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Thomas Piketty und seine Kritiker

Thomas Pikettys Buch über „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ ist noch gar nicht auf Deutsch erschienen, aber schon wird es auch hierzulande heftig diskutiert und kritisiert. Man muss annehmen, dass weder die Leute, die ihn loben, noch jene, die ihn kritisieren, das Buch gelesen haben. Jedenfalls bekommt man diesen Eindruck, wenn man nach der Lektüre – ich habe mir die englische Übersetzung besorgt und in den vergangenen drei Wochen gelesen – die Diskussionsbeiträge liest.

Übrigens gilt das für einige seiner amerikanischen Kritiker, etwa die der Zeitschrift „Forbes“.

Als exemplarisch für das Niveau der deutschen Diskussion kann die Kritik gelten, die der „Zeit“-Wirtschaftsredakteur Kolja Rudzio verfasst hat:

 

http://www.zeit.de/2014/24/thomas-piketty-kapitalismus-im-21-jahrhundert

 

Die Rezension beginnt schon mit einer Falschaussage. Angeblich behauptet Piketty, „der Kapitalismus mache die Reichen fast automatisch immer reicher“.

 

Würde Piketty das behaupten, er wäre in der Tat nicht ernst zu nehmen. Er behauptet jedoch das Gegenteil, wie ich gleich zeigen werde. Dennoch wiederholt Rudzio seine Falschaussage: „Vor allem einer These verdankt Piketty die enorme Aufmerksamkeit: der Behauptung, im Kapitalismus gebe es eine Kraft, die den Reichtum immer mehr in den Händen weniger konzentriere.“

 

Dann weist Rudzio darauf hin, dass Piketty in einer Grafik die Wachstumsraten der Weltwirtschaft und die Einnahmen aus dem Kapital bis in die Zeit des Römischen Kaiserreichs zurückverfolgt. „Schon Jesus lebte im Kapitalismus?“ fragt Rudzio.  „Attila der Hunnenkönig? Ludwig der XIV.?“

 

Höhö. Dieses Dümmerchen Piketty!

 

Aber da Sie schon fragen, Kollege Rudzio: Nein. Jesus lebte nicht im Kapitalismus. Er lebte in einem Land, das von Rom unterworfen war und steuerlich ausgebeutet wurde. Der Reichtum der römischen Oberschicht beruhte auf dem Besitz von Land und Sklaven.

 

Pikettys These – und sie ist nicht mehr als eine These – lautet: Bis zur industriellen Revolution gab es so gut wie kein Wachstum. Die Vorstellung eines stetigen Wirtschaftswachstums ist überhaupt erst ein Produkt der industriellen Revolution. Da jedoch in diesen vorindustriellen, vorkapitalistischen Gesellschaften der Besitz von Kapital – allgemeiner: Vermögen – vor allem in Form von Land regelmäßig einen Gewinn von 4 bis 5 Prozent abwarf, konnten Landbesitzer enorm reich werden, konzentrierte sich der Landbesitz in wenigen – aristokratischen – Händen, während die große Masse der Bevölkerung in gleich bleibender Armut verharrte.

 

Vermutlich, so Piketty, waren solche Verhältnisse sogar nötig, damit überhaupt eine Klasse existieren konnte, die sich den schöneren Dingen des Lebens widmen konnte. Das heißt, das Einkommen eines Adeligen musste etwa 50 Mal so hoch sein wie das eines Bediensteten, damit sich der Adelige 25 bis 30 Bedienstete leisten konnte und dann noch Geld übrig hatte, um Pferde oder Kunstwerke zu sammeln, Dichter und Architekten zu fördern oder in den Krieg zu ziehen.

