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Sind Gitarrensoli sexistisch? Ein Polemikchen

Vor Jahr und Tag wurde mir die unangenehme Aufgabe zugeteilt, mich rezensierend dem neuesten Werk eines sogenannten Poptheoretikers widmen zu dürfen, und dummerweise beschied ich das Ansinnen des Chefredakteurs, eben jenes zu tun, nicht abschlägig. Dummerweise deshalb, weil mir schwante, dass es zwischen den Ansichten des Autors und meiner Wahrnehmung der Welt doch erhebliche Differenzen geben könnte. Anders gesagt: ich fürchtete, ich könne der Versuchung nur schwer widerstehen, das Werk vorsätzlich in Bausch und Bogen zu verdammen. So etwas tue ich nicht, auch eine Medienhure hat einen Ehrenkodex. Aber für die genannte Befürchtung gibt es Gründe. Wenn der Autor eines Buches ein Redakteur der deutschen Ausgabe des Rolling Stone ist, ist immer Vorsicht geboten.

Zwar ist der Rolling Stone nach eigenem Verständnis (glaube ich zumindest) eine Zeitschrift, die sich vorrangig mit Musik beschäftigt, aber dann stehen da ständig Sätze sperrig im Weg herum wie etwas dieser: „Wüten wider die Kulturindustrie: Algiers vertonen ein wimmelndes Verweisfeld aus Poststrukturalismus, Proust und „Breaking Bad“. So klingt eben das, was man beim Rolling Stone für Musikjournalismus hält. Da stehen auch Sätze wie „Pop ist ein Bedeutungszusammenhang, der sich um ein Produkt der Musikindustrie herum entfaltet“. An dieser Stelle nun könnte der Rezensent ganz persönlich werden und aufhören zu lesen, denn für ihn waren Produkte der Musikindustrie schon immer nichts als Musik. Nicht für den Poptheoretiker: „Popmusik scheint also mehr zu sein als ein paar Akkorde und ein bisschen Gesang – nämlich ein komplexer Zusammenhang aus kulturellen Zeichen und versteckten Codes, Praktiken und Strategien, Outfits, Haltungen und Geschichten.“ Aha. Schauen sie mal ins Forum des Rolling Stone. Sie werden staunen, was man mit Musik alles anstellen kann, anstatt sie zu hören. Zum Beispiel allerhand Listen über „wichtige“ und „einflussreiche“ Alben zu erstellen. Ich muss sagen, ich empfinde fast so etwas wie fürsorgliches Mitleid mit dem Listenersteller und würde mich fast zu der Behauptung versteigen, es ist zu 99,9 Prozent Narzissmus, der den Listenersteller antreibt.

Einflussagenten der Bedeutungsschwangerschaft

Mich übrigens auch: Ich schmuggelte nur zu gern in die mir abgepressten Bestenlisten für ein Altherren-Rockmagazin, wenn es denn schon sein musste, mit großem Vergnügen und satanisch grinsend, Namen wie Ulf Lundell oder Lars Winnerbäck ein. Das sind Leute, die hierzuland keiner kennt. Die auch keiner kennen muss. Denn niemand muss irgendjemanden kennen. Die sind weder „wichtig“ noch die „Besten“ oder „Einflussreichsten“ in oder von irgendwas, die singen schwedisch und ich mag sie. Bis heute bin ich zudem überzeugt, dass das Lars Winnerbäck Konzert am 20. August 2016 in der Arena in Linköping der unbestrittene Höhepunkt meines irdischen Daseins war. Zurück zu den Bestenlisten. Bei diesen kleinen Guerilla-Aktionen komme ich mir unfassbar subversiv vor, erzittere schier vor Selbstachtung. Und dem Narzissten in mir ist hinreichend Futter serviert.

Jetzt nochmal zurück – zum Thema: Ein Rolling Stone -Redakteur hat natürlich, bevor er sich ans Listen-Erstellen macht, die ganze Bedeutung der Musik in ihre Zeichen aussendenden Relevanz und politischen Bedeutung im Kopf hin- und her schwappen lassen, und kann selbigen vor lauter Gedankenschwere dann nicht mehr über den Tellerrand erheben. Sonst würde er sehen, dass seine kühne Behauptung „das Konzept der Rockband scheint tatsächlich vorläufig an ein Ende gekommen“, einfach nichts weiter als eine kühne Behauptung ist. Und dann stand plötzlich wie ein Menetekel die Kapitelüberschrift: „Sind Gitarrensoli sexistisch?“ Es keimte in mir die Frage, ob diese Überschrift eher gar nicht als Frage gemeint sein könnte.

