Am 30. Mai 1990 landet die Tour-Truppe in Vetschau, einer Kleinstadt am Rande des Spreewalds. Veranstalter des Konzerts ist der Jugendklub „Fette Elke“, das Konzert selbst spielen wir im Kulturhaus der Stadt. Nach dem Konzert geht es in die Unterkunft für die kommende Nacht: Es handelt sich um die Arbeiterwohnunterkunft, im Land der Abkürzungen AWU genannt. Mehrere dieser würfelförmigen Bauten stehen hier in Reihe auf der grünen Wiese.
Von innen betrachtet ist es eine recht komfortable Angelegenheit, zumindest verglichen mit unserem angefeuchteten Standquartier in Halle. Band und Crew verteilen sich auf drei Zimmer, von denen aus man eine entzückende Aussicht auf die graue Rückseite der Kaufhalle hat. Dorthin sollen wir am Morgen danach unsere Schritte lenken, denn es kommt eine schwere Aufgabe: einkaufen. „Horst, wir gehen jetzt mal los und besorgen uns Frühstück.“ „Wss?“ antwortet Horst erschreckt.
Horst sagt öfter: „Wss?“, wenn er erschrickt. „Äh…. was muss ich da machen?“ Irgendwie klingt es in meinen Ohren wie das berühmte: „Babba, ich will da e Frühstück einkaufe, was muus ich dann do mache?“ Und mir wäre danach, zu antworten: „Hör zu mein Sohn, du bist jetzt 36 Jahr alt und Bankkaufmann. Da gehste in den Lade, und kaafst ein, genau so wie dehaam in deiner Gass“. Natürlich sage ich das nicht so, denn den zitierten Sketch gibt es 1990 noch gar nicht, sondern ich verfüge in vollkommen sachlichem Ton „Du gehst rein, nimmst einen Einkaufswagen, legst die gewünschten Waren hinein und bezahlst Sie an der Kasse“. „Ach….?“„Ja.“ Puh. Wieder eine Hürde mühsam überwunden. Diesmal eine landeskundliche.
Spurensuche im Frühjahr 2024.
Sie beginnt mit einem Anruf im Rathaus Vetschau. Ich erzähle die Geschichte, die ab sofort bei diesen Anrufen Standardtext wird und mit dem Satz beginnt: „Haben Sie mal ein paar Minuten Zeit? Also: Ich habe vor 34 Jahren mal mit einer Band aus Heidelberg und Karlsruhe in Ihrer Stadt gespielt und bin auf der Such nach…. naja, nennen wir es mal Zeitzeugen“. Ich finde mich dabei schon recht forsch. Fast übergriffig. Denn eigentlich gehe ich davon aus, dass jede und jeder Angerufene spätestens jetzt entweder sofort auflegt oder nach hinten ins Büro dem Chef zuruft: „Du, Karl-Dieter, da ist ein Verrückter am Telefon…“
Nichts dergleichen geschieht. In Vetschau ist es wohl die Vorzimmerdame, mit der ich besonderes Glück habe. Vor mir liegt der Konzertvertrag, der von mir und einem Uwe mit unlesbarem Nachnamen unterschrieben ist. Unlesbar, weil jemand den fetten Stempel des Jugendklubs „Fette Elke“ drauf gedrückt hat. All das sage ich der netten Dame und sie antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Kann das sein, dass der Uwe Jeschke heisst? Der war damals der Leiter des Jugendklubs. Hat jetzt eine Pension, die Neustadtklause. Wollen Sie die Telefonnummer?“ „Äh, ja bitte“, antworte ich und denke bei mir: Wäre doof, jetzt das Thema Datenschutz ins Spiel zu bringen. Kann man da einfach anrufen? Ich zögere nur kurz, dann rufe ich an. Nach drei Sätzen ist Uwe Jeschke im Bild und ich habe den Eindruck, dass er sich freut, nach so langer Zeit wieder von uns zu hören. Ich erzähle ihm von einem Brief, den er mir eine knappen Monat nach unserem Konzert geschrieben hatte, in dem die schmeichelhaften Worte stehen: „Ich wäre noch einmal interessiert daran, ein Konzert mit euch zu machen. Bei uns haben viele bereut, am 30. Mai nicht dabei gewesen zu sein. Bitte schreibt mal wieder“. Ob wir den Brief damals beantwortet haben? Vermutlich nicht.
34 Jahre später nagt ein Anflug von schlechtem Gewissen an mir. Ich schreibe ihm eine Mail, schicke Scans des Vertrags und des Briefes mit. Kaum ist die Mail abgeschickt, ist auch schon die Idee geboren, in seiner Pension für zwei Tage und Nächte Quartier zu machen, exakt 34 Jahre nach dem Konzert. Und so geschieht es.
Auf dem Weg zur Neustadtklause kommen wir vorbei an Plakaten für die bevorstehende Gemeinderatswahl. Darunter auch die SPD-Plakate mit dem Konterfei von Uwe Jeschke. Er hatte 2017 schon einmal bei den Bürgermeisterwahlen kandidiert, wurde aber knapp vom CDU-Kandidaten geschlagen. „60 Stimmen haben mir gefehlt“. 2024 ist er Vorsitzender des Sozialausschusses der Stadt, zuständig für Soziales, Kinder, Jugend, Bildung, Kultur und Sport.
