Der Regisseur, Schauspieler und Drehbuchautor Daniel Popat unternimmt den Versuch, die Geschichte des Films „Deutschland im Herbst“ aus dem Jahr 1978 fortzuschreiben. Es gab bereits zwei Versuche dazu: „Neues Deutschland“ (1993) und „Deutschland 09“ (2009) Das Ergebnis von Popats Versuch – „Deutschland wieder im Herbst“ – ist eine gnadenlose Zustandsbeschreibung der Gesellschaft am Beispiel eines Künstlers zu Zeiten der Corona-Pandemie und des damit im Nachgang verbundenen Umbruchs.
Sechs Wochen, die die Republik veränderten
Nichts ist mehr, wie es war und wird auch nicht mehr so werden, wie es war, so wie die Bundesrepublik nach dem „Deutschen Herbst“ eben auch nicht mehr das Land war, das es vorher war. Als dieser Herbst mit den Selbstmorden von Gudrun Enslin, Andreas Baader und Jan Karl Raspe im Hochsicherheitsgefängnis in Stuttgart-Stammheim und der darauf folgenden Ermordung Hanns Martin Schleyers zu Ende ging, hatte sich die Realität der Demokratie für immer verändert. Die Analogie zu den damaligen Ereignissen, die Popat mit seinem Film herstellen will, trifft in unser Bewußtsein und tut weh, weil er recht hat.
Man kann Popats Film tatsächlich nur vollständig begreifen, wenn man den Film von 1978 und die Umstände, die zu seiner Enstehung geführt haben, kennt. Die Credits des Episodenfilms „Deutschland im Herbst“ lesen sich wie das „Who is Who“ der damaligen linksliberalen bis linken Filmemacherszene: Alf Brustellin, Hans Peter Cloos, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Beate Mainka-Jellinghaus, Maximiliane Mainka, Edgar Reitz, Katja Rupé, Volker Schlöndorff, Peter Schubert, Bernhard Sinkel werden als Regisseure aufgeführt, Heinrich Böll, Alf Brustellin, Hans Peter Cloos, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Beate Mainka-Jellinghaus, Maximiliane Mainka, Edgar Reitz, Katja Rupé, Volker Schlöndorff, Peter Schubert, Bernhard Sinkel, Peter Steinbach als Drehbuchautoren.
Sieht man den Film heute, erkennt man unschwer, welchem ideologischen Reflex die Kolleginnen und Kollegen von damals folgten. Es war vor allem die Sorge um die, durch die reaktiven Maßnahmen des Staates auf den Linksterrorismus der „Rote Armee Fraktion“ gefährdete Demokratie. Freilich sah die RAF die Demokratie der damaligen Bundesrepublik nicht als Demokratie, sondern als die Implementierung immer autoritärer werdender Herrschaftsstrukturen im fadenscheinigen Gewand einer Demokratie. Die Zuschreibung, dass es sich in Wahrheit bei der Bundesrepublik um ein autoritäres Machtgebilde handelt, offenbart die Schwäche des ideologischen Ansatzes der Terroristen, nur gegen etwas zu sein und gleichzeitig nicht zu wissen, wofür man eintritt. Ziel ihres Terrors war vermeintlich, den Staat so extrem herauszufordern, damit er seine Demokratiemaske fallenlässt und das Proletariat sich mit Waffengewalt gegen den Kapitalismus erhebt, also seinen eigenen Untergang herbeiführt. Ein Konzept, das auf ganzer Linie gescheitert ist, denn das Proletariat tat einen Scheißdreck und versammelte sich hinter der Regierung gegen die Terroristen. Ausführlich hat Stefan Aust das, die Hintergründe und die gegenseitigen Bedingungen für diese Eskalation in seinem Buch „Der Baader-Meinhof- Komplex“ dokumentiert.
„Man muss zumindest beschreiben, was man nicht verändern kann“ (R.W.Fassbinder)
Daniel Popats Film beginnt mit einem Filmzitat aus „Deutschland im Herbst“: Fassbinder als Fassbinder, mit einer grotesken Mütze auf dem Kopf, versucht telefonisch den Schluss eines Interviews, das er gegeben hat, nicht in Druck gehen zu lassen. Vergeblich. Popat spielt diese Szene aus dem Film unmittelbar im Anschluss im Hier und Jetzt nach. Er selbst ist Fassbinder, imitiert dessen Gestus und lädt ihn gleichzeitig mit sich selbst auf. Damit ist die Tonalität des Films gesetzt.
