VON PETER SPORK:
Eine Studie über das Schlafverhalten von Naturvölkern, gerade inCurrent Biology (http://www.cell.com/current-biology/abstract/S0960-9822%2815%2901157-4) erschienen, erregt derzeit Aufsehen. Grundaussage: Es ist ein Märchen, dass wir in einer unausgeschlafenen Gesellschaft leben, denn auch die Naturvölker schlafen im Mittel nur 6,5 Stunden und machen tags nur selten Nickerchen. Dennoch klagen sie nicht über zu wenig Schlaf. Außerdem gehen sie erst drei Stunden nach Sonnenuntergang zu Bett und stehen oft vor Sonnaufgang auf. Anders als derzeit immer behauptet werde, bestimmten Sonnenauf- und -untergang also nicht das Schlafverhalten. Damit scheint die Grundthese meines Buches Wake up!widerlegt.
Doch wie immer ist die Sache etwas komplizierter. Auf dem Buchrücken von Wake up! steht die zentrale Forderung des Buches: “Zurück zum Rhythmus der Natur”. Das soll uns den “Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft” bringen, so der Untertitel. Im Buch stelle ich dann die acht wichtigsten Forderungen auf, was wir oder die Gesellschaft ändern müssen, um wieder aufgeweckter zu sein. Die Forderungen sind: tags mehr Licht, nachts mehr Dunkelheit, bei Arbeitszeiten Rücksicht auf Chronotypen nehmen, Sommerzeit abschaffen, Schicht- und Nachtarbeit reduzieren, Schulbeginn nach hinten schieben, mehr Pausen machen, regelmäßiger und nur tagsüber essen.
Ganz bewusst steht nirgends die Forderung, mehr zu schlafen. Denn darum geht es nicht, es geht darum, wieder ausgeschlafener zu sein. Und das erreichen wir, indem wir wieder mehr im Einklang mit unseren biologischen Rhythmen leben. Und hier kommen die Naturvölker und die neueste Studie ins Spiel. Sie bestätigen genau das: Die hier befragten und untersuchten Menschen sind tags die meiste Zeit im Freien, nachts haben sie es dunkel, sie kennen keine Wecker, keine Sommerzeit, keine Nacht- und Schichtarbeit und keinen viel zu frühen Schulbeginn. Sie leben im Rhythmus der Natur. Vermutlich ist ihr Schlaf dadurch so tief, dass er insgesamt erholsamer ist. (Außerdem verbringen auch sie deutlich mehr Zeit im Bett als nur die 6,5 Stunden Schlafenszeit – ein Umstand, der auch für moderne Menschen gilt, weshalb wir alle vermutlich noch viel weniger schlafen, als wir in Fragebögen angeben.) Und dass die Naturvölker im Sommer an 22 Prozent der Tage ein Nickerchen einlegen, finde ich auch nicht gerade wenig.
In Wake up! und in meinen Vorträgen nenne ich zwei Beispiele, die genau das unterstreichen: Auf Seite 31 erkläre ich, warum wir im Urlaub meistens früher müde werden, tiefer schlafen und früher und erholter aufwachen: Weil wir beim Wandern, Radeln oder ähnlichem tags viel mehr Licht tanken und spätabends meistens im Dunkeln in die Sterne schauen und nicht vor dem hell erleuchteten TV sitzen. Und ab Seite 74 berichte ich von einer Studie aus 2013, bei der Kenneth Wright mit Studenten das Schlafverhalten in einer Art Campingurlaub ohne künstliches Licht untersucht hat. Auch hier wandelt sich das Schlafmuster der Großstädter genau in die Richtung, wie man sie nun bei Naturvölkern beobachtet hat.
Kein Chronobiologe behauptet übrigens, es sei natürlich, mit dem Sonnenuntergang zu Bett zu gehen und mit dem Sonnaufgang aufzustehen. Dann müsste ich als Hamburger im Winter ja rund 18 Stunden und im Sommer nur rund 5 Stunden schlafen. Das Sonnenlicht wirkt lediglich als Zeitgeber für die inneren Uhren. Dabei wirkt morgendliches Licht genau gegenteilig wie abendliches Licht, so dass das System sich unabhängig von der Tageslänge immer auf die Tagesmitte eicht. Der Schlaf-Wach-Zyklus bettet sich dann ungefähr so in diese innere Zeitmessung ein, dass die Schlafmitte etwa mitten in der Nacht ist. Wann wir genau auf Schlaf getaktet sind, ist dabei individuell verschieden, und zumindest bei unserer modernen Lebensweise (vor allem vormittags sehr wenig Helligkeit, dafür abends eher viel) verschiebt sich die chronobiologische Mitte der Nacht beim Durchschnitt in Richtung vier Uhr morgens. (Wer geht schon im Herbst und Winter drei Stunden nach Sonnenuntergang zu Bett?) Es ist naheliegend, dass das bei den Naturvölkern anders ist, was sich übrigens auch mit Beobachtungen bei Menschen in Agrargesellschaften deckt.
Die neue Studie dient also nicht als Gegenargument, gegen die überall von Medizinern, Gesundheitspolitikern und anderen Experten geäußerten Empfehlungen, mehr zu schlafen. Diese Empfehlungen sind die Schlussfolgerungen aus tausenden seriösen wissenschaftlichen Studien der letzten Jahrzehnte. Man kann aber sehr wohl zu der Schlussfolgerung kommen, dass wir mehr Rücksicht auf die neuen Erkenntnisse der Chronobiologie nehmen müssen. Niemand erwartet deshalb, dass wir jetzt alle wie Naturvölker leben. Aber wir können einiges dafür tun, einen besseren Zugang zu den Rhythmen der Natur in unsere moderne Lebensweise zu integrieren. Mein Buch Wake up! liefert übrigens die Gebrauchsanweisung dafür.
Wenn nun in den Medien – in der typisch vereinfachenden und auf polarisierende, überraschende Aussagen zugespitzten Form der modernen Wissenschaftskommunikation – davon die Rede ist, unser Schlafverhalten sei gar nicht so unnatürlich oder es sei eine Mär, dass wir mehr Schlaf benötigten, dann kann ich darauf nur erwidern: Vergesst doch endlich den Schlaf! Der kommt von ganz alleine. Aber nur, wenn wir lernen, uns am Tag und späten Abend wieder natürlicher zu verhalten.
Peter Spork ist promovierter Neurobiologe und zählt zu den führenden deutschen Wissenschaftsautoren. Er hat schon mehrere Bücher zu Schlafforschung, Chronobiologie und Epigenetik geschrieben. Sein aktuelles Werk „Wake up!“ (Hanser-Verlag) überträgt die Erkenntnisse aus der Wissenschaft und entwirft ein gesellschaftspolitisches Programm für eine ausgeschlafenere Gesellschaft.
Website: www.peter-spork.de
Mehr zum Buch: www.wake-up-das-buch.de
Es gehört zu den typischen Fehlern, die wir in unserer Gesellschaft machen, dass wir Qualität mit Quantität verwechseln. 6,5 Stunden Schlaf können völlig ausreichend sein, wenn die Qualität des Schlafes gut ist. Auf der anderen Seite gibt es nie genug Schlaf, wenn die Qualität schlecht ist. Ganz im Gegenteil: sehr langes Schlafen führt zu mehr Müdigkeit und Erschöpfung.
Von http://freiheitmachterfolg.com