Eine tote Stadt
Auf dem Weg zur Neustadtklause sind wir schon überall dort vorbeigefahren, wo unser segensreiches, aber von der Welt kaum bemerktes Wirken, damals stattgefunden hatte – allerdings ohne es zu wissen. Dort, wo einst das Kulturhaus stand, leuchten nun die Reklamen von REWE und Rossmann. Wo der Jugendklub Fette Elke war, ist jetzt eine Bankfiliale. Allein das Würfelhaus 3 – es heisst wirklich so – steht noch, in dem einst von der DDR angeworbene Arbeitskräfte und im Mai 1990 eben wir wohnten. Heute ist es eine ganz unauffällige graue Mietskaserne. Das alles wissen wir noch nicht, als wir Uwe Jeschke treffen. „Ja, das Würfelhaus 3, das war da wo die Mosambikaner drin waren. Ist jetzt ein Netto gegenüber, wo die Kaufhalle war“, erklärt er uns, und „unser Kulturhaus ist ja 2000 abgerissen worden, dann war es mal ne Diskothek, dann nochmal, und nochmal. Insgesamt waren da drei Discobetreiber, aber die haben alle nur Geldwäsche gemacht“.
Uwe ist ein freundlicher, großer, runder Mann, der sich mit der Pension seine Insel des bescheidenen Glücks geschaffen hat, die er nicht so schnell aufgeben will, obwohl er auch mal andere Pläne und Ideen hatte. Jetzt ist er 60 Jahre alt und wird nicht mehr fortgehen aus dieser kleinen grauen Stadt, deren Niedergang schon auf den ersten Blick zu sehen ist. Wir erleben ihn als einen, aus dessen Worten und Mimik eine Portion Resignation, in dem aber auch ein Rest Kämpfer aufblitzt. Vielleicht verkörpert er das positive Klischee des aus der Zeit gefallenen alten Sozialdemokraten?
Jedenfalls ist er der einzige weit und breit, der unseren Erinnerungen an den Auftritt 1990 auf die Sprünge helfen kann. „Die anderen, die damals dabei waren, sind alle weg“, erzählt er. „Ich wäre ja auch nicht hier geblieben, wenn ich nicht politisch aktiv geworden wäre. 2009 haben mich Freunde überredet, die Pension aufzumachen. Ich war ja politisch engagiert, mich kenne sie ja alle. Da bin ich hiergeblieben. Aber Ihr müsst wissen: Bis zur Wende hatten wir 13.000 Einwohner und jetzt sind wir eine Seniorenstadt und haben viele Bürgergeldempfänger. Darunter leiden wir alle so ein bisschen. 1996 haben sie das Kohlekraftwerk zugemacht, da hatten 5.000 Leute Arbeit, davon hatte die Stadt gelebt – und dann sind die Leute abgehauen. Wir haben jetzt nur noch knapp 6.000 Einwohner, mit allen Ortsteilen.“
Lübbenau – das touristische Zentrum des Spreewaldes, wo die Gurke das Nationalheiligtum und der Kahn das einzige Verkehrsmittel – ist gerade mal 15 Minuten mit dem Auto entfernt, aber Vetschau liegt gefühlt soweit weg wie die Erde vom Mond.. „Der Spreewald-Tourismus erreicht uns hier nicht so. Meistens hab ich unter der Woche in der Pension Firmen, die ihre Leute unterbringen, aber gaststättenmässig läuft hier gar nichts mehr. Corona hat uns ganz schön reingeritten. Mein Bruder hatte gekocht, und das war richtig gute Küche. Aber er ist leider gestorben. Ich hatte ein Team von vier Mann, aber die konnte ich dann nicht mehr bezahlen und heute findest du auch niemanden mehr“.
Dunkeldeutschland
Wir verabreden uns für den nächsten Morgen zu Frühstück und Abendessen, es gibt noch viel mehr zu erzählen. Darüber, woher das alles kam und wo das hinging, vor und nach der Wende. Erstmal Aufbruch in die Stadt auf der Suche nach einer Gaststätte. Wenn irgendwo der platte Spruch zutrifft: „Hier werden aber de Bürgersteige um 18 Uhr abends hochgeklappt“, dann wäre Vetschau die lebendige – nein, die tote – Illustration dazu. Die Innenstadt wirkt, als hätte die Bewohner sie nach einer Bombenwarnung oder dem Ausbruch einer bislang unbekannten Seuche verlassen. Eine gespenstische Stille kriecht aus dem Kopfsteinpflaster. Hier muss man wenig ändern, um einen Film zu drehen, der ein paar Jahrzehnte früher spielt. „Du hast den Farbfilm vergessen“ spielt im Kopf. Wohin also? Ein Lokal kommt in Sicht, aber ein Zettel an der Tür sagt: Lasset fahren alle Hoffnung: Geöffnet von 17 bis 19 Uhr. In einer Seitenstrasse lockt fahles Licht. Hier vielleicht. Ich gehe rein, die anderen bleiben im Auto sitzen. Was? Vier Personen, nee, wir sind heute ausgebucht, sagt die unangenehm bullige Thekengestalt mit misstrauischem Blick. Es ist der vernagelte Blick der früheren Grenzorgane. Ist das so? Oder will man hier unter sich sein und keine verdächtige Gestalten wie uns das angestaubte Idyll stören lassen? Dieses Idyll, das ein bisschen nach AfD-Stammtisch schmeckt und riecht. Als ich zum Auto zurückkomme, schaut mich der Rest der Crew an, als sei ich der einzige Überlebende einer extrem gefährlichen Mission. Möglicherweise bin ich das ja auch. Wir lassen Vetschau hinter uns, fahren ein paar Kilometer weiter nach Burg, wo wir fündig werden. Es ist eine völlig andere Welt. Ein Lokal prall gefüllt mit fröhlichen Menschen – vor allem Touristen – die in „rustikaler Atmosphäre“ tafeln, um sich dann hernach Gurke und Stocher-Kahn zu stürzen.
