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Nach dem Vater, oder: Warum es in Ostdeutschland kein „68“ gibt

Bild unten: Vater in den 1960ern

1982, 21 Jahre bin ich alt und aus dem Gefängnis in Brandenburg entlassen. Vorbestraft unter dem Vorwurf, ich hätte aus einem Ungarn – Urlaub nicht in die DDR zurückkehren wollen. Strafbar nach § 213 Absatz 2 des Strafgesetzbuches der DDR. Meine Schwester ist Startläuferin in der 4X100-Meter-Staffel der Olympiaauswahl der DDR-Leichtathleten. Reisekader ins „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, NSW“. Eine, die von dort immer wieder zurückkommen soll. Und das Ministerium für Staatssicherheit hatte deswegen Einwände gegen meinen Freikauf erhoben (Aktenausschnitt unten).

So werde ich also, anders als 95 % meiner Haftkameraden aus den Untersuchtungshaftanstalten des MfS, nach Weißenfels entlassen.

„Weglaufen ist keine Lösung!“ Sagt der Vater, der mich empfängt. Während er seinen Kaffee umrührt. Den Westkaffee von Oma. Nicht diesen DDR-Rondo.

„Du hast dort Deinen Mann zu stehen, wo Gott Dich auf die Welt hat kommen lassen!“

Das hat mir gerade noch gefehlt. Der Geburtsort als Gottesgericht.

„Die Mauer hat nicht Gott gebaut, Vater, die Mauer haben die Kommunisten gebaut.“ Und dann hole ich auch gleich zum Gegenangriff aus, dem Angriff auf Vaters Parteibuch:

„Du Blockflöte!“

Vater führt einen kleinen Webereibetrieb. Handweberei. Kunsthandwerk.

Vater ist Obermeister der Kunsthandwerker an der DDR-Handwerkskammer zu Halle an der Saale. Und Halle ist die Leitkammer für das DDR-Kunsthandwerk. Und dann sitzt er auch noch im Bezirksvorstand des Verbandes Bildender Künstler der Deutschen Demokratischen Republik.

„Du weißt, Sohn,“ sagte der Vater, „dass ich das alles nicht sein könnte ohne mindestens ein Blockparteibuch. Keine Meisterprüfungen abnehmen könnte, keine Weiterbildungen organisieren.“

„Na und?“ Erwidere ich. „Dann macht die Speichelleckerei halt ein anderer.“

„Es gibt keinen anderen und wenn ich es nicht tue, dann geht das Handwerk noch weiter den Bach runter.“

„Na und Vater, Du Kommunistenknecht!“ erwidere ich heftig. „Dann geht’s halt den Bach runter. Hast Du nicht begriffen, dass die Kommunisten dieses Land erst aus ihren Klauen lassen, wenn es den Bach runter ist! Pleite? Fix und fertig?“

Vater schaut mich mit entsetzten Augen an: „So könnte ich nie denken!“

Einmal werde ich selbst Vater werden und mein Vater wird im Sterben liegen. Das wird im 7. Jahr der deutschen Einheit sein und 8 Jahre seit der Währungsunion. Die den Bankrott von Vaters Betrieb bedeutet hatte. Zu diesen Produktionspreisen in Westgeld findet Handweberei keine Käufer mehr. Allenfalls noch in einem Seitental in Südtirol, wo der Geldbeutel des Touristen etwas lockerer sitzt.

„Vater,“ werde ich sagen. „Kannst Du noch warten? Du hast Deinen Enkel noch nicht gesehen.“

Vater wird lächeln und warten und den Buben noch in den Arm nehmen, bevor er geht.

Immer mal wieder wird er auf seinem Sterbebett an einem Lehrbuch der Bindungstechniken bei Geweben tippen. Der Rektor der Kunsthochschule Burg Giebichenstein zu Halle/Saale, einer aus dem Westen, hatte ihn darum gebeten. Er hatte Vater dorthin an die Einrichtung geholt, als Werkstattmeister für die Textilgestalter.

