Gestern war ich zum ersten Mal seit 34 Jahren wieder in einem Zirkus. 34 Jahre! Das letzte Mal war 1991, in Moskau, im legendären Staatszirkus. Was hätte das für ein Erlebnis sein können – die Geschichte, die Kulisse, die Größe! Doch was geblieben ist, ist keine glanzvolle Erinnerung, sondern ein bitterer Nachgeschmack. Tanzbären mit blutverkrusteten Nasenringen, das Fell stumpf, die Bewegungen apathisch oder abgerichtet-aggressiv. Ich habe die Vorstellung vorzeitig verlassen. Meiner Partnerin ging es, bei einem anderen Zirkus, ähnlich. Ihre Schwelle war bei den kränklich wirkenden Pferden erreicht, die mit gesenkten Köpfen und mattem Blick ihre Runden zogen. Was wir beide damals gesehen haben, war kein Staunen und kein Wunder, sondern Tierquälerei im Rampenlicht – legalisiert, beklatscht und bezahlt.
Ein Anachronismus mit Popcorn und Zeltplane

Seitdem war Zirkus für mich tabu. Ein Anachronismus, eine Schande mit Popcorn und Zeltplane. Und ganz ehrlich: Tiere im Zirkus braucht niemand. Vor allem nicht dann, wenn sie schlecht gehalten werden oder zu unnatürlichen Kunststücken gezwungen werden, die mit Dressurmethoden eingeprügelt oder unter Zwang antrainiert wurden. Zirkus war für mich über Jahrzehnte ein Relikt, das aus guten Gründen aus der Zeit gefallen ist.
Und doch hat mich etwas gereizt, dem Ganzen noch einmal eine Chance zu geben. Der Zirkus Charles Knie gastierte in der Region – und die Ankündigungen machten neugierig: ja, zwei Tiernummern, aber die zumindest mit Papageien und Hunden; mit Tieren also, die gern lernen und gern performen (und trotzdem könnte ich darauf verzichten). Der Großteil der Vorführung bestand aber aus Artistik, Wassershow, Lichtinszenierung, Humor. Also wagten wir den Schritt zurück ins Zelt.
Was soll ich sagen? Ich war begeistert. Wir waren begeistert.
Kein einziger Moment der Fremdscham, keine Dompteurpeitschen, keine exotischen Tiere auf engem Raum. Stattdessen eine stimmungsvolle Show mit eindrucksvollen artistischen Leistungen – Menschen, die ihren Körpern Grenzen austesten, die schweben, balancieren, springen, fliegen. Eine Licht- und Wassershow, die die Nummern effektvoll inszeniert, ohne ihnen die Bühne zu stehlen. Und ein Clown, der nicht nur Grimassen schnitt, sondern mit leisem Witz und einem guten Gespür für das Publikum beeindruckte. Es war rund, professionell, unterhaltsam. Und es war respektvoll – vor dem Publikum und vor dem Leben selbst.
Der Zirkus ist im Wandel, und dieser Wandel tut ihm gut. Die Zeit der leidenden Tiere in der Manege sollte endgültig vorbei sein. Wer heute noch Löwen, Elefanten oder Affen im Zirkus sehen will, sucht in Wirklichkeit kein Staunen, sondern ein Stück Macht, Kontrolle, Machtdemonstration. Doch das Staunen, das uns als Kinder vielleicht begeistert hat, ist auch ohne Tiere möglich – vielleicht sogar erst recht. Denn das, was echte Zirkuskunst heute ausmacht, ist die Verbindung aus Kreativität, Bewegung, Technik und Erzählung. Kein Zwang. Kein Leid. Kein Spektakel auf Kosten derer, die sich nicht wehren können.
Für mich ist der Zirkus rehabilitiert – nicht, weil er sich neu erfunden hat, sondern weil er zu seinem wahren Kern zurückgefunden hat: Menschen zeigen, was in ihnen steckt. Und das ist oft viel mehr, als man für möglich hält.
(Fotos: Katarzyna Siemers und Till Becker)