische Experten fordert. Wörtlich sagte er jüngst: „Von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen“. Das stimmt, ist aber auch nur ein Teil der Wirklichkeit. Herbert Grönemeyers Lied aus den Achtzigern „Kinder an die Macht“ ist in die Realität nicht umsetzbar. Kindern und ihren Ideen zuzuhören indes sehr hilfreich.
Man muss dem FDP-Chef allerdings zu Gute halten, dass er auf die Kritik entgegnete, ihm gehe es lediglich darum, dass andere – Techniker und Ingenieure – die Klimaziele umsetzen müssen.
Forderungen zu stellen ist in der Tat leicht. Sie umzusetzen weitaus schwieriger. Es gilt einen Ausgleich zwischen den Forderungen der Jugend nach ökologischem Bewusstsein und der Umsetzung der Klimaziele von Paris auf der einen Seite und einer nüchternen Analyse der Machbarkeit, der Wirtschaftlichkeit, des Wohlstands und dem Erhalt der Arbeitsplätze auf der anderen Seite zu finden. Dies ist die zentrale Aufgabe der politisch Verantwortlichen. Eine sofortige Umsetzung avisierter Ziele ist allein aufgrund der langen politischen wie legislatorischen Prozesse in einem demokratischen Rechtsstaat meistens nicht möglich, mindestens oftmals auch nicht ratsam. Nicht zuletzt der überhastete Atomausstieg nach der Fukushima-Katastrophe hat gezeigt, dass schnelle Lösungen nicht unbedingt die besten sein müssen.
Zum Gesamtbild der FDP gehört dazu, dass die FDP Heft des (Mit-)Handelns im Sinne der Möglichkeit, in politischer Verantwortung an der Umsetzung der Klimaziele mitzuwirken, aus der Hand gegeben hat, als sie sich im Herbst 2017 nach der Bundestagswahl aus der möglichen „Jamaika-Koalition“ verabschiedete.
Lindners zweite Äußerung zu Thunberg
Wirklich problematisch ist dagegen eine weitere Äußerung Lindners zur Thunberg-Bewegung. Lindner sprach kurz nach seiner ersten Stellungnahme davon, er sei „fassungslos, dass Schulschwänzen von manchen Politikern heiliggesprochen wird“ – hier handele es sich schließlich um Regelbruch.
„Schulschwänzen“, „Heiligsprechung“, „Regelbruch“. Drei Worte, drei vermeintliche Wirkungstreffer gegen all jene, die die von Greta Thunberg ins Rollen gebrachten Demonstrationen wohlwollend betrachten.
Inhaltlich werfen diese Begrifflichkeiten zwei Fragen auf: Inwieweit sind sie ein bewusstes „Framing“ des glänzenden Rhetorikers Lindner und noch viel wichtiger: Ist die Haltung Lindners und seiner FDP gegenüber dem „Schulschwänzen“ überhaupt genuin liberal?
Es liegt auf der Hand, dass der Begriff „Schulschwänzen“ wegen des Fokus auf die vermeintliche Ordnungswidrigkeit und die angebliche Faulheit der Schüler den Demonstrationen eine negative Konnotation verleiht, der die politische Willensbildung beeinflussen soll. Andere Liberale stießen in ein ähnliches Horn und sprachen angesichts des Hypes um die streikenden Schüler von einer „Klimareligion“, die von „Ökojakobinern“ gelenkt werde. Andere kaprizierten sich auf das jugendliche Alter der Protagonisten, das diagnostizierte Asperger-Syndrom bei Thunberg sowie die Schulpflicht an sich.
Daran erstaunt vor allem, dass ausgerechnet so viele Liberale das Schulschwänzen derart negativ bewerten. Sachargumente vermisst man. Unweigerlich stellt sich die Frage, ob es ihnen wirklich um die Schulpflicht geht oder aber sie selbige als Feigenblatt benutzen, um das eigentliche Thema, also den Klimawandel, weit weg von sich zu weisen.
Regelbrüche und ihre Bewertung durch Liberale und Konservative
Zu bedenken ist nämlich, dass sich die Haltung Liberaler zu Regelverletzungen normalerweise wesentlich von derjenigen unterscheidet, die namentlich für Konservative typisch ist. Konservative schreiben sich gern auf die Fahnen, dass die Einhaltung von Regeln für sie sakrosankt sei. Konservative wirken also glaubhaft, wenn sie die Schulpflicht thematisieren und deren Verletzung für problematisch halten. Aus ihrer Sicht wird so die Büchse der Pandora auch für andere Regelbrüche geöffnet.
Demgegenüber wirkt dieses Argument bei Liberalen, die sich vom Staat lieber weniger als mehr in die persönliche Lebensführung hineinreden lassen wollen und sich auch nur so viele Verbote wie unbedingt nötig wünschen, weniger glaubhaft. Ein Liberaler begegnet kleineren Ordnungswidrigkeiten normalerweise mit einem gewissen Achselzucken, respektiert jedoch die Konsequenzen.
Die allgemeine Schulpflicht dient der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags. Dieser Auftrag richtet sich offiziell auch auf die Heranbildung der Schüler als zukünftige Staatsbürger. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, Schulen eignen sich am besten für den Bildungsauftrag, da „Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichen Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind“. Sinn und Zweck der Schulpflicht ist nicht nur die Vermittlung von Lehrplaninhalten, sondern insbesondere auch die Schulung der Sozialkompetenz der Kinder. Diese wird durch das Lernen in der Klassengemeinschaft und durch gemeinsame Schulveranstaltungen in besonderem Maße gefördert.