Der öffentliche Dienst ist noch immer der einzig sichere Arbeitsplatz im Neufünfland des Jahres 1997. Und sicher ist das mit dem Lehrbuch-Auftrag auch ein lobenswerter Akt der Seelsorge. Sterbende brauchen eine Aufgabe.

Habe ich noch etwas abzurechnen mit Vater?

Warum denn?

Es ist eine hartnäckig gepflegte Legende im Westen, dass „die 68er“ abgerechnet hätten mit den Vätern und sie deshalb von ihrem Thron stürzten.

Aber war dem überhaupt so?

Wollten nicht andersherum „die 68er“ die Väter von ihrem Thron stürzen, um selbst darauf zu sitzen? So selbstgerecht wie die Väter? Und machten sie nicht deshalb die Abrechnung auf? So naseweis wie ich, als ich 21 war?

Und von welchem Thron war denn mein Vater noch zu stürzen in diesem Neufünfland? Auf dem Thron saß doch schon einer aus dem Westen.

Nein, es gibt unter den Nachgeborenen in Neufünfland kein „68“, kein Abrechnen mit den Vätern. Eher ein Solidarisieren mit ihnen.

Und es ist sehr einfach erklärt, warum dem so ist.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

14 Gedanken zu “Nach dem Vater, oder: Warum es in Ostdeutschland kein „68“ gibt;”

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    Es muss natürlich heissen:

    „Nur wer bereit ist, seinen Widersacher zu studieren und von ihm zu lernen, wird sich auch erfolgreich gegen ihn zur Wehr setzten können.“

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    Wäre ich ein Rechter, lieber Bodo Walther, würde ich sagen; „Heul doch!“ Aber ich bin kein Rechter. Das ist ja das Irre, dass sich die Verlierer der Geschichte (wozu sozio-ökonomisch gesehen Ihr Vater gehörte) so oft jenen anschließen, die Begriffe wie „Verlierer“, „Opfer“, „Schwache“ nur pejorativ gebrauchen.
    Die Ex-DDR legt sich eine kollektive Opfergeschichte zurecht und wähl rechts. Wählt die Partei, die von Elon Musk empfohlen wird, der mit der Kettensäge das durchsetzen will, was die CDU in der DDR mit der Treuhandanstalt und der Gauck-Behörde durchsetzte. Das kann man nicht erfinden.
    Während die Polen und Balten stolz Putin trotzen, wählen die Ossis die Partei, die das Kriechen vor dem ehemaligen Besatzer empfiehlt. Das kann man nicht empfinden.
    Ich kann mir das auch nicht erklären, außer mit der Einübung des Gehorsams seit 1933 und der Tatsache, dass diejenigen, die den Geist der Aufsässigkeit hatten, nach Westen gingen, und sei es auf dem Umweg übers Gefängnis, wie Sie.
    95% der Menschen mit Migrationshintergrund leben im Westen, aber im Osten siegt eine Partei, die Stimmung gegen solche Menschen macht. Wie soll man das anders bezeichnen als Ausdruck kongenitaler Dummheit? Übrigens ist das psychologisch ein bekanntes Muster: Wer unten ist, will jemanden haben, den er zugleich fürchten und verachten kann, den er zum Täter erklären und mit Füßen treten kann. Es ist so unendlich langweilig, und es nimmt nie ein gutes Ende.

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      Lieber Herr Posener,

      es gibt viele Legenden über die Wirtschaftskraft der DDR. Ihre Legende, dass mein Vater 1990 „sozio-ökonomisch“ zu den „Verlierern“ gehört habe, ist eine davon.

      Ein privater Handwerker durfte im Sozialismus bis zu 10 Angestellte haben. Wenn er das Gewerbe ausüben durfte. JEDES private Gewerbe bedurfte seit der DDR-Gewerbe(ver)ordnung von 1957 einer ERLAUBNIS. Die bekam man oder bekam sie nicht. Rechtsweg ausgeschlosssen.

      Jahres-Einkünfte eines privaten Handwerkers unterlagen bei 12.000 DDR-Mark einer Steuer von 3826 DDR-Mark + 51% des 12000 M übersteigenden Betrags. Die Steuer stieg dann exponential immer höher bis auf 98 % (!) der Einkünfte.

