avatar

DDR im Frühjahr der Anarchie 1990. Abenteuer Rockband-Tour. Letzte Folge.

Vor 35 Jahren: Eine Amateurband aus der Kurpfalz sucht das Abenteuer – eine Tour in der untergehenden DDR. Ich bin und war der Drummer dieser Band. Vier Konzerte um Mai und Juni, dem Frühling der Anarchie. 2024 sind wir, unser Keyboarder Uwe und unsere Gattinen zu einer Reise in die Vergangenheit aufgebrochen, um das zu rekonstruieren. Schwierige Sache, da wir damals nicht wirklich erkannten, was für ein historischer Moment das war – und wir uns nun mühsam auf der Suche nach „Zeitzeugen“ machen mussten. Die Letzte Station war ein Konzert am 2. Juni 1990 im Kultuthaus Sangerhausen im Harz.

Im Vertrag steht: „Mit diesem Vertrag verpflichten sich die Vertragspartner auf der Grundlage der sozialistischen Kulturpolitik der DDR, nach besten Kräften zur Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse in Form von kulturell-künstlerischen Erlebnissen für unsere Werktätigen beizutragen“.
Ausserdem steht da noch, dass die Veranstaltung um 19 Uhr beginnt und um Mitternacht endet. Und unter der Rubrik „Probe (Datum Uhrzeit, Ort)“ ist vermerkt: „4 h vor VA“. 1500 Mark Gage und 350 Mark Kilometergeld sind garantiert. Aber weder gibt das dürre Dokument Auskunft darüber, wer an diesem Abend ausser uns auftreten wir, in welcher Reihenfolge oder gar, ob wir unsere PA-Anlage zur Beschallung der Werktätigen für alle Beteiligten stellen sollen oder sich jeder selbst beschallt. Es regnet, als wir um 13.30 Uhr vor der verschlossenen Eingangstür des hohen Hauses stehen. Gelegentlich kommt ein Fahrzeug vorbei, gelenkt von einem schweigenden Gabelstaplerfahrer, der hier Warenbeweger heisst. Wir lernen und warten, bis die sozialistische Kulturpolitik mit weiteren Direktiven an uns herantreten möge.

Kein Telefon, kein Auto. Aber Stasi.

Die erscheint zunächst in Form eines kugelförmigen Herrn, der öffnet und uns fragend anschaut. Als wir ihm darlegen, wir seien die Kapelle aus der fernen Kurpfalz, die heute Abend zum Jugendtanz aufzuspielen gedenke, kippt sein Gesichtsausdruck langsam zuerst von fragend nach verständnislos, schliesslich geschäftig dienstbeflissen. Ähnlich, wie wir es Tage zuvor bei den entwurzelten Grenzkontrollsklaven bereits geniessen durften. Nun schauen wir Ihn fragend an und deuten stumm auf das formschöne eckige Tastentelefon, wie es der Kommissar Jürgen Frohriep im Polizeiruf 110 zu jenen Zeiten noch zu nutzen pflegt, um den starken Arm des Gesetzes ausschwärme zu lassen.. Ob er vermöge, es eventuell in Gang zu setzen? Schliesslich verfügt der Kugelkopfinhaber darüber hinaus noch über eine abgegriffene Kladde mit Telefonnummern, auf der er unmittelbar mit dem bratwurstartigen Zeigefinger herum wurstet. „Den hätte ich anrufen können….“ grummelt er ein ums andere mal, um dann den Satz jedesmal zu beenden mit dem Seufzer: „wenn er nich… .wie soll ich nu jetzt aber sagen, weg wär’ wech’n Stasi“. Einen kleiner Funken hilfesuchendes Flackern glauben wir nun in seinem Blick zu erkennen. „Ah, der käme noch in Frage. Hat aber keen Telefon. Na, und der noch…. hm. Wohnt aber in Eisleben. Schon ’n Stück weg. Hat aber keen Auto“. Resigniert schaut er uns an, vermutlich in der Hoffnung, seine umfassenden Auskünfte könnten uns zur sofortigen Abreise bewegen.