Die ziemlich schnell beantwortet wurde. Mithin dadurch, dass derlei Experten dann auch Sätze wie diesen schreiben: Ein „gutes Beispiel für virtuose und zugleich unsexistische Gitarrenhandhabung“ sei zu finden bei Grateful Dead, deren Musik er summa summarum auch noch als „feminin fließend“ charakterisiert. Zu der recht weit hergeholten, de facto aber eigentlich überhaupt nicht herholbaren Verbindung zwischen Grateful Dead und Virtuosität haben die großen weisen und auch ziemlich weissen Männer Michael Rudolf und Frank Schäfer in ihrem auch sonst empfehlenswerten „Lexikon der Rockgitarristen“ schon vor Dezennien im Kapitel „Jerry Garcia“ bereits final verfügt: „Ziehe einem zehnjährigen Dödel Fausthandschuhe an, dreh ihm eine gewaltige Tüte, achte darauf, dass er sie aufraucht. Gib ihm zur Sicherheit noch ein paar LSD-Trips, achte darauf, dass er sie alle einwirft, und drück ihm dann seine Gitarre in die Hand! Na, wie klingt das? Möönsch, ist das nicht Grateful Dead? Jooah, könnte man sagen.“.

Das Böse kommt aus den Flitzefingern

Wenn also Grateful Dead die Guten sind, wer sind dann die Bösen? Klar, es ist etwa jeder Gitarrist, „der sich mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Gitarrengötterdämmerung noch in die alten Posen wirft. Denn: der lässt ihn „erschaudern und das Gesicht verziehen wie bei schlimmem Zahnweh.“ Etwas polemisch übersetzt meint er vermutlich alle Gitarristen, die im Gegensatz zu Jerry Garcia Gitarre spielen können. Die gute Nachricht für uns Andersgläubige, die schlechte für ihn: unter den vielen neuen Rockbands, die in seiner Wahrnehmung nicht vorkommen – weil Rock ja bekanntlich tot ist – gibt es zunehmend mehr, die ihm dieses schlimme Zahnweh verursachen könnten. Hat er schon mal was von The Brew, Greta Van Fleet, Airbourne, und was weiss ich nochwas gehört….? Möge er noch oft erschaudern. Merken Sie was? Seit 50 Jahren höre ich den Satz: „Die Rockmusik ist tot“, und immer noch dackelt immer wieder ein anderer Poptheoretiker dieser Wahnidee hinterher, als wäre es der heisseste Scheiss.

Das heroische Zeitalter der Popmusik scheint fürs Erste vorbei, da sind derlei Experten ganz sicher. Was er damit eigentlich meint, wissen wir inzwischen: Die „männliche“ Rockmusik ist tot. Die der Gitarrenhelden. Die einzigen, die die Rockmusik noch retten können, seien Frauen. Denn Gitarrenhelden sind out, „vermutlich ist das auch ein Grund dafür, dass viele der interessantesten Gitarristen zurzeit weiblich sind“. Will sagen was? Weil Frauen nicht zum Helden taugen? Ich bitte doch sehr! Sie Chauvi, sie. Dann gibt er Beispiele für die nichtheldenhaften Gitarristen, die weiblich sind. Anna Calvi etwa, oder die Texanerein St. Vincent, von der er zu berichten weiß, sie habe ihre Künste zuletzt in betont sexy Outfits zelebriert und „die männlichen Blicke zugleich ins Leere laufen“ lassen, „weil sie als lesbisch lebende Frau quasi unerreichbar bleibt“. Nun weiss ich ja nicht, welche sexuellen Fantasien der Geschmackspapst hat, wenn er Musikern und Musikerinnen beim Musizieren zuschaut, aber dass es den Zuhörern – männlich wie weiblich – um die Musik gehen könnte, das kommt ihm offenbar nicht in den Sinn.

