In der deutschen Öffentlichkeit passiert derzeit etwas, das man freundlich als „überambitionierte Weltdeutung“ bezeichnen könnte – oder weniger freundlich: als ziemlich bornierte Hybris. Immer wieder hört man aus der deutschen Komfortzone ein entschiedenes: „Wir können diesem Staat nicht trauen.“ Gemeint ist die Ukraine. Begründung: Korruption, Vetternwirtschaft, Intransparenz.
Da wird dann gern das große Bestechungsschwert geschwungen, als ob es in Berlin an der Garderobe hängt. Und ja – es stimmt: Die Ukraine hat ein ernsthaftes Korruptionsproblem. Das hat sie nicht erst seit gestern, sondern ist ein Erbe aus den tiefsten Kellern der Sowjetunion. „Kennst du jemanden, geht alles“ – das war die Losung damals, und sie ist es vielerorts auch heute noch. Nur hat sich das Ganze kapitalistisch aufgemotzt. Heute gilt: Kennst du jemanden – zahl ihm, dann geht alles.
Aber Moment mal: Ist Deutschland wirklich in der Position, sich moralisch auf ein Podest zu stellen?
Ein kurzer Blick ins Lobbyregister des Deutschen Bundestags genügt. Aktuell sind dort über 5.700 Interessenvertretungen registriert – von Wirtschaftsverbänden über Kanzleien bis hin zu PR-Agenturen. Alles sauber? Naja. Der Einfluss auf politische Entscheidungen mag nicht als „Bestechung“ durchgehen – aber man kann durchaus fragen, wie viele Gesetzesentwürfe ohne freundliche Anregung aus den Vorstandsetagen entstanden sind.
Die Pharmalobby zum Beispiel hatte beim damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn nicht nur beratenden Einfluss, sondern lieferte teils direkt Formulierungen für Gesetze, die erwartungsgemäß der Industrie zugute kamen. Gesetzgebung auf Zuruf – mit der Pharmaindustrie im CC. Und wer erinnert sich noch an den Maskenskandal? CDU-Abgeordnete wie Nikolas Löbel und Georg Nüßlein haben mit Vermittlungen von Maskendeals ordentlich mitverdient.
Oder die ehemalige Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner, die dem Nestlé-Konzern im Ministerium ein PR-Video mit Regierungssiegel spendierte, in dem sich das Unternehmen als Nachhaltigkeitschampion feiern durfte – obwohl Nestlé regelmäßig wegen Umweltzerstörung und Wasserprivatisierung in der Kritik steht. Lobbyismus? Ja. Nur eben mit Trachtenjacke statt Umschlägen.
Und dann ist da noch unser Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz. Im Hamburger Cum-Ex-Untersuchungsausschuss konnte sich Scholz plötzlich an Treffen mit Warburg-Bankiers nicht mehr erinnern – obwohl es um Millionensummen an Steuerrückforderungen ging. Erinnerungslücken als Regierungsstrategie. Schaden für den Staatshaushalt? Potenziell dreistellig. Aber Hauptsache, wir zeigen auf Kyiv.
Und das alles ist nicht das Werk krimineller Schattenleute, sondern findet ganz offiziell, im hell erleuchteten parlamentarischen Raum statt.
Natürlich: In der Ukraine läuft vieles anders – vor allem kleinteiliger. Da gehen mal ein paar Hundert Dollar über den Tisch, damit ein Generator nicht im Lager verschwindet, sondern ankommt, wo er gebraucht wird. Besonders heikel wird’s in Regionen wie Lviv oder Odesa – nicht zufällig ganz vorne im internen ukrainischen Korruptions-Ranking. Gerade Lwiw ist kritisch, denn hier läuft ein Großteil der westlichen Hilfsgüter durch. Wenn da etwas „verschwindet“, hat das direkte Auswirkungen auf das Überleben von Menschen.
Aber: Diese Realität einfach pauschal als Argument gegen jede Form der Unterstützung zu verwenden, ist zynisch. Wer sagt: „Weil dort Korruption existiert, helfen nicht“, entscheidet sich aktiv gegen Hilfe für eine Bevölkerung, die unter Bomben lebt – nicht unter Bestechung. Taurus – schon mal gehört? Ok. Aber gesehen noch nie. Vor allem nicht in der Ukraine.
Ich, Andreas Tölke, komme gerade zurück aus der Ukraine. Seit März 2022 verbringe ich 60 bis 70 Prozent meiner Zeit im Land – näher an der Front als an der Meinungsspalte in deutschen Feuilletons. Ich bin Gründer und Vorstandsvorsitzender des Vereins Be an Angel, und wir haben uns durch die Strukturen gefräst. Unser Ziel: valide ukrainische Partner finden, Transparenz sichern, und sicherstellen, dass Spendengelder aus Deutschland dort ankommen, wo sie gebraucht werden.
Was folgte, war ein intensiver Prozess. Wir haben ein durchgängiges Reporting-System aufgebaut, das von allen angeschlossenen Hilfsorganisationen aus Eigeninteresse eingehalten wird. Kein Papier-Tiger, sondern tägliche Praxis. Nur so war es möglich, über 24.000 Menschen aus Frontgebieten zu evakuieren und mehr als 5.000 Tonnen Hilfsgüter bis an die Front zu liefern. Möglich wurde das durch ein gut organisiertes Lager in Lviv, ein ukrainisches Team – und durch eine konsequente Haltung gegen Korruption, auch innerhalb der Ukraine.
Es geht nicht darum, Korruption zu relativieren. Sie ist ein reales Problem. Aber sie ist kein gottgegebenes Schicksal. Die Ukraine kämpft dagegen – sogar während eines flächendeckenden Angriffskriegs. Die Anti-Korruptionsbehörde NABU verzeichnet regelmäßig Erfolge. Verhaftungen, Vermögenssicherungen, Aufdeckungen – jeden Tag. Ich selbst bin Teil eines Informationsnetzwerks, in dem wir nahezu täglich über neue Maßnahmen, Ermittlungsergebnisse und Urteile informiert werden.
Und: Die Zivilgesellschaft diskutiert. Öffentlich, lautstark, kompromisslos. In Cafés, auf Bahnhöfen, in Telegram-Chats, im Fernsehen. Diese kritische Auseinandersetzung ist gelebte Demokratie. Mehr, als mancher hier im „postideologischen“ Deutschland glauben mag.
Kritik an der Ukraine zu üben, heißt nicht, sich gegen sie zu stellen. Es heißt, Verantwortung ernst zu nehmen. Wer helfen will, muss wissen, wie Hilfe ankommt. Wer spendet, soll sicher sein, dass es wirkt – aber bitte nicht mit moralischer Überheblichkeit, sondern mit Respekt vor lokalen Realitäten.
Vielleicht wäre es hilfreich, wenn wir weniger den Lehrer spielen – und mehr der Partner wären. Weniger Besserwisser, mehr Mitdenker. Und vor allem: Weniger Zeigefinger, mehr Demut.
Beim Gedanken an die Ukraine Konferenz jagen mir Schauer über den Rücken… Welche Worthülsen abgesondert werden um bloß nicht pragmatisch zu helfen.