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Verloren und gefunden – eine Hommage an The Kinks

Das vierblättrige Kleeblatt überlebensgroßer britischer Ur-Giganten, die Rock’n’Roll und Schlager ab den frühen Sixties in moderne Rock- und Popmusik überführten? Beatles, Rolling Stones, The Who und natürlich The Kinks. Doch im Gegensatz zu den drei erstgennanten entpuppte sich die Karriere der Truppe um die Gebrüder Davies als aufreibende Berg- und Talfahrt.

Cardiff am 19. Mai 1965: Alles könnte so schön sein. Nach einer triumphalen Tour durch Australien und Neuseeland und vor geplanten US-Terminen sind die Kinks echte Shootingstars, lassen sich gerne in heimischen Gefilden feiern. Doch in Wales bricht an diesem Abend die Hölle los. Spannungen und Querelen explodieren. Gitarrist Dave Davies beschimpft während des Gigs den eigentlich gutmütigen, ausgleichenden Drummer Mick Avory, schlägt sein Instrument in dessen Richtung, tritt das Schlagzeug um. Der revanchiert sich prompt und schlägt Dave das Becken heftig über den Schädel. Blut spritzt über die Bühne. Davies bricht ohnmächtig zusammen.

Das Resultat: Für Davies 16 genähte Stiche im Hospital, während Avory der Polizei nur dadurch entging, dass man den Vorfall als außer Kontrolle geratenes Showkonzept verkaufte. Tja …

Willkommen im nicht immer gänzlich harmonischen Kosmos der Kinks!

Würden Euch Pete Townshend, Mick Jagger, Keith Richards oder Paul McCartney begegnen, bliebe sicherlich keiner dieser Herren unerkannt. Stünden hingegen die gleichermaßen verdienstvollen Ray und Dave Davies an der Ampel; sie blieben höchstwahrscheinlich inkognito. Versucht mal von jeder Band vier, fünf Gassenhauer auf zu listen. Das fällt vielen bei den Kinks nicht leicht. Dabei verkauften sie über 50 Millionen Tonträger, sind musikhistorisch ebenso bedeutend wie ihre Kollegen und haben Songs im Köcher, die sich hinter jenen keine Sekunde zu verstecken brauchen. Im Gegenteil: Mit einigen Ideen beeinflussten sie sogar die Beatles und The Who. Ein paar Superlativen gefällig? Mit dem den unverwüstlichen Killern „You Really Got Me“ und „All Day And All Of The Night“ ebneten sie 1964 mit revolutionärem Distortion-Sound, ballernder Härte und schnoddriger Rotzigkeit allen Nachfolgern den Pfad gen Hardrock, Heavy Metal, Garage- und Punkrock. Von den Ramones bis hin zu Eddie Van Halen beeinflussten sie die musikalische Zukunft harter Gitarrenmusik. Ein schönes Detail: Beide Lieder starteten auch durch die Hilfe damals populärer Piratensender durch. Diese ankerten oft inmitten der Nordsee und nutzten britische Gesetzeslücken, um die Öffentlichkeit rund um die Uhr mit Rock/Pop zu versorgen, während die alte Tante BBC noch schockiert die Nase rümpfte. Jenes Phänomen wird 2010 ausführlich im höchst amüsanten Streifen „Radio Rock Revolution“ beleuchtet, der die Kinks darin nicht umsonst mehrfach anspielt.

Während die Fachwelt gern die Beatles für „Norwegian Wood“ als ersten echten von Indien getriebenen Popsong mit einer Sitar lobt, geht folgendes meist unter: Die Kinks-Single „See My Friends“ erschien 1965 bereits deutlich vorher. Es experimentiert nicht nur mit klassisch indischen Raga-Klängen. Dave Davies imitiert per Gitarre mit all seinem Talent und technisch tüftelndem Verstand eine Sitar. Pete Townshend bezeichnet den Song für The Who und seine folgenden Kompositionen als wegweisend. Die Beatles hörten die Single und wollten sofort dieselbe Richtung einschlagen, nur eben mit echter Sitar. Prägender geht es kaum.

