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Nach dem Vater, oder: Warum es in Ostdeutschland kein „68“ gibt

Bild unten: Vater in den 1960ern

1982, 21 Jahre bin ich alt und aus dem Gefängnis in Brandenburg entlassen. Vorbestraft unter dem Vorwurf, ich hätte aus einem Ungarn – Urlaub nicht in die DDR zurückkehren wollen. Strafbar nach § 213 Absatz 2 des Strafgesetzbuches der DDR. Meine Schwester ist Startläuferin in der 4X100-Meter-Staffel der Olympiaauswahl der DDR-Leichtathleten. Reisekader ins „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, NSW“. Eine, die von dort immer wieder zurückkommen soll. Und das Ministerium für Staatssicherheit hatte deswegen Einwände gegen meinen Freikauf erhoben (Aktenausschnitt unten).

„Weglaufen ist keine Lösung!“ Sagt der Vater, der mich empfängt. Während er seinen Kaffee umrührt. Den Westkaffee von Oma. Nicht diesen DDR-Rondo.

„Du hast dort Deinen Mann zu stehen, wo Gott Dich auf die Welt hat kommen lassen!“

Das hat mir gerade noch gefehlt. Der Geburtsort als Gottesgericht.

„Die Mauer hat nicht Gott gebaut, Vater, die Mauer haben die Kommunisten gebaut.“ Und dann hole ich auch gleich zum Gegenangriff aus, dem Angriff auf Vaters Parteibuch:

„Du Blockflöte!“

Vater führt einen kleinen Webereibetrieb. Handweberei. Kunsthandwerk.

Vater ist Obermeister der Kunsthandwerker an der DDR-Handwerkskammer zu Halle an der Saale. Und Halle ist die Leitkammer für das DDR-Kunsthandwerk. Und dann sitzt er auch noch im Bezirksvorstand des Verbandes Bildender Künstler der Deutschen Demokratischen Republik.

„Du weißt, Sohn,“ sagte der Vater, „dass ich das alles nicht sein könnte ohne mindestens ein Blockparteibuch. Keine Meisterprüfungen abnehmen könnte, keine Weiterbildungen organisieren.“

„Na und?“ Erwidere ich. „Dann macht die Speichelleckerei halt ein anderer.“

„Es gibt keinen anderen und wenn ich es nicht tue, dann geht das Handwerk noch weiter den Bach runter.“

„Na und Vater, Du Kommunistenknecht!“ erwidere ich heftig. „Dann geht’s halt den Bach runter. Hast Du nicht begriffen, dass die Kommunisten dieses Land erst aus ihren Klauen lassen, wenn es den Bach runter ist! Pleite? Fix und fertig?“

Vater schaut mich mit entsetzten Augen an: „So könnte ich nie denken!“

Einmal werde ich selbst Vater werden und mein Vater wird im Sterben liegen. Das wird im 7. Jahr der deutschen Einheit sein und 8 Jahre seit der Währungsunion. Die den Bankrott von Vaters Betrieb bedeutet hatte. Zu diesen Produktionspreisen in Westgeld findet Handweberei keine Käufer mehr. Allenfalls noch in einem Seitental in Südtirol, wo der Geldbeutel des Touristen etwas lockerer sitzt.

„Vater,“ werde ich sagen. „Kannst Du noch warten? Du hast Deinen ersten Enkel noch nicht gesehen.“

Vater wird lächeln und warten und den Buben noch in den Arm nehmen, bevor er geht.

Immer mal wieder wird er auf seinem Sterbebett an einem Lehrbuch der Bindungstechniken bei Geweben tippen. Der Rektor der Kunsthochschule Burg Giebichenstein zu Halle/Saale, einer aus dem Westen, hatte ihn darum gebeten. Er hatte Vater dorthin an die Einrichtung geholt, als Werkstattmeister für die Textilgestalter.

Der öffentliche Dienst ist noch immer der einzig sichere Arbeitsplatz im Neufünfland des Jahres 1997. Und sicher ist das mit dem Lehrbuch-Auftrag auch ein lobenswerter Akt der Seelsorge. Sterbende brauchen eine Aufgabe.

Habe ich noch etwas abzurechnen mit Vater?

Warum denn?

Es ist eine hartnäckig gepflegte Legende im Westen, dass „die 68er“ abgerechnet hätten mit den Vätern und sie deshalb von ihrem Thron stürzten.

Aber war dem überhaupt so?

Wollten nicht andersherum „die 68er“ die Väter von ihrem Thron stürzen, um selbst darauf zu sitzen? So selbstgerecht wie die Väter? Und machten sie nicht deshalb die Abrechnung auf? So naseweis wie ich, als ich 21 war?

Und von welchem Thron war denn mein Vater noch zu stürzen in diesem Neufünfland? Auf dem Thron saß doch schon einer aus dem Westen.

Nein, es gibt unter den Nachgeborenen in Neufünfland kein „68“, kein Abrechnen mit den Vätern. Eher ein Solidarisieren mit ihnen.

Und es ist sehr einfach erklärt, warum dem so ist.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

2 Gedanken zu “Nach dem Vater, oder: Warum es in Ostdeutschland kein „68“ gibt;”

    1. avatar

      Das mit dem Kloss war nicht beabsichtigt, lieber Daniel Anderson.

      Vielmehr wollte ich dem Herbergsvater dieses Blogs erzählen, warum die Auseinandersetzung mit den normopathen Vätern im Osten anders verläuft als 1968 im Westen.

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