      Ein über 30.000 DDR-Mark liegender Betrag an Jahreseinkünften wurde bereits mit 84 % (!) besteuert.

      Das alles ist sozio-ökonomisch kein Status. Status war in der DDR ein Eigenheim. Aber auch für dieses gab es eine Wohnraumzwangsverwaltung. Die verordnete meinem Vater noch Mieter für 80 DDR-Mark Miete im Monat in seine winzige Doppelhaushälfte.

      Sagen wir mal so: Weder mein Vater noch meine Mutter haben 1990 an Status verloren. Haben allerdings nicht den Zugewinn an Status erhalten, den sie sich erhofft hatten. Meine Mutter webte dann bis zur Rente mit psychisch Angeschlagenen in einer geschützten Werkstatt der Diakonie. Da kam keine Kunst mehr zustande.

      Wenn ich schreibe, dass der Ostdeutsche den Kalten Krieg verloren habe, sollte ich dann doch noch erzählen, dass ich dabei als gewissermassen Krieger unterwegs war. Am besten mit noch einem Blog-Beitrag:
      https://starke-meinungen.de/blog/2025/02/26/als-ich-mir-meine-heimat-zurueckholte/

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    „Es ist eine hartnäckig gepflegte Legende im Westen, dass „die 68er“ abgerechnet hätten mit den Vätern und sie deshalb von ihrem Thron stürzten.
    Aber war dem überhaupt so? Wollten nicht andersherum „die 68er“ die Väter von ihrem Thron stürzen, um selbst darauf zu sitzen? So selbstgerecht wie die Väter? Und machten sie nicht deshalb die Abrechnung auf? So naseweis wie ich, als ich 21 war?“

    Nein. Das mit der Legende stimmt, und sie ist in vielfacher Hinsicht falsch, wie vielfach nachgewiesen wurde, etwa vom Spät-68er Götz Aly.
    Aber erstens hatten wir es nicht nötig, die Väter vom Thron zu stürzen. 68 studierten weniger als 10 Prozent eines Jahrgangs. Jedem von uns war ein guter Arbeitsplatz sicher, da die Wirtschaft boomte, die Konsumgesellschaft in Fahrt kam, die Schulen und Hochschulen massiv ausgebaut wurden. Zweitens wollten wir das nicht, sondern möglichst lange Spaß haben, und sei es in Form der Karikatur einer Revolution.

    Dann aber“68″ war doch keine westdeutsche, sondern eine internationale Erscheinung. Die Hauptstädte der Bewegung waren New York und Paris, Tokio, Mexico City – und Prag und Warschau. Prag und Warschau. Die wollten doch nicht Väter vom Thron stoßen. Und auch nicht Spaß haben. Es ging um einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

    Was passiert aber in einer Gesellschaft, in der es eine solche Revolution der Elite nicht gab? Die durch und durch plebejisch geprägt war, und anders als etwa Bayern, wo das ähnlich ist, nicht aus einer starken Verbindung der Elite mit den lokalen – etwa katholischen – Traditionen, sondern weil die Elite größtenteils rübergemacht hat? Was passiert mit einer Gesellschaft ohne Elite?

    Sie folgt importierten Eliten: Gauland, Höcke und Weidel, den Westimporten, die sich mit einem „schwärigen Haufen“ aus Ostdumpfbacken umgeben, die sie für ihre Zwecke in Bewegung setzen: denen geht es wirklich darum, Leute vom Thron zu stürzen; die Ossis sind dabei nur Manövriermasse in einem Kampf innerhalb der Elite, und das Ressentiment gegen „68“ so absurd wie das Ressentiment gegen den Siegeszug der Westprodukte und der westlichen Art, sie herzustellen. Wer die D-Mark ohne den Kapitalismus wollte, war einfach dümmer, als die Geschichte erlaubt, und – soviel zu „woken“ Sprechverboten – das wird immer noch nicht klar ausgesprochen: Ihr wolltet das. Ihr habt dafür gestimmt.

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      Lieber Alan Posener,

      zu Ihrem politisch unkorrekten Furor gegen den Ostdeutschen, welcher „den Sozialismus“ abgewählt und „den Kapitalismus“ dam 18. März 1990 drangewählt habe.