Die Könige der B-Seite

Desweiteren sind die Kinks echte Könige der B-Seite. Statt ihre Singles lieblos mit mediokrem Krempel zu garnieren, servieren sie hervorragende Kleinode. Ray Davies, seines Zeichens nicht nur Hauptkomponist der Band, sondern einer der besten englisdchen Songwriter des 20. Jahrhunderts, parkt hier gern Kandidaten aus seiner Feder, die er nicht weniger liebt als die A-Seiten. Alles im festen Willen, dem Publikum stets das Beste zu geben, was man zu leisten vermag. Zwei Beispiele genügen, um hier Neugier zu erwecken. „Mister Pleasant“ glänzt einerseits als echter Ohrwurm, baut daneben jedoch kaum rockübliche Elemente wie viktorianisch angehauchte Music Hall, Ragtime und Posaunen ein. Der Track strahlte bis in dunkle Ecken von Gothrockern wie The Mission, die es kongenial coverten. Noch erstaunlicher gelingt „I’m Not Like Everybody Else“. Ein wundervoll straighter, dabei eigentümlich in sich ruhender Rocker, bei dem ausnahmsweise Dave die Konposition Rays singt. Trotz des Schattendaseins als Non-Album-B-Seite erblüht das schöne Lied binnen kurzer Zeit zum echten Fan-Favoriten und ist bis heute eine ihrer beliebtesten Nummern. Neben dem Original lohnt sich besonders die in ihren Bann ziehende Live-Version des ebenfalls herausragenden, sehr intimen Livealbums „To The Bone“ von 1994. Obwohl dutzendfach gecovert sollte man Paul Rolands kongenialer Interpretation von dessen 1994er CD „Sarabande“ ein Ohr gönnen. Die berückende Emotion, die der englische Wave-Rock/Gothrock-Pionier und Singer-Songwriter-Exzentriker in seine Stimme legt, kommt dem Original gleich.

Drei Singles, die zu den größten Schätzen gehören, die britische Popmusik je hervorbrachte

Wenn die Rückseiten schon so abgehen, wie gut sind dann die Singles? Mit nur drei Beispielen für die Ewigkeit kann man alle Novizen zu Fans machen. „Sunny Afternoon“ (1966) und das ergreifende „Waterloo Sunset“ (1967) von den brillanten Alben „Face To Face“ und „Something Else“ gehören zu den größten Schätzen, die britische Popmusik je hervorbrachte. Einmal gehört und man wird beide Stücke nie wieder missen wollen. Beide sind ein Haupteinfluss späterer Britpopikonen der 90er wie Oasis, Blurs Damon Albarn und Jarvis Cockers Pulp. Zur Krönung braucht man den Pubrock-Evergreen „Lola“ vom gleichnamigen, sehr guten 1970er Album. Die Pointe: Obwohl besonders beliebt bei harten Jungs und in Fernfahrerkneipen, handelt es sich um den musikgeschichtlich womöglich ersten LGBT-Song, in dem sich ein Hetero in einen Transvestiten verliebt.

Warum gelingt mithin trotz aller Superlative nicht ganz derselbe Popularitätsstatus wie bei Jagger und Co? Die ewigen Streitigkeiten und ein 1965er Bann der US-Musikergewerkschaft, weil sie einen Mitarbeiter der Dick Clark-Fernsehshow niederstreckten, der sie verleumdete und aufs übelste beschimpfte. Damit fiel für essentielle Jahre der wichtigste Showbizmarkt weg. Hinzu kommt: Gegen die Gebrüder Davies sind die Gallaghers tranige Waisenknaben. Das wurde nicht gerade besser durch Ray Davies jahrzehntelange Alkohol- und Drogensucht.

Musikalische Brillanz trotz der Streitereien

Der Clou: Trotz allem litten Kreativität samt Bandbreite nie. Textlich zeichneten sie einen teils liebevollen, teils sarkastischen Blick auf die britische Gesellschaft. Ebenso gut beobachtet sind ihre sensibel ausformulierten Liebesgeschichten. Letzten Endes gehören Ray Davies Zeilen auf eine Stufe mit Bob Dylan oder Lou Reed.

Musikalisch lohnt sich ein Check aller Phasen. Die Sechziger-LPs sind allesamt groß, bis hin zum grandiosen 1968er Konzeptwerk „Arthur“, welches damals ein kapitaler Flop war, sich im Laufe der Jahre jedoch zum bestverkauftesten Album der Kinks entwickelte. In den 70ern kam Ray Davies theatralische Phase mit Musicals zum Zuge, deren schelmische Doppelbödigkeit zugegeben live weit besser rüberkam als per Vinyl. Entsprechend gering waren die Plattenverkäufe.

Doch die Häutung gelang kommerziell wie musikalisch. Mit „Sleepwalker“ (1977) erfand man sich als moderne Arena-Rockband samt Hardrockwumms komplett neu. Ab hier kehrt sich alles um. Während England die neue Inkarnation fortan selbstgefällig verschmäht, gehen Teile Kontinentaleuropas und besonders die USA ab. Die transatlantische Wiedergeburt ist vollbracht! Zwei Lieder illustrieren diese Ära. „State Of Confusion“ ist 1984 samt zugehörigem MTV-Video plus Album ein straighter Rocker, der auch in Deutschland Erfolge einfährt. Zwei Jahre darauf gelingt mit „Lost And Found“ (von „Think Visual“ 1986) ihr biografischstes Liede. Einerseits geht es zwar um ein Paar, das bei einem Hurricane getrennt wird und sich später wiederfindet. Die tiefere Ebene zeigt indes den achterbahnartigen Verlauf der Kinks, die mehrfach in Teilen der Welt verschüttet waren, um erneut entdeckt zu werden. Und heute? Ray und Dave scheinen das Kriegsbeil begraben zu haben. Sie versicherten über die Jahre sporadisch, dass die Kinks existieren und an einem neuen Album arbeiten. Erscheinen wird es womöglich nimmer mehr. Im Grunde ist alles gesagt.