Popat ist mutig und wagt nun ein tatsächlich schmerzhaftes Experiment. Wie hätte sich Fassbinder, der Freigeist, der Rebell, der immer Unbequeme, der auch international gefeierte, deutsche Künstler während der Pandemie zu den Maßnahmen – Maskenzwang, moralische Impfplicht, Ausgangssperren, Besuchsverbote – und den Resultaten daraus – Panik, Misstrauen, Denunziation, unbedingter Gehorsam, gesellschaftliche Spaltung – verhalten? Hätte man ihn auf „Schwurbler-Demos“ gesehen und wäre er Teil von „Alles dichtmachen“ gewesen? Oder wäre selbst er in dieser Ausnahmsituation folgsam gewesen? Um es vorweg zu nehmen, Fassbinder wäre, so Popats Resümee, sich selbst treu geblieben. Und Popats Fassbinder weiß auch warum: „Weil ich glaube, …dass Menschen in verschiedensten Situationen gut und böse zugleich sind, in einer Gestalt. … Ich glaube, dass wir alle gut und böse sein müssen. Weil es gar nicht anders geht.“
In lose oder nicht verbundenen Szenen, auf zwei sich elliptisch bedingenden Zeitebenen spielt Popat, mal scheinbar als er selbst, mal weiter als Fassbinder, wobei die Übergänge fließend sind, These und Antithese zu dem durch, was während der Corona-Maßnahmen vorgegangen ist. Die Rigorosität, die Unbedingtheit, mit der das geschieht, ist, wenn nicht beängstigend, zumindest aber tief verstörend. So endet eine Diskussion zwischen Fassbinder und dessen Lebenspartner Armin (Felican Hohnloser) in körperlicher Gewalt. Armin triggert Fassbinder mit Aussagen wie: „Und die anderen, die auf diese Demos gehen, die würde ich erschießen und aufhängen. Wer gibt ihnen das Recht dazu? Wenn die sich nicht ans Recht halten, braucht der Staat sich auch nicht ans Recht halten.“ Bilder von Demos während der Pandemie drängen sich auf, bei denen Wasserwerfer gegen die Teilnehmer eingesetzt wurden.
Analog zum Ursprungsfilm, in dem Fassbinder mit seiner Mutter (Liselotte Eder) diskutiert, spricht Popats Figur mit einer Frau (Malika Antje Kilgus), die seine Mutter darstellt. Jeder Satz, der in dieser Szene und den nachfolgenden Szenen zwischen ihm und der Mutter gesprochen wird, ist ein Schlag ins Gesicht der Erinnerung an diese Zeit der Corona-Maßnahmen: Staatliche Apelle zur Verantwortung vs. Anti-Held. Maßnahmen vs. selbstbestimmtes Leben. Die Konformität, der Untertanengeist dieser Figur wirft Fragen auf, die der Film im Raum hängen lässt wie über einem Abgrund. Darf eine Demokratie sich solcher Mittel bedienen, oder wäre es nicht besser, individuelle Freiheit gleich durch einen Totalitarismus zu ersetzen, damit Ruhe herrscht, auch wenn diese Ruhe eine Friedhofsruhe ist? Ich kann es vielleicht nicht ändern, aber beschreiben MUSS ich es. Und sei es nur durch die schmerzhaften Fragen.
Der Film endet mit einem weiteren Zitat aus dem Film von 1978. Fassbinders Mutter zieht den für sie einzig möglichen Schluss aus dem Chaos, dem Wunsch aus großer Angst vor der Freiheit resultierenden Sehnsucht nach einer seligmachenden, stabilen Wohlfühldiktatur: „Am besten wäre ein autoritärer Herrscher, der ganz gut ist und lieb und ordentlich.“
Zwischen Schmerz, Liebe und Zorn der Verzweiflung
Daniel Popats Fassbinder gerät im Laufe des Films in eine, sich immer schneller drehende Abwärtsspirale. Seine Dämonen nehmen (wieder) Besitz von ihm, er nimmt Drogen, trinkt und sieht sich in der Gefahr, sich im Schmerz der Liebe und im Zorn der Verzweiflung zu verlieren. Die moralisch begründeten Argumentation für die Grundrechtseinschränkungen sind das Messer, das Popats Fassbinder ins Gehirn schneidet. Er ist unfähig zu abstrahieren, weil er sich in einem beständigen „Sowohl-als-auch“ bewegt.
Der Riss, der während dieser Zeit nicht nur durch Familien ging, sondern bei manchen Menschen auch durch sie selbst, war selbstzerstörerisch bis zur Paranoia. Was darf ich (noch) sagen, wem kann ich (noch) vertrauen, wo bin ich (noch) sicher? Ist meine Meinung (noch) wichtig? Ich darf sie (noch) haben, aber ich habe kein Recht auf eigene Fakten. Was aber, wenn sich die allgemein als gültig postulierten Fakten als Fake erweisen, wie es zumindest bei einigen Corona-Fakten im Nachinein der Fall war? Ist dann meine Meinung der neue Fakt oder gibt es neue Fakten, die dazu in Opposition stehen? Welche Verantwortung tragen wir alle für die Demokratie, reduzieren wir sich nicht nur auf Verlautbarungen und Sonntagsreden des Bundespräsidenten? Besteht unsere Verantwortung nicht aus gleich viel Widerspruch, aus Kritik und Spott?