 

Erst der Kapitalismus und die industrielle Revolution änderten etwas daran. Dadurch, dass die Produktivität der Arbeit enorm gesteigert wurde, änderte sich das Verhältnis von Kapital und Arbeit. Die Arbeit lieferte einen größeren Teil des Nationalvermögens und entsprechend konnten sich die Arbeiter einen größeren Anteil erkämpfen. Das ist die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

 

Das heißt: Wenn es stimmt, dass die Einkünfte aus Vermögen „r“, in der Regel immer größer sind als das Wachstum der Volkswirtschaft „g“, wie es Pikettys zentrale Formel behauptet, dann ist ein schnell wachsender Kapitalismus, wie etwa in den USA im 19. Jahrhundert, in Europa nach den Verheerungen des 2. Weltkriegs oder in  China und einigen anderen Schwellenländern heute das beste Antidot gegen die übermäßige Akkumulation von Reichtum in wenigen Händen. Das sagt Piketty an mehreren Stellen explizit, und nur jemand, der über das Buch schreibt, ohne es gelesen zu haben, kann behaupten, Piketty kritisiere „den Kapitalismus“.

 

(Für Piketty ist „Kapital“ alles, was seinem Besitzer Einkommen – also eine Rendite oder eine Rente – generiert: Land, Häuser, Sklaven, Fabriken, Maschinen, Rechtstitel, Patente. Deshalb verwendet er den Begriff auch, um etwa den Landbesitz der Charaktere zu bezeichnen, die in den Romanen Jane Austens der Liebe und vor allem dem Mitgift und dem Erbe einer guten Partie hinterher jagen. Ich werde ihn auch in diesem Sinne verwenden.)

 

Piketty behauptet nun, dass Wachstumsraten von über drei Prozent, wie sie nötig wären, um der Dynamik der Akkumulation von Reichtum in wenigen Händen entgegenzuwirken, in den entwickelten kapitalistischen Ländern unrealistisch seien. Für das 21. Jahrhundert rechnet er für diese Länder langfristig mit durchschnittlichen Wachstumsraten von 1 bis 1,5 Prozent – was, wie er sagt, gemessen an den vorkapitalistischen Verhältnissen „beachtenswert“ sei. Wenn es den Schwellenländern gelingt, die arrivierten Länder einzuholen, und wenn – wie prognostiziert – sich das Wachstum der Weltbevölkerung abflacht, was nach UN-Prognosen gegen Mitte des 21. Jahrhunderts der Fall sein dürfte, dann – und nur dann – würde die Weltwirtschaft insgesamt relativ niedrige Wachstumsraten aufweisen, wie sie für die USA, Kanada und Europa heute typisch sind. Gute Nachrichten für die Öko-Bilanz des Planeten vielleicht; aber bei einem gleich bleibenden oder auch nur etwas geringeren Wachstum des Kapitals – Piketty setzt die Rate „r“ für seine Prognosen historisch tief mit 3 Prozent an – steigt dessen Gewicht langsam, aber stetig weltweit und innerhalb jeder nationalen Volkswirtschaft.

 

Es ist wichtig festzuhalten, dass für Piketty dieses Phänomen nicht in erster Linie ein ökonomisches Problem darstellt, sondern ein politisches. Piketty betreibt ausdrücklich „politische Ökonomie“. Seine Hauptfrage lautet: Wie kann ein demokratisches Gemeinwesen unter solchen Bedingungen seine Kontrolle über das Wirtschaftsleben behaupten?

 

Zurück aber zur „Zeit“ und ihrem Wirtschaftsredakteur. Nachdem er einige der Zahlen aus Pikettys Buch referiert hat, die das Auseinanderdriften von Einkommen aus Arbeit und Einkommen aus Vermögen sowie das stete Anwachsen der großen und sehr großen Vermögen seit den späten 1970er Jahren vor allem in den USA, aber auch – wenn auch zaghafter – in Westeuropa belegen, meint Rudzio: „Nur wird dabei übersehen, dass die Zahlen, die der Forscher dazu vorstellt, Einkommen vor Steuern zeigen. Bei diesem Thema lässt Piketty die Steuern bis zur Gegenwart beiseite. Es wird also so getan, als ob es den Staat und seine Umverteilung nicht gäbe – um dann, mit Blick auf diese Zahlen, neue, umverteilende Steuern zu fordern. Das ist absurd.“

 

Nein, absurd ist Rudzios Behauptung.

