Vor 35 Jahren war ich mit meiner Heidelberger Band Purple Haze in der DDR auf Tour. Vier Konzerte um Mai und Juni, dem Frühling der Anarchie. 2024 sind wir (Unser Keyboarder Uwe, ich und unsere Gattinen) zu einer Reise in die Vergangenheit aufgebrochen, um das zu rekonstruieren. Schwierige Sache, da wir damals nicht wirklich erkannten, was für ein historischer Moment das war – und wir mühsam auf der Suche nach „Zeitzeugen“ sind.
Am 25. Mai 1990 spielten wir in Halle in der Pauluskirche beim Bürgerfest. Das Bürgerfest entstand auf Initiative der 1989 in Gang gesetzten Bürgerinitiative Paulusviertel, der es auch darum ging, die Bausubstanz dieses Gründerzeitviertels zu erhalten, denn 1990 war die Zahl der unbrauchbaren Wohnungen in dem Viertel bereits bei 550 angelangt.
Spurensuche 2024, erster Versuch
Die Crew erinnert sich. Ein Gutteil des Tour-Trosses von 1990 sitzt zusammen und versucht sich zu erinnern. Heike fängt an: „Wir sind da ganz unbedarft reingegangen und wussten nicht, was auf uns zukommt. Der Begrüssungsabend war wie ums Lagerfeuer sitzen ohne Lagerfeuer. Jeder hat etwas vorgespielt, es gab diese Fettbemmen und das Bier hat nach Zwiebeln geschmeckt, aber wir haben und gefreut, das zu trinken. Die Menschen waren so nett und so offen und hatten einen solchen Gesprächsbedarf.“
Horst fühlt sich an evangelische Jugendfreizeiten erinnert, als man Lieder aus dem zerfledderten roten Liederbüchlein Mundorgel vortrug. Michael Weick – damals wie heute Mieze genannt – war damals einer unserer beiden Roadies, die selbstverständlich unbezahlt und aus reiner Abenteuerlust auf dieser Expedition ins große Unbekannte dabei waren. „Ich war Hilfswilliger“, sagt er. „Wir haben die große Anlage geschleppt, aufgebaut und hinterher wieder abgebaut und ja – die Technikabteilung war sehr bierlastig.. Das ist meine Jugend, von 15 bis 21.“ Damals wie heute ist er beim Grenzschutz, gerade ist er von einem monatelangen Afrika-Einsatz zurückgekommen. Nicht ganz einfach, jetzt die Erinnerung an die DDR im Frühling der Anarchie zu aktivieren. Wie war das überhaupt? Hat der Arbeitgeber damals ohne Probleme eine DDR-Reise erlaubt? „Ich war vorher nur einmal Transit gefahren durch die DDR, und seit Oktober 89 war ich fest angestellt. Gerade als ich angefangen hatte, kamen ganz viele innerdeutsche Flüchtlinge, die dem Braten nicht getraut haben und erstmal im Westen geblieben sind. Wir haben in Coburg in der Turnhalle Feldbetten aufgestellt und haben einige hundert DDR-Bürger aufgenommen mit Begrüssungsgeld. Ob Ich habe fragen müssen? Ja bestimmt“, sagt er. „Für mich war die DDR ja Ausland. Ich hatte so ein Trugbild im Kopf, aber in Halle habe ich schnell gemerkt: Die waren ja genauso wie wir, die hatten ja genau die gleichen Interessen. Also für mich ist die Wiedervereinigung immer noch die größte Errungenschaft. Dass sich alle über die Kosten aufregen, das verstehe ich nicht.“
Der Verfall galoppiert
An die ersten Eindrücke nach der Ankunft in Halle hat jeder seine eigenen Erinnerungen. Irgendwo an einer grauen Mauer in dieser grauen Stadt hatte jemand in großen roten Lettern geschrieben. „Beate Uhse mus her“. Mus wie Pflaumenmus. Mieze erinnert sich vor allem an Kopfsteinpflaster und sprudelndes Wasser auf der Straße „und dann habe ich gefragt, warum sprudelt da das Wasser aus dem Boden? Die Antwort war: Da ist die Wasserleitung kaputt. Und dass das schon Monate so wäre und da würde keiner sich zuständig fühlen. Lustig fand ich auch, dass wir permanent mit dem Strom gekämpft haben. Dass wir unzähligen Leitungen gelegt haben, damit man nicht die Sicherungen überlastet.“