      Sie schreiben, dass dem Ostdeutschen die Eliten fehlen, weil die, wie zum Beispiel dieser Alexander Gauland aus Chemnitz gen Westen verschwunden seien. Und dass der Ostdeutsche deshalb Eliten aus dem Westen nachlaufe, wie zum Beispiel diesem Alexander Gauland aus Wiesbaden.

      Das ist schon in sich unschlüssig, aber auch ein unschlüssiger Sachvortrag findet Fans.
      Ich habe das mal hier auf dem Blog erzählt, die Geschichte als ich selbst mal so ein aus Bayern kommender „Wessi“ war:
      https://starke-meinungen.de/blog/2025/01/31/als-ich-mal-ein-dummarroganter-wessi-war/

      Ja, Amerika hatte 1989 den Kalten Krieg gewonnen und das Märchen von einer „Friedlichen Revolution“ ist erzählt, auf dass der Ostdeutsche das verkrafte.

      Und wie in jedem Krieg verlor der Verlierer des Kalten Krieges auch deswegen, weil er keinen mehr hatte, der für ihn kämpfen wollte. Das Volk rebelliert sogar gegen das Ansinnen, für die verlorene Sache kämpfen zu sollen.

      Mein Vater übte ein aussterbendes Gewerbe aus: Die Weberei. Wie seine Mutter. Und wie sein Großvater.
      Eigentlich ist das Gewerbe ja nicht ausgestorben, es findet in anderen Teilen der Welt sehr wohl statt. In Pakistan z.B., wo die Baumwolle ihren Ursprung hat und damit auch alle Erfahrung mit diesem Rohstoff.

      Und wo die Menschen heute noch für so wenig Geld arbeiten wie die Menschen damals in der DDR.

      Sachsen war 1989 das letzte Zentrum der deutschen Textilindustrie. Dass das weg ist (auch die Schuhindustrie ist „weg“), hat nix mit „Kapitalismus“ zu tun. Sondern mit Globalisierung.

      Das ist nicht nur gut, dass „wir“ manches Handwerk nicht mehr können und auf das Schiff aus China warten.

      „Mit der deutschen Textilindustrie,“ sagte Vater 1992 „stirbt auch die deutsche Textilmaschinenindustrie. Wer nicht mehr webt, kann keine Webmaschinen mehr.“ Das war, als er für die Textilwerkstatt an der Kunsthochschule einen High-Tec Jaquard – Webstuhl suchte. Einen, auf dem man am Bildschirm ein Textil-Design entwirft, dann auf ENTER drückt und hinten kommt das Einzelstück als Gewebe raus. Er fand die Maschine in Lyon. 750.000 DM kostete sie.

      „Würde ich gern als Firma machen.“ sagte er. „Aber ich bin jetzt 58 und da kriegste keinen Kredit.“ Er hatte das große Glück, diesen Traum als Staatsangestellter verwirklichen zu können.

      Übrigens:

      Mein Vater schrieb gleich nach dem Mauerfall im November 1989, was die DDR-Wirtschaft jetzt brauche seien

      ZOLLSCHRANKEN.

      Da war aber ich der Entsetzte, denn gerade das ging nicht.

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        Elite bezeichnet soziologisch eine Gruppierung überdurchschnittlich qualifizierter Personen.

        Die ‚Ossis‘ waren und sind die Elite Deutschlands. Wer will das bestreiten?

        Kurz; die ‚Ossis‘ verachten die ‚BRD‘-68er, weil sie in deren ‚Zukunft‘ leben mussten und sollen.

        68er? – hat fertig und kann weg.

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      Das mit dem Kloss war nicht beabsichtigt, lieber Daniel Anderson.

      Vielmehr wollte ich dem Herbergsvater dieses Blogs erzählen, warum die Auseinandersetzung mit den normopathen Vätern im Osten anders verläuft als 1968 im Westen.

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        In gewisser Weise habe ich den Kloß genossen, lieber Bodo Walther, denn das hat mich an meine Haftzeit in Cottbus erinnert. Es mag paradox erscheinen, aber manchmal darf man das Verdrängte und Überwundene auch willkommen heißen. Nachmal: Danke.

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      Wann waren Sie in Cottbus, lieber Daniel Anderson ?
      Ich war dann noch 1984/85 dort.
      Eine Gruppe von amnesty international in Bradford/UK schrieb Briefe für mich und das MfS entschied, mich am 13. März 1985 dann doch gehen zu lassen.

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        Hallo Herr Walther,

        der Freie Markt in seiner Idealform funktioniert in der Theorie am besten und soll am gerechtesten sein, wenn es keine Beschränkungen SOWOHL hinsichtlich des freien Waren- ALS AUCH Personen-(bzw. Arbeitskrafts-)Verkehrs gibt.

        Zollschranken finde ich daher grundsätzlich genauso schlecht wie die Einschränkung des weltweiten freien Arbeitskraft-Marktes. Das steht mehr oder weniger so schon bei Adam Smith und auch die knallharten Ökonomie-Liberalen wie Milton Friedman haben das so gesehen:

        https://www.capital.de/wirtschaft-politik/politik-zuwanderung-friedman-oekonom-liberale-otte-tichy-8579

        Freier Waren- und Personenverkehr lässt sich auch mit der Christlichen Lehre oder mit dem philosophischen Konzept von John Rawls erklären.

        Auch die EU wurde von Anfang an sowohl auf dem Prinzip der freien Waren- und Dienstleistungsfreiheit als auch auf dem Prinzip der Freizügigkeit aufgebaut worden.

        Und wenn man sich Europa und seine Entwicklung bis 1990 anschaut, war das eine absolute Erfolgsstory.

        Wie gesagt, das sind alles Idealvorstellungen und um weltweit dahin zu kommen, muss man den Übergang intelligent organisieren.

        Und da hatte Ihr Vater aus meiner Sicht grundsätzlich keinen dummen Gedanken. Bei einem geordneteren Übergang (der weder von den ökonomischen Analphabeten in der DDR-Bürgerschaft gewollt wurde geschweige denn vom Westen) hätte sich die DDR den Marktzugang westlicher Hersteller teuer bezahlen lassen können. Das ist natürlich alles nur Theorie. Die Praxis war eine gemilderte Form der Schocktherapie der berüchtigten Chikago-Boys. Auf kurze Sicht hat dabei vor allem der Westen gewonnen.

        Viel schlimmer ging es in Russland noch unter Jelzin ab, wo die sog. Schocktherapie Russland teilweise in tiefste Armut warf, die wirtschaftliche Entwicklung hemmte und letztlich Putin an die Macht verhalf. Ausserdem führte diese Politik zu all den Oligarchen und all der Korruption.
        Und wenn hier gleich Herr Posener einfällt:

        Doch, Sie können nicht alles auf Putin schieben, die Komzentration von wirtschaftlicher Macht bei gleichzeitigem Zerfall von staatlicher Verfasstheit führt zu immer stärkerer wirtschaftlicher Konzentration und Korruption. Das hat Putin so vorgefunden und dann teilweise bekämpft und gleichzeitig für sich genutzt, solange es ihm half.

        Sowohl die gemässigte Schocktherapie in den „neuen Bundesländern“ als aich die radikalere russische Variante haben diese Gebiete letztlich in den Kapitalismus überführt. Mit mehr oder weniger wirtschaftlich positiven Effekten. Man kann aber nicht nur auf die wirtschaftlichen Zahlen bei so einem Übergang schauen sondern such auf die „Seelen“ der Menschen und die Stimmigkeit der erzählten „Geschichten“.

        Sie erzählen dad in Ihren Beiträgen hier bei SM ja sehr eindrücklich, dass die Weltsichten sowohl in „der DDR“ als auch bei „den Westlern“ recht heterogen war und ist.

        Und so haben wir gerade in den ostdeutschen Ländern viele Menschen, denen es objektiv gar nicht schlecht geht, die aber trotzdem unzufrieden sind, weil sie sich weder verstanden noch ernst genommen fühlen, weil sie auch tatsächlich von vielen im Westen weder verstanden wetden noch