 

Der Steuerfachmann Piketty widmet den ganzen letzten Teil seines Buches – also etwa ein Viertel des Werks – der Steuerpolitik seit dem 19. Jahrhundert. Er zeigt, wie und warum die USA und Großbritannien Pioniere der progressiven Einkommensteuer wurden, die teilweise Spitzensätze zwischen 80 und 90 Prozent erreichten. Er untersucht auch die Wirkung dieser Steuern bis zu ihrer drastischen Reduzierung in den späten 1970er Jahren. Er diskutiert die Rolle und Wirkung einer Vermögenssteuer. Er vergleicht Steuern mit anderen staatlichen Möglichkeiten, die Vermögen der Bürger abzuschöpfen und die eigenen Schulden loszuwerden, wie etwa die Inflation oder die Insolvenz.

 

Es ist weiterhin absurd zu behaupten, dass Piketty „neue, umverteilende Steuern fordert“. Von Umverteilung ist im ganzen Buch nie die Rede; Piketty sagt explizit, dass die Umverteilungswirkung einer Hochsteuer auf sehr hohe Einkommen einer Steuer auf sehr hohe Vermögen relativ gering sein dürfte. Ihm geht es erstens um die Frage, wie der Staat seine Aufgaben finanzieren kann, ohne immer tiefer in den Schuldensumpf zu geraten – also in die Abhängigkeit von jenen Leuten, die reich genug sind, ihm Geld zu leihen.

Pikettys Meinung ist, kurz gefasst: Es ist besser, die Reichen zu besteuern, als sich Geld von ihnen zu leihen, das man ja mit Zinsen zurückzahlen muss, was die Reichen nur reicher macht. Was ja, wenn man etwa Griechenland betrachtet, eher eine Feststellung als eine revolutionäre Forderung darstellt.

 

„Zeit“-Redakteur Rudzio schließt: „Die gerechte Verteilung des Wohlstands ist ein wichtiges Thema. Pikettys Welterklärungsformel hilft jedoch nicht weiter. Es ist nicht das große Abstraktum ‚Kapitalismus’, das die Menschen arm oder reich macht.“

 

Piketty geht es aber gar nicht um eine „gerechte Verteilung des Wohlstands“, was auch immer das wäre. Es geht ihm darum, ich wiederhole es, dem Gemeinwesen Mittel in die Hand zu geben, die Entstehung absurd hoher Einkommen – etwa bei den „Super-Managern“ – und einer neuen, mächtigen Rentier-Klasse zu verhindern und für eine Erhöhung der Chancengleichheit etwa mittels Ausbildung und Erziehung  zu sorgen.

Wenn der Liberalismus zu verstehen ist als Kampf gegen aristokratische Privilegien und monopolistische Strukturen, so ist Piketty ein Liberaler.

Piketty hat weder eine „Welterklärungsformel“ aufgestellt, noch behauptet er – diese Falschaussage wiederholt Rudzio nun zum dritten Mal -, dass ein Abstraktum namens Kapitalismus die Menschen arm und reich mache.

 

Niemand muss Pikettys Buch lesen. Aber niemand zwingt einen Journalisten, es zu loben oder zu kritisieren, wenn er es nicht gelesen hat.  Man gewinnt den Eindruck, dass Kritiken wie jene des Kollegen von der  „Zeit“ vor allem dazu dienen sollen, vor Erscheinen der deutschen Ausgabe dem deutschen Leser einzureden, irgendwas stimme an dem Buch nicht, Piketty sei so eine Art Sarrazin, nur eben links; er würde zwar ein „wichtiges Thema“ ansprechen, aber doch zu sehr vereinfachen; er sei vielleicht kein Finsterling wie Sarrazin, aber doch ein wenig naiv. Anders als die Redakteure und Leser der „Zeit“, nicht wahr.