Sinn und Form
Man muss von Popats Schauspiel, das der Treiber der Geschichte ist, beeindruckt sein. Er stattet seine Fassbinder-Figur mit soviel Verve und, bei aller Aufgeregtheit, mit soviel Transparenz aus, die das Publikum zwingt, bis auf den Grund der Seele zu blicken. Seine exaltierte Körperlichkeit, seine Fahrigkeit als Ausdruck der Schmerzen zwingt, genau dort anzudocken.
Das Ensemble lässt sich bereitwillig in die Rollen fallen und Daniel Popat weiß dieses Sich-Fallenlassen ausgezeichnet zu orchestrieren. Der Regiessuer Popat vermittelt filmisch die beklemmende Atmosphäre, die während der Lock-downs das soziale Leben fest im Griff hatte. Ein ausschließliches Innen, in das das Außen nur schwer oder gar nicht mehr vordringt, und wenn, dann nur als Gefahr in Form einer Polizeisirene.
Eine oft scheinbar nur zufällig anwesende Kamera, die wirkt, als wäre sie Teil einer Überwachung, die völlige Abwesenheit von Musik und das intelligente Spiel der Montage mit den Zeitverläufen – man hat tatsächlich das Gefühl, alles würde gleichzeitig und doch nacheinander passieren – das alles, gibt dem Film seine tatsächliche Kraft: Das, was und wie es verhandelt wird, die Ambivalenz dessen, was um uns herum passiert, das Bewusstsein, dass sich alles ständig zu wiederholen scheint, dass zwar die Vorzeichen andere sein mögen, die Konsequenzen aber bei jeder Wiederholung gnadenloser werden, das macht diesen Film so konsequent gnadenlos.
Rezeption
Über Daniels Popats Film zu sprechen wäre unvollständig, ohne die Umstände seiner Entstehung und die Geschichte seiner Rezeption nicht zu erwähnen. Der knapp 24-minütige Film entstand auf dem Gipfel der Pandemie und der Maßnahmen vor rund vier Jahren. Er kann als Ventil des Regisseurs gesehen werden, um den Druck im Kessel des nach Freiheit jappsenden Lebens während dieser Zeit zu mildern. Daniel Popat war zu dieser Zeit noch Regiestudent an der Filmakademie Baden-Würtemberg in Ludwigsburg. Man schloss sich wegen der Kontaktverbotsmaßnahmen in das Set ein und drehte innerhalb von zwei Tage den gesamten Film. Nach der Endfertigung verschwand der Film im „Giftschrank“, eine Maßnahme, die ich noch von unbequemen Filmen aus der DDR kenne. „Deutschland wieder im Herbst“ teilt sich dieses Schicksal mit „Spur der Steine“ (Defa-Studio für Spielfilme, DDR, 1965) von Frank Beyer oder „Jadup und Boel“ (Defa-Studio für Spielfilme, DDR, 1981) von Rainer Simon. Wie bei jeder Indizierung war das Veröffentlichungsverbot auch bei Popats Film die Angst vor künstlerischem, intellektuellen Widerspruch, vor kritischen Fragen, vor dem Nonkonformismus.
Der Film von 1978 erntete viel Kritik und erfuhr Ablehnung. Nichtsdestotrotz wurde er allerdings sehr schnell als ein lebendiger Ausdruck demokratischer Auseinandersetzung begriffen und das komplette Team erhielt noch im Erscheinungsjahr das Filmband in Gold. Es wäre nur richtig und notwendig, Daniel Popats „Deutschland wieder im Herbst“ einem großen Publikum zu präsentieren. Arte oder 3Sat wären geeignete Kanäle dafür. Wenigstens ist die Giftschrankzeit vorbei: Der Film hatte seine Kinopremiere 2025 bei den „Hofer Filmtagen.“ Der Regisseur ist darüber froh und traurig zu gleich. Froh, weil der Film nun eine, wenn auch kleine Öffentlichkeit erhält, traurig, da der Film „jetzt niemandem mehr so richtig weh tut.“ (Daniel Popat) Das mag in Bezug auf die Corona-Zeit zutreffen, für die allgemeineren Fragen, die der Film stellt, stimmt das freilich nicht, denn da weiß der Film wohltuend schmerzhaft zu sein.
Beitragsfoto: Montage Screenshots aus „Deutschland in Herbst“ (oben-R.W.Fassbinder) und „Deutschland wieder im Herbst“ (unten-Daniel Popat)
Daniel Anderson: Berufsausbildung zum Flugzeugmechaniker. Regiestudium an HFF „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Berufsverbot als Filmregisseur in der DDR. Oberspielleiter, Autor und Schauspieler am Theater Senftenberg. Nach dem Mauerfall freier Regisseur, Autor (TV-Serie, Theater, Synchron), Schriftsteller und Musiker. Studium Vergleichende Religionswissenschaften in Bonn. Gründer und Leiter der „Theaterbrigade Berlin.“ Andersons Bücher sind im Spiegelbergverlag erschienen. https://spiegelberg-verlag.com/component/eshop/daniel-anderson Anderson lebt in Berlin und immer mal wieder in Tel Aviv.