Bis auf:

Ray: „Die Leute erwarten von uns typischweise, etwas Wundervolles zu erschaffen, um es hinterher durch eigene Dummheit platt zu machen.“

Mag sein.

Doch ihre prägende Legende ist unsterblich; nicht einmal zerstörbar durch sie selbst.

Foto: Official Promotional Pic © by The Kinks

 

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5 Gedanken zu “Verloren und gefunden – eine Hommage an The Kinks;”

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    Es ist der 21. Januar 1967: Die Kinks treten als Headliner einer Package-Tour mit David Garrick und der Band Creation in Bonn auf. Und ich, als gebürtiger Bonner, bin natürlich vor Ort. Die einzige Erinnerung daran: der für damalige Verhältnisse ungewöhnlich lange Titel „Milk Cow Blues“. Und die innige Freude, dass eine der großen englischen Bands eine Verbeugung im popmusikalisch unbedeutenden Bonn machen.
    Das zündende Ereignis für die Kinks und ihre Fans ist zweifellos das elektrisierende „You Really Got Me“ und (in Deutschland) die LP „Kinks In Germany“. Das Mastermind der Kinks ist Ray Davies: er komponiert, textet, singt und produziert. Seine größte Begabung ist nach meinem Eindruck das Texten. Er schreibt seine Songs, um verstanden zu werden. Ganz anders als Dylan, der zeitlebens kryptisch bleibt. Seine genialischen Singles verführen noch heute zum Schwärmen. Was ihnen jedoch fehlt, ist die ausgefeilte Produktion eines Brian Wilson oder eines George Martin. Es hätten überragende Meisterwerke des Pop werden können. Das gilt ebenso für seine Alben ab 1966, insbesondere die Konzept-Alben. Was ist nun aus der unmaßgeblichen Sicht eines Fans das gelungenste ihrer Alben? Die Antwort: „Muswell Hillbillies“, ein eher untypisches Werk mit deutlichen Country-Anklängen.
    Auch nach den Kinks hat Ray Davies als Solokünstler von seiner Könnerschaft als Songwriter nichts verloren. Mit zwei seiner Alben hat Davies ein beeindruckendes Alterswerk geschaffen: „Americana“ und „Our Country: Americana Act II“. Beide Alben reflektieren seine Zeit in den USA in einer Art Song-Revue. Sehr empfehlenswert!

  2. avatar

    Der Artikel fasst das großartige und unsterbliche Schaffen der Davies-Brüder sehr angenehm und kompetent zusammen – vielen Dank dafür (auch für den Hinweis auf die coole Coverversion von Mr. Pleasant von The Mission). Ich habe 1966 im zarten Alter von 12 Jahren zufällig in der LP-Grabbelkiste des Stuttgarter Ramsch-Kaufhauses Merkur die wunderbare Compilation KINKS IN GERMANY erstanden und bin der Band seitdem und bis heute komplett verfallen.

  3. avatar

    Dank dir , werter Hans

    &

    Moin Alan,

    Dank dir.
    – wow, sehr lässig, die Jungs 1964 gesehen zu haben.

    Und ja, die frühen Sachen klingen auch heute noch so erfrischend energetisch, trotz des prähistorischen Erscheinungsdatums.

    Die Country Platte ist für mich natürlich das Grauen.

    Liegt aber an mir. Wenn es nicht Johnny oder DARK stuff wie 16 Horsepower ist, fühle ich mich in der Musikprovinz.

    Habt ihr auch Kinks in Programm? Really got me?

    Würde ja passen mit deinem rhythmischen Talent.

  4. avatar

    The Kinks sah ich das erste Mal 1964 in der Waldbühne. Großartiger Auftritt. Neben den genannten und zu Recht gelobten Songs und Alben würde ich hervorheben: „Kinda Kinks“, das zweite Album, mit „Don’t Ever Change“, „Something Better Beginning“ und den Cover-Versionen von „Naggin‘ Woman Blues“ und „Dancing In the Street“; die jazzige Single „Everybody’s Gonna Be Happy“; die Kabarett-Nummer „Dedicated Follower of Fashion“ … Außerdem das Country-Album „Muswell Hillbillies“ mit dem gegen den tendenziell totalitären Labour-Wohlfahrtsstaat gerichteten Song „Here Come the People in Grey“… Tolle Band, schöne Songs. Thanks for the memories.

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