Doch just in diesem Moment hüpft mit jugendlichem Elan ein drahtiger jüngerer Mann mit schnöseligem Gesichtsausdruck und gelblicher Ausstrahlung heran: das muss nun der allwissende Vertreter der sozialistischen Kulturpolitik sein. Bereits schon erstaunlich marktwirtschaftlich gekleidet flötet er uns jovial an, er sei hier der Meister der Zeremonie und könne uns mit Auskünften aller Art dienen. In unsren Ohren klingt es wie: „Ich war gestern noch bei der FDJ, jetzt bin ich bei der FDP. Möchten Sie eine Versicherungspolice oder einen Gebrauchtwagen kaufen? Ich habe aber auch einen Kessel Buntes… nein, Verzeihung: Ein Kulturangebot für die werktätigen Massen… äh, hm, die jungen Leute…. Hier in meinem Portfolio“. Was er tatsächlich in der Hand hält, ist ein maschinengeschriebener Zettel mit dem Programm des heutigen Abends, den er mit gönnerischem Blick überreicht. In ihm manifestiert sich die kulturelle Vielfalt der Veranstaltung, ach was: Des gesamten Landes: 19 Uhr: Begrüßung, Info , Tanzrunde. 20.00 Purple Haze Konzert, 20.45 Turandot, Discothek – nicht Puccini-Oper. Interessant. Vermutlich betreibt der DJ auch eine Bratwurstbude mit dem Namen Bocuse.. Um 21.000 sind die Rodinis mit Sprungakrobatik angesagt, um 21.50 die Kaskadeure Will und Werry, danach um 22 Uhr zünftige Blasmusik mit LSM und ab 23. 00 wird der Programmpunkt „Erotik vor Mitternacht“ in Form einer Dessous-Show versprochen. Man munkelt, es handle sich um leicht bekleidete Damen vom Friedrichstadt-Palast-Varieté in der Hauptstadt der DDR und wird von dem Gedanken an Werbebanner an den Brücken der Transitautobahnen heimgesucht: „Florena Mieder formen schönend die Figur.“

Ein Kessel sehr Buntes

Spurensuche 2024. Wir fragen mal Ulf Herden, der auf Veranstalterseite den Vertrag unterschrieben hat, wie er das im Rückblick sieht. Er lacht. „Die Dessous-Sow war neu für die DDR. Ich nehme mal an, wir haben das innerhalb der Konzert- und Gastspieldirektion bearbeitet. Sascha Sachse und ich waren mehr für Rockthemen zuständig, und wir hatten auch ein oder zwei Kollegen, die sich für das Thema Show stark machten. Ich denke, einer von denen hat dieses Programm zusammengebucht und das angeboten. Das Mansfeld-Kombinat hatte wohl noch einen Etat, und die haben das dann eingekauft und daraus bezahlt. So waren Programme der Konzert- und Gastspieldirektion oft gestrickt: Moderator, Tanzband, Ballett und noch irgendjemand, der einen Wortbeitrag gebracht hat. Das waren jedenfalls feste Programme, die so komplett an die Kulturhäuser verkauft wurden. Das war eben die Unterhaltung, die gewünsvht war und die produziert worden ist. Eine Rockband war da aber eher ungewöhnlich.Und die Zuschauer? Wenn man zur Kultur ging hat man sich ordentlich schick gemacht.

Bella Figura im Sozialismus

Zum Thema „schick machen“ erlaube man mir eine kleine Abschweifung in die Zeit ein paar Jahre davor. Es begab sich einst zu der Zeit, als Erich noch Landverwüster in Pankow war, da weilte ich mit meiner Gattin wieder einmal in Dessau. Neben Karo-Zigarette, Rosenthaler Kadarka und heissen Debatten in der Datsche sollte es dieses Mal auch einen besonderen kulturellen Höhepunkt geben, kündigten Holger Und Bärbel an. Ins Stadttheater würde man aufbrechen zu einem Kabarett-Abend mit dem Thema Martin Luther. Dafür habe man die raren Karten ergattern können, auch zwei Stück für den Westbesuch, der sich aber vor Orte bitte bitte nicht als solcher zu erkennen geben möge. Und ob ich nicht noch ein wenig an meiner Frisur und Garderobe arbeiten könne, bevor man ins Theater schwebe, bat die Gastgeberin inständig und wedelte bedrohlich mit einer Haarbürste. Ich lernte flott: Ausgehen im Sozialismus zu Besuch einer kulturellen Erbauung für die Werktätigen bedeutet, möglichst nicht nach werktätiger Bevölkerung auszusehen. Aber getreu dem Motto „When in Rome do as the Romans do“, fügte ich mich in mein Schicksal und versuchte auszusehen wie ein sozialistischer Bohemien.