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56 Gedanken zu “Thomas Piketty und seine Kritiker;”

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    Vermögen A hat Tauschwert von T und Privilegien-Gebrauchswert von G1
    Vermögen B hat Tauschwert von T und Privilegien-Gebrauchswert von G2

    Warum sollten nun beide obwohl sie nicht die selben Privilegien geltend machen können, gleich vermögensbesteuert werden?

  2. avatar

    @Nick
    Sehe ich genauso! Ich nenne hier bewusst keine Namen von Leistungsträgern, die Unternehmen gründeten, Risikokapital eingebrachten, tausende von Arbeitsplätzen u.Existenzen schafften, und die heute, wegen einer nicht abgeführten Steuer, vorbestraft sind. Das ist eine große Schande! Das Steuerrecht durchschaut doch fast keiner mehr!

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    … und das verquaste Steuersystem ist ja auch nicht mehr, als der Versuch der Politik, es allen (Klienteln) recht zu machen.

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    @Walter Schmidt
    „Es gibt keine Gerechtigkeit auf Erden.“
    Ich finde ‚Billy Wilder‘ trifft zwar nicht den angemessenen Ton, aber in einer Sache, die hier noch nicht erwähnt wurde, ins Schwarze: Die fehlende Anerkennung (und damit ist eben nicht nur das Geld gemeint) demotiviert hier so einige, die dann lieber gehen, während hierzulande weiter über Steuergerechtigkeit gestritten wird. Ich könnte mir vorstellen, daß der eine oder andere Steuerflüchtling vielleicht – nun ja – freiwillig mehr bezahlen würde, wenn die Identifikation mit dem Gemeinwesen nicht durch eine Staats-und Verbändebürokratie, die die immer weiß, was für den einzelnen besser ist oder zu sein hat, verstellt würde. Aber das ist ein anderes Thema.

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    @Nick
    Ich gehe auf das ein, was Sie gesagt haben. Die Zinsertragssteuer auch Kapitalertragsteuer genannt zu erhöhen z.B auf den Spitzensteuersatz( 42%), wäre gerecht. Doch im Gegenzug müsste man bei den mittleren Einkommen den Freibetrag von derzeit 801€ bei ledigen, bei verh. dass Doppelte, verfünffachen. Was sind im Alter z.B als lediger Freiberufler schon 4000€ Freibetrrag. Wenn Sie 1Million im Laufe des Lebens für das Alter als Selbstständiger zurückgelegt haben( Auszahlungen aus Fonds u. LV, Aktien . . .) und das Geld auf einem Festgeldkonto dann parken, dann sind das bei 1% Zins, 10 000€ Zinseinkünfte. Zieht man den von mir vorgeschlagenen Freibertrag von ca.4000€ bei Ledigen ab dann sind immer noch ca. 6000€ zu 42% zu versteuern. Das wäre eine Möglichkeit von vielen. Das ungerechte bei der heutigen Besteuerung ist, dass Kapitaleinkünfte einem Steuersatz von ca. 25 % unterliegen. Bei Mieteinahmen ist man hingegen, sofern man den Spitzensteuersatz erreicht, mit 42% dabei ( evtl. noch plus Reichensteuer).
    Klar, dass man auch noch an weiteren Stellschrauben drehen kann( Grundsteuer, Grunderwerbssteuer . .. ).
    Ganz wichtig ist, dass die Freibeträge so großzügig ausgelegt werden, dass die Mittelschicht nicht zu stark getroffen wird, aber die wirklich großen Vermögen zur Kasse gebeten werden. Nur mal so ein Gedanke! Trotz allem: Es gibt keine Gerechtigkeit auf Erden.

    .

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