Last Man Standing
Wir denken an den Satz, den uns Uwe Jeschke mitgegeben hat: „Wäre die Wende nicht gekommen, hätte Honecker den Spreewald für den Braunkohle-Abbau geopfert. Das haben wir hier alle befürchtet“. Am nächsten Tag finden wir Zeit, ausführlicher mit ihm zu reden. Darüber, wie unser Konzert vor über drei Jahrzehnten zustande kam. Darüber, wie er überhaupt damals den Job als als Leiter des Jugendklubs „Fette Elke“ bekommen hat. „Ich hatte Verwaltungsjurist studiert und abgeschlossen und war dann bei der Stadt beschäftigt, und das war mir sowas von langweilig. Also bin ich zum Bürgermeister gegangen und hab’ ihm erklärt: ich muss hier weg, da könnt ihr machen was ihr wollt. Ich kann keene acht Stunden hier am Bürotisch hocken. Dann hat er mich gefragt, ob ich Lust auf Jugendarbeit hätte. Klar, hab’ ich gesagt, hab’ ja schon 10 Jahre ehrenamtlich Jugendarbeit gemacht.“ Und so geschieht es. Von April 1990 an stürzt er sich in die Arbeit als Leiter der „Fetten Elke“. „Damals war ich ja ein junger Hüpfer“. Der große Sprünge machen will. Die Premiere ist unser Konzert, eine eher kleine Fingerübung. „Ihr wart mein erster Vertrag. Ich hatte ganz frisch angefangen. Wie das im einzelnen lief, kann ich nicht mehr so genau sagen. Ich habe nur die Vertragsunterlagen unterschrieben, das war wohl im Vorfeld alles schon organisiert gewesen. Wir hatten ein Demo und Plakate schon lange Zeit vorher bekommen. Die Musik haben wir im Jugendclub immer gespielt. Wenn die Leute gefragt haben, wer ist das?, haben wir gesagt, Purple Haze, die spielen bei uns am 30, Mai. Und dad war ja auch eigentlich gut besucht. Du weisst ja wie das war damals. Eine westdeutsche Band, warum nicht, und das kam ja auch gut an“.
Danach veranstaltet er Konzerte mit DDR-Prominenz, es läuft zunächst gut. „Die Puhdys hatte ich hier, Karat , Silly, Ute Freudenberg. Die haben alle im Kulturhaus gespielt. Ich wollte Peter Maffay auf dem Blau-Weiss-Sportplatz machen, ich hatte schon bis zur Agentur Kontakt. Der wäre auch gekommen, aber unsere Stadt wollte das nicht. Warum? Ist mir bis heute ein Rätsel. Und dann hat man kein Geld mehr ausgegeben, es wurde schwierig. Denn man musste ja von dem leben, was die Stadt finanziert. 1992 habe wir einen Verein gegründet und das in freier Trägerschaft übernommen. Das war das Jahr, in dem der Jugendklub abgerissen wurde. Wir haben Kinder und Jugendarbeit gemacht und Ferienfreizeiten organisiert. Wir haben alle Freizeitparks im Westen besucht. Die Kinder waren so glücklich. 2009 habe ich aufgehört, ich hatte keine Lust mehr. Aber eigentlich wollte ich weiter was mit Menschen machen, und da haben mich eben die Freunde überredet, die Pension aufzumachen.“
Thomas Zimmer schreibt seit 1980 über Rock, Pop und Folk. Er war Rundfunk-Musikredakteur, Dozent für Pop- und Rockgeschichte an der Musikhochschule Karlsruhe. Er hat u.a. die Biografie des BAP-Drummers Jürgen Zöller und ein Buch mit Konzertkritiken aus 20 Jahren veröffentlicht. Er hat Rock-Größen wie Phil Collins, Ian Gillan, Beth Hart und viele mehr interviewt. Er moderiert eine regelmässige musikalische Live-Talkshow im Jazzclub Bruchsal und betreibt den Interview-Podcast „Das Ohr hört mit“ – https://open.spotify.com/show/4FuFLyd1w66aRSnYYdCkOY mit Musikern und anderen Kulturmenschen.