Hier trifft er auch einen Punkt, an dem ich besonders empfindlich bin, an dem ich ihm und all seinen Zauberlehrlingen zurufen möchte: Es geht um MUSIK. Weisst Du überhaupt, was das ist? Ich erklär dir’s, hör gut zu! Es ist die Freude daran, Töne zu erzeugen, zusammen. Die eine im besten Fall schon fast übernatürliche Schwingung ergeben, von der Bühne ins Publikum und zurück. Von Männern und Frauen, für Männer und Frauen – und alle dazwischen un ausserhalb – gemacht. Vor allem aber von Menschen zu Menschen. Das alles passiert jenseits von all dem irdischen Scheissdreck, mit dem ihr in euren selbstreferenziellen, verfickten Popdiskursen, bei denen ihr offenbar euer eigenes Ejakulat raucht, die eigentliche Schönheit und Wirkung der Musik in den Dreck zieht und entwertet. Die Musik gehört nicht euch! Sie gehört uns, den Musikern und uns, dem Publikum. Und auch uns, den Kritikern, die sich in erster Linie als Geheimagenten mit Spezialauftrag im Dienste der Musiker und des Publikums begreifen. Und der Götter. Mindestens! Dionysos, Herkules, Ian Gillan und Ann Wilson, Tony Iommi und Ana Popovic, Frank Schäfer und Malcolm Dome! Jim Marshall, Leo Fender. Laurens Hammond, ja dem auch dem ganz besonders. Dem Jimi-Hendrix Fanclub Dortmund Nord, 1971 e.V. ein Ritterschlag aufs karierte Hemd. Sorry, verwechselt, Entschuldigung, das war der Rory Gallagher Fanclub, Duisburg Süd! Jawohl ja! Den Mitgliedern der heiligen, alleinseligmachenden Church of Rock’n’Roll! Das würde ich dann schon entfesselt hinklecksen, auf einem Bein balancierend, und dabei auf einen Filzstift beissend, bis mir ein Zahn herausfällt und den Laptop in zwei Teile spaltet. Das würde nicht gut klingen und auch nicht gut aussehen. Wäre ich jung und unvernünftig, würde ich dazu jetzt sehr steil rauchend ohne Rücksicht auf Brandgefahr überall hinaschen und dabei billigen Whisky aus Deep Purple Fan-Tassen saufen. Ich hoffe, sie merken jetzt nicht, dass ich mich echauffiere.

Feminin fliessende Musikalien

Dann schauen wir uns mal ganz ruhig und gelassen eine von des Rolling Stone-Redakteurs Retterinnen der Gitarre einmal live an, und vor allem vollkommen vorurteilsfrei: Anna Calvi, die seiner Definition zufolge wohl ebenfalls als lesbische Frau quasi unerreichbar bleibt. Wir wollen sie auch gar nicht erreichen, dafür steht sie auch auf viel zu hohen Stiftabsätzen, sie soll uns erreichen. Ich habe sie gesehen, sie hat mich nicht erreicht. Aber beeindruckt. An einem lauen Sommerabend des Jahres 2019.

Es war – sagen wir mal: hochinteressant, sehr künstlerisch, dramatisch inszeniert, aber mit Rockmusik hatte das nichts zu tun, auch mit Popmusik nur im weitesten Sinne. „Waves of desire on the earth. Come down to the swimming pool“ raunte sie mit dieser Plüsch-Stimme bedeutungsschwanger aus dem überhitzten Kühlschrank. Programmmusik der entrückten Art, verankert in dieser Welt, und doch in einem anderen Orbit. Mit „Indies Or Paradies“ kam sie auf die Erde nieder, spielte die größtmögliche Sprödigkeit in Einklang von Gitarrenspiel und Stimme aus. Die neongrelle Künstlichkeit der 80er-Jahre traf auf den Drillbohrer-Zahnarzt im Endstadium. Momente später entschwand die Stimme wieder am Operen-Gala-Himmel. Es ist dies eine Kombination, die in dieser meist Songstruktur-befreiten Musik noch öfter vorkommt.

Schlafwandelnd über dem Brüllen nebliger Städte zurrt die Hand rudimentär an den Saiten. Rost bröselt. Man mag ruckelige Schwarzweiss-Filmsequenzen assoziieren, bis einem wieder einer dieser nervenzerfetzend schrillen Gitarrentöne die Gehirnhälften neu justiert, während die Vortragende sich eilfertig in Stücke reisst, was aber doch als arg kalkulierte Pose rüberkommt. Da ist nichts neues, nichts innovatives. Es ist ein Spiel mit altbekannten Versatzstücken, mit der Mischung as Kontrolle und Kontrollverlust, überhöht durch eine durchaus beeindruckende, gleichwohl aufgesetzt wirkende Theatralik. Nebenbei: es war brüllend laut. Wie bei den Gitarrenhelden, die dem Rolling Stone Redakteur Zahnschmerzen zufügen. Und das war gut so.