Horsts stärkste erste Erinnerung an die Einfahrt der Gladiatoren in Halle ist der Sonnenstand. „Die vom Verfall bedrohten Häuserfassaden haben durch das späte Sonnenlicht noch bedrohlicher gewirkt. Man konnte sehen, dass die DDR komplett ausgeblutet war, aber diese Ausmass an Verfall hatte ich so nicht erwartet. Das erinnerte mich an die Bombentrichter, die ich in meiner Kindheit noch gesehen habe. Dann habe ich überlegt, und das hängt mit meinem Beruf als Banker zusammen: Was ist denn hier noch verwertbare Substanz? Die konnte ich kaum erkennen und mir ging durch den Kopf: Was hat das in den nächstenWochen, Monaten und Jahren für Konsequenzen. Ich war emotional hochalarmiert ich hatte große Befürchtung, ob das heil ausgeht, um es plakativ zu sagen. Weil mir die Dimension klar geworden ist, was zu tun und zu lassen ist. Weil mir klar war, das wird keine einfache Aufgabe, menschlich, politisch und wirtschaftlich. Ich war der Meinung war, dass diese Volkswirtschaft aus eigen Füssen auf die Beine kommen muss. Als wir ein paar Tage später an der Neisse angekommen waren, habe ich die Leute gefragt: Warum sauft Ihr hier Paulaner? Ihr könnt doch selbst Bier brauen und verkaufen!“
Basislager mit undichtem Dach
1990, Mai: Wir beziehen wir unser Basislager in der Scheffelstraße, wohin wir in den kommenden Tagen immer wieder zurückkehren werden. Es ist eines dieser Häuser, bei denen in den unteren Stockwerken hinter der herunter gerockten Fassade gerade eben noch so mit Mühe und Eigeninitiative gutbürgerliche Wohnlichkeit simuliert werden kann. Aber in der oberen Etage offenbar sich die Katastrophe: Das Dach ist löchrig und zusammengefault, die Wohnung nässt. Thomas ist der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Kultur der Bürgerinitiative Paulusviertel, von Beruf Puppenspieler Er hat uns im Januar einen Brief geschrieben, der mit dem Satz endet; „Eure Musik hört sich sehr gut an. Ihr werdet viel Erfolg haben.“ Er nutzt die Dachwohnung als Atelier. An den trockenen Stellen lagert er seine Requisiten. Nachts, wenn wir schwankend Bier abschlagen gehen, laufen wir Slalom zwischen Eimern und Badewannen, die das eindringende Wasser auffangen. Wir haben einen Mitbewohner: Den mit den drei bis sieben Weckern. Einen wortkargen Punk, der offenbar ein Zimmer dieser Wohnung besetzt hat. Anfangs beäugt die Invasion aus dem Westen skeptisch. Er verhält sich, als wären wir gar nicht da. Aber als wir ihn mit einer Palette Dosenbier ruhigstellen, wir er lauter. Huch, er kann ja doch sprechen. Unten im Erdgeschoss wohnt Thomas, 53 Mark Miete zahlt er für die geräumige Wohnung.
Fortsetzung folgt
Thomas Zimmer schreibt seit 1980 über Rock, Pop und Folk. Er war Rundfunk-Musikredakteur, Dozent für Pop- und Rockgeschichte an der Musikhochschule Karlsruhe. Er hat u.a. die Biografie des BAP-Drummers Jürgen Zöller und ein Buch mit Konzertkritiken aus 20 Jahren veröffentlicht. Er hat Rock-Größen wie Phil Collins, Ian Gillan, Beth Hart und viele mehr interviewt. Er moderiert eine regelmässige musikalische Live-Talkshow im Jazzclub Bruchsal und betreibt den Interview-Podcast „Das Ohr hört mit“ – https://open.spotify.com/show/4FuFLyd1w66aRSnYYdCkOY mit Musikern und anderen Kulturmenschen.