Warum die Schulstreiks aus liberaler Sicht zu begrüßen sind
Betrachtet man Schülerstreiks in diesem Lichte, so kann man aus liberaler Sicht Erziehungsberechtigten und Schuldirektoren keinen Vorwurf machen, wenn sie den Schülern gestatten, freitags ein paar Stunden während des Unterrichts zu demonstrieren, zumal ein merklicher Leistungsabfall dadurch nicht zu erwarten ist. Nachdem die Generation der heute 30-jährigen gemeinhin als weitgehend unpolitisch erscheint, ist es grundsätzlich zu begrüßen, wenn die jetzige Schülergeneration sich für politische Themen einsetzt und für diese Generation ist der Klimaschutz nun einmal ein ganz zentrales Thema. Vor allem den Schülern, die allesamt noch an keiner Bundestagswahl teilnehmen konnten, bleibt nichts anderes übrig als ihre Stimme auf von Art. 8 GG geschützten friedlichen Versammlungen hörbar zu machen. Die Kollision zwischen dem Grundrecht der Schüler aus Art. 8 GG und deren in Art. 7 Abs. 1 GG wurzelnden Pflicht zum Schulbesuch kann nur durch Abwägung der Rechtsgüter im Einzelfall zu lösen seien. Die der Schule aufgetragene Erziehung der Schüler zum mündigen Staatsbürger schließt auch die Gestattung zu politischer Betätigung ein, so dass eine Rechtswidrigkeit des Fernbleibens vom Unterricht zu Demonstrationszwecken nicht generell und abstrakt bejaht werden kann.
Wenn aber der „zivile Ungehorsam“ der Schüler einen Regelbruch darstellt, so ist auch noch die Rechtsfolgenseite, also die der Konsequenzen für Schüler oder Eltern, zu betrachten. Diese sind auf Verhältnismäßigkeit zu überprüfen, stark pönalisierende Maßnahmen dürften einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten.
Aus liberaler Sicht sollte das bedeuten: An der grundsätzlichen Schulpflicht, die man als Liberaler achtet, da sie den Zugang zu kostenloser Bildung für alle gewährleistet, wird durch die Schulstreiks keineswegs gerüttelt. Bei der Teilnahmepflicht als Unterkategorie der Schulpflicht kann man vereinzelt Ausnahmen machen. Dass das „Schwänzen“ bei den Demonstranten keineswegs im Vordergrund steht, zeigt sich bereits daran, dass die bisher größte Demonstration in Hamburg stattfand als an jenem Freitag Ferien waren.
Hinzu kommt, dass die Haltung der Schüler keine Respektlosigkeit gegenüber den Regeln darstellt. Die Haltung entspringt der Verärgerung darüber, dass die Regierenden ihrem Versprechen in Bezug auf das Pariser Abkommen nicht ausreichend nachkommen. So werden Pflichten im Kleinen verletzt, um an große Pflichten zu erinnern. Diese Pflichtverletzungen erfolgen nicht aufgrund ideologischer Verblendungen, sondern auf der Grundlage wissenschaftlicher Studien.
Das alles zu befürworten ist eigentlich genuin liberal. Wenn die tatsächliche Haltung in der öffentlichen Wahrnehmung hiervon abweicht, dann sicherlich, weil es andere Gründe für die FDP gibt. Nur: Dann sollte man diese beim Namen nennen. Die Abgrenzung zu den Grünen dürfte eine zentrale Rolle spielen. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die vermeintliche Gefährdung des Wohlstands durch Umweltthemen.
Redlicherweise – und auch das mag ein Kritikpunkt seitens der FDP sein – darf aber auch nicht so getan werden, als sei das Umweltthema komplett verschlafen worden. Es wurde bereits viel getan. Dass dennoch die Gletscher und Eiskappen schmelzen und zehn der letzten zwölf Jahre seit Aufzeichnung der Klimadaten weltweit zu den heißesten gehörten, liegt unter anderem daran, dass es über 200 Länder und Regierungen und über acht Milliarden Menschen auf dieser Welt gibt, die ganz unterschiedliche Interessen verfolgen. Für ein wirkliches Gelingen sollte der Umweltschutz eine globale Aufgabe sein. Die Schwellenländer weisen zurecht darauf hin, dass der Erfolg der Industrienationen auch darauf zurückzuführen ist, dass sie in ihren frühen Jahren (und zu einem guten Teil noch heute) eben keine Rücksicht auf Umwelt und Ressourcen nahmen.
In puncto Umweltschutz sollten alle an einem Strang ziehen: die Staaten, die Industrie durch Innovationen und jeder persönlich durch eine entsprechende Lebensführung. Wenn die Thunberg-Bewegung dies vorantreibt, dann wäre viel gewonnen. Vielen muss bewusst gemacht werden, dass Ökologie und Ökonomie Hand in Hand gehen, denn die wirtschaftlichen Folgen einer zugespitzten Klimakrise wären fatal. Der größte Rückversicherer des Landes, der von jedem Verdacht einer irgendwie gearteten ideologischen Betrachtung weit entfernt ist, hat hieran keinerlei Zweifel.
Klimaschutz ist aber vor allem eines: keine Frage von jung oder alt, von rechts, links oder liberal.
Lindner hat mit allem recht.
Bin mal gespannt, ob diese Demos auch in den Ferien durchgezogen werden.
… Kinder als Schutzschuld-Rammboss für die Durchsetzung fragwürdig politischer Ziele sind illegal. Tiefer kann die ‚Herrschaft des Unrechts‘ in der ‚BRD‘, O-Ton Seehofer, nicht mehr sinken.
Ich sehe sogar mehr als eine Grundgesetzwidrigkeit der ‚Fridays for future‘-Bewegung. Ich sehe einen Vergleich zum absichtlichen Platzieren von Nichtkombattanten in der Nähe von militärischen Zielen, um den Gegner vor Angriffen abzuhalten. Das ist nach den Genfer Konventionen illegal.