Aus der Weisheit „Kenne dich selbst“ (inklusive Schatten) wurde „Zeige dich selbst“ – und das ohne Filter!
Es ist, als hätte die Gesellschaft die Scham abgeschafft. Die Verantwortung für unsere Interaktionen aber bleibt.
Wir erleben wir eine neue Schamlosigkeit, die nicht befreit, sondern enthemmt.
Seit dem durch nichts zu rechtfertigenden Attentat auf Charlie Kirk, vor den Augen seiner Frau und kleinen Kinder, erleben wir international und hierzulande eine zum Teil vollkommen enthemmte Logorrhoe ausgestellter Schadenfreude, des Hasses und Sadismus. Das sind eigentlich lauter per se sozial problematische und toxische Züge – Schattenseiten des Menschseins. Doch eben diese werden in bemerkenswerter Freiwillig- und Freizügigkeit ins Schaufenster und Rampenlicht gestellt. Ohne individuelle Notwendigkeit. Ohne, dass jemand tatsächlich danach gefragt hätte!
Das ist nicht mehr harmloses Oversharing, sondern ein Prahlen mit dissozialen Zügen, wie es vor 30 Jahren noch eindeutig tabu gewesen wäre.
Dissoziale Persönlichkeit im Rampenlicht
Ein Lehrer prahlt vor seinen Schülern damit, eine Stunde lang das Originalvideo des Attentats im Dauerloop angeschaut zu haben. Er habe sich daran kaum satt sehen können.
Ein anderer zeigt es zehnjährigen Kindern, traumatisiert sie damit. Auch er schwärmt von der angeblichen Gerechtigkeit der Horrortat.
Dabei offenbart er zahlreiche Kriterien einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (nach DSM-5: Mangel an Empathie, Impulsivität, Verherrlichung von Gewalt). Derlei manische Faszination – Sadismus mit Elementen von Schadenfreude (Freude am Leid anderer, oft bei politischen Gegnern) – hat eindeutig Krankheitswert. Keinesfalls ist er in diesem Geisteszustand und Mindset als Lehrer einsetzbar.
Hatten wir solche Lehrer?
Schön möglich!
Aber früher hätte so jemand das internalisiert, still im Kämmerlein, aus Angst vor Stigmatisierung. Heute werden derlei Ausbrüche von Devianz zur „Authentizität“ hochgejazzt: „Ich bin ehrlich über meine dunkle Seite!“ Psychologisch ist das oft ein Kompensationsmechanismus – tiefer Mangel an echtem Selbstwert (gleichzeitig ungeheuer eitel), der durch Exhibitionismus kaschiert wird. Durch eine Art Normalisierung verseucht es andere und uns: Schüler hören das und denken, Hass sei akzeptabel bis cool oder (ironischerweise) „woke“ – jedenfalls „erwachsen“, zumindest mit dem Anschein von Reife vereinbar.
Hier macht sich eine kulturelle Wende deutlich, vom Tabu zur Monstranz
Vor Jahrzehnten noch war Psychosomatik (z. B. Zwänge, Aggressionen) tabu, weil Scham soziale Kohäsion schützte. Mit persönlichen Defekten ging kaum jemand hausieren, der weiterhin in der Gesellschaft stehen und stattfinden wollte.
Heute kehrt es sich um: Spätestens seit den 2010ern, verstärkt durch TikTok und entsprechende Podcasts feiert eine „Therapy Culture“ Vulnerabilität als Tugend. Das hat Vorzüge, weil es die Suche nach Hilfe durch Selbsterkenntnis erleichtert. Stigmatisierung tritt zurück. Wir sind befreit von alten Vorurteilen. Die Schwelle zur Enthemmung ist derweil längst überschritten und wir schwimmen bereits in einem Sud von „Toxic Honesty“, toxischer Offenheit – wo Grenzen verschwimmen und Übles (z. B. Sadismus) als „meine Wahrheit“ vermarktet wird. Soziologen nennen das „emotionalen Kapitalismus“: Schwächen werden zu Content, der Likes erntet. Fetischhafter Zeigestolz, exhibitionistisch, nicht selten narzisstisch, schafft eine Feedback-Schleife: Je mehr Applaus (oder Schock-Reaktionen), desto schamloser.
Vor 40 Jahren hätte das jeder als Ende seiner Berufslaufbahn erkannt; heute postet er es und nennt es „Mut“.
Der gesellschaftliche Schaden: Verseuchung und Normalisierung. Es gab immer Sadisten oder Maniker. In der Hochzeit der Serienmörder hatte jeder von ihnen bekennende Fans, aber die Sozialnormen filterten das weitgehend raus. Es fand am äußersten Rande der Gesellschaft stellenweise statt. Doch wer so etwas wissen wollte, musste danach suchen. Heute, in einer Ära von True-Crime-Hype und Viral-Videos, wird Gewalt pornografiert: Das Kirk-Video triggert nicht nur Traumata, sondern lädt zu solchen Loops ein. Der Lehrer doziert, nicht im Kämmerlein, sondern vor Kindern – das ist der Skandal: Es modelliert Verhalten und erodiert Empathie.