Nun standen wir also eingehüllt in Parfümwolken der Werktätigen vor der Garderobe, um unser Jacken abzugeben, da frug die Garderobiere meine Gattin: „Und zu welcher Brigade gehören Sie denn?“ In mir tat sich ein Höllenschlund auf. Ich sah uns in Ketten bei Wasser und Kot auf Jahrzehnte in einem Stasi-Kerker verschwinden. Der Rechtsanwalt Vogel würde uns nach langen zähen Verhandlungen auf besonderen Wunsch von Helmut Kohl gegen eine Millionensumme herausholen müssen. Schliesslich war Kohl das meiner Gattin schuldig, war sie doch in Ludwigshafen aufgewachsen und hatte die gleiche Schule besucht wie der Kanzler. Ich erwachte aus meinem Alptraum, als ich die sie mit fester Stimme und geradezu schnippisch sagen hörte. „Wir sind eingeladen.“ Der kulturelle Teil verlief dann ohne weitere Zwischenfälle. bis wir uns auf die Heimreise mit der letzten Strassenbahn machten.

Da rumpelte der tapfere Waggon um Dutzende von Kurven, vollbesetzt mit Theaterpublikum, allesamt im Bella Figura-Modus. Ein besonders gelungenes Beispielspaar dieser Spezies klammerte sich schwankend an die Haltestange direkt neben meinem Sitzplatz. Sie – eine Wachsfigur im kleinen Weissen – auf meterhohen Absätzen schlingernd, den Duft von VEB Schmink und Stink versprühend. Er eher unauffällig auf die Schuhe starrend, als habe er mit dieser Prinzessin nichts zu tun. Deren rotgemaltes Mündchen in jeder Kurve bedenklicher nervös flatterte und versuchte, dem allzu offensichtlich aufkommenden Würgereiz von unten standzuhalten, während ich mich nach Fluchtmöglichkeiten umschaute. Wer konnte schon wissen, was die Brigade Schnaps über mir zu entleeren gedachte? Doch die Rettung nahte an der nächsten Haltestelle: Wir traten den geordneten Rückzug an, um uns bei einem hochprozentigem „Waidmannheil“, einem giftgrünlichen Getränk von VEB Gärungschemie Dessau von den dramatischen Ereignissen des Abends zu erholen.

Thomas Müntzer doesn’t live here anymore

Spurensuche 2024. es ist weg. Keine Spur mehr vom Kulturhaus Thomas Müntzer. Dort, wo es stand, ist jetzt ein riesiges Kaufland Einkaufszentrum mi einem noch riesigeren Parkplatz. Vollkommen überdimensioniert für eine Stadt von gerade noch knapp über 25.000 Einwohnern. Ende der 80er-Jahre waren es noch rund 33.000 gewesen. Abwanderung überall. Das Kulturhaus wurde 1999 abgerissen, ergibt eine schnelle Internet-Recherche. Der Eigentümer des Kauflandgebäudes, hatte sich vor dem Bau des Einkaufszentrums verpflichtet, ein Hotel mit Festsaal als Ersatz für das Kulturhaus zu errichten. Aber die Baupläne wurden nie verwirklicht, das Kulturhaus blieb ein Wunsch. So steht es in einem Artikel der Mitteldeutschen Zeitung von 2017. Das ist auch noch 2024 der Stand der Dinge.

 

Shares
Folge uns und like uns:
error20
fb-share-icon0
Tweet 384

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Shares
Scroll To Top