Frau Gefährlich rockt. Echt jetzt!

Folgender Vorschlag zur Güte: Den feminin fließenden Musikalien von Grateful Dead und für eventuell anstehende männliche Blicke unerreichbaren lesbischen Gitarristinnen würde ich gern mal ein paar meiner Meinung nach virtuos und unsexistisch gehandhabte Gitarren entgegenstellen, von denen unser Pop-Dsikurs-Theoretiker garantiert noch nie etwas gehört hat: Die Gitarren von Tracy High Top und Tina T Bone Gorin, den beiden Sägewerksbetreuerinnen der New Yorker Damenkapelle Jane Lee Hooker.

Die habe ich auch gesehen. Es war auch gut, überhaupt nicht künstlerisch, kein bisschen dramatisch inszeniert, und mit Rockmusik hatte es sehr viel zu tun. Und es war da, tatsächlich vor meinen Ohren. Und Augen. Umstehende Menschen konnten es bestätigen. Es war keineswegs tot. Und es war das Bandkonzept, das sich so sehr überlebt habende. Und hatte vielleicht sogar mit Heldentum was zu tun, wenn man „Heldentum“ nicht a priori negativ besetzen will. Und diese Helden waren Frauen, also Heldinnen sozusagen. Und was für welche. Rein ins Gewühl, ins Schweißtreibende. Tracy „High Top“ spielt ihre Les-Paul-Sägezahnriffs gern mal mit „Maschinengewehr nach oben-Warnschuss“-Pose, während ihre Sparringspartnerin Tina „T Bone“ Gorin bodenständige, leicht rostige Blues-Licks aus der Fender leiert und dabei ein wenig vornehmer guckt als die durchgehend auf einer Starkstromleitung stehende Kollegin. Dabei umschiffen sie immer noch gerade eben so gut abgehangene Hardrock-Klischees. Die Posen dazu haben sie allemal drauf – aber sie wirken eher wie eine Mischung aus „Let’s have some fun“ und einem Quäntchen Selbstironie. Wobei sie mit Sicherheit wissen, dass sowohl das eine als auch das andere auch bei den nicht wenigen alten Männern im Publikum gut ankommt.

Es muss wohl diese maskulin fliessende Musik sein, mit der die Mädels den alten Männern im Publikum mindestens signalisieren: Eure Blicke, falls ihr denn blickt, laufen in Leere. Spätestens in dem Moment, in dem die Sängerin, sie sich mit allem Recht der Welt Dana Danger nennt, Muddy Waters‘ „Mannish Boy“ ins Publikum belfert. „Now when I was a young boy, at the age of five. My mother said I was, gonna be the greatest man alive“. Und das alles in betont unsexy Outfits, in denen man gefahrlos jede Metzgerei und jeden Tante Emma-Laden betreten kann. Nur deshalb habe ich mich auch hinterher getraut, die verschwitzten Damen anzusprechen und nach ihren Herzenswünschen zu fragen. Da antwortete die wunderbare Frau Gefahr, wie aus der Pistole geschossen, sie würde gern mal eine Show für die Rolling Stones eröffnen. Ich wiederum entgegnete: „Das könnte für die Rolling Stones aber ziemlich schlimm ausgehen“, woraufhin Frau Gefahr mich herzallerliebst anblinzelte und freudestrahlend ausrief: „Keep talkin‘, man, keep talkin“. Was mich wiederum freute.

Thomas Zimmer schreibt seit 1980 über Rock, Pop und Folk. Er war Rundfunk-Musikredakteur, Dozent für Pop- und Rockgeschichte an der Musikhochschule Karlsruhe. Er hat u.a. die Biografie des BAP-Drummers Jürgen Zöller und ein Buch mit Konzertkritiken aus 20 Jahren veröffentlicht. Er hat Rock-Größen wie Phil Collins, Ian Gillan, Beth Hart und viele mehr interviewt. Er moderiert eine regelmässige musikalische Live-Talkshow im Jazzclub Bruchsal und betreibt den Interview-Podcast „Das Ohr hört mit“ – https://open.spotify.com/show/4FuFLyd1w66aRSnYYdCkOY mit Musikern und anderen Kulturmenschen.

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