Solche Prahlerfahrungen verstärken Gruppendruck (z. B. in polarisierten Blasen), wo Hass gegen „den Anderen“ (hier Kirk als konservatives Symbol) gefeiert wird.
Gut, dieser Lehrer sitzt stattdessen (hoffentlich) nicht zuhause, baut und verschickt keine Paketbomben, aber die verbale Verseuchung ist real und kann zur Eskalation führen.
Womöglich baut daraufhin einer seiner Schüler eine Rohrbombe? Anleitungen sind wohlfeil verfügbar.
Es ist wahr: Soziale Netzwerke haben die Möglichkeiten der Verbreitung von Hass enorm ausgeweitet, und sie eröffnen Sadisten ganz neue Möglichkeiten.
Aber war wirklich mehr Pietät und Scham, vor dreißig Jahren? Oder vor sechzig? Eher nicht. Es ist noch kein Menschenleben her, da war es sozial akzeptiert, dass Lehrer (und Eltern; und Geistliche) Kinder brutal verprügeln und auf alle möglichen Arten demütigen. Haben die Täter das vor ihren Gatten, Verwandten, Freunden und Vorgesetzten stets schamhaft verschwiegen, haben sie es bei Konfrontation allesamt abgestritten? Wohl kaum. Wenn viele es nicht öffentlich gemacht haben, dann auch, weil es sowieso jeder wusste, der es sehen wollte. Haben Terroristen und deren Sympathisanten die Taten damals etwa nicht auf jede zu Gebote stehende Weise gefeiert? Man muss weder Geschichte noch Psychologie studiert haben, um zu wissen, dass sie das sehr wohl haben.
Ich kenne kaum eine Person jenseits der 50, die mir auf Nachfrage nicht gesagt hätte, dass ihre Erziehung körperliche Gewalt beinhaltet hätte, und oft nicht wenig. Durch Lehrer wurde man, wenn nicht körperlich, so doch häufig psychisch misshandelt. Waren diese Taten alle pathologisch? Ich mag mich damit nicht abfinden. Zumal die meisten Täter nie irgendeine nennenswerte Konsequenz erfahren haben.
Das Internet macht die schlechtesten Anteile im Menschen transparent, aber als solchen hat es den Menschen nicht verschlechtert.
„Vor Jahrzehnten noch war Psychosomatik (z. B. Zwänge, Aggressionen) tabu, weil Scham soziale Kohäsion schützte. Mit persönlichen Defekten ging kaum jemand hausieren, der weiterhin in der Gesellschaft stehen und stattfinden wollte.“
Vor Jahrzehnten war ein beträchtlicherer Teil der Bevölkerung als heute noch nicht darüber informiert, dass Zwänge und Aggressionen überhaupt psychosomatische Ursachen haben können – oder dass verdrängte Zwänge und Aggressionen zu psychosomatischen Beschwerden führen können. Die Etablierung der Psychosomatik als Fachgebiet war im Wesentlichen eine Angelegenheit erst der 1990er und 2000er Jahre. Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen (Wittgenstein). Zudem: Wer Gewalt bejubelt, weiß sicher oft ganz genau, was für Folgen das für die Kohäsion seines sozialen Umfeldes haben kann. Allein – in vielen Fällen ist das den Leuten schlicht egal, oder sie halten es für einen angemessenen Preis. Auch das ist nichts Neues. Tabubrüche konnten auch früher schon Karrieren genauso fördern wie zerstören. (Und wo wäre das offensichtlicher als in der Politik?)
Ich würde Ihnen, lieber Herr de Normier, ja gerne glauben, dass Gewalt früher schambehafteter war. Aber worauf kann eine solche These sich stützen, abgesehen von dem, was Ihre persönliche Erfahrung und Wahrnehmung zu sein scheint? Auf Statistiken und empirische Untersuchungen jedenfalls nicht, so weit deren Aussagekraft nur reicht. Denn sie legen im großen Gesamtbild eher nahe, dass die Bereitschaft zu und die Akzeptanz von Gewalt in den letzten zwei Generationen stetig abgenommen haben.
Das hilft natürlich den vielen Menschen nicht, die – schon lange vor dem Mord an Kirk – Opfer der Shitstorm-Kultur wurden oder es noch immer sind. Aber geben die Menschen, die diese Tat feiern, denn an, dass sie krank seien? Ich vermute, das tun die wenigsten. Die meisten werden ihre Freude dadurch verbrämen, dass sie ihre eigene Schlechtigkeit auf ihn abwälzen und ihn als Vertreter einer Ideologie beschreiben, die vermeintlich nichts Anderes als Ausrottung verdient hat. Und ist es etwas Neues, dass Klientels und politische Fraktionen Hurra schreien, wenn der Gegner getroffen wird und nicht man selbst?
Nein, nein, das alles gab es früher schon. Nur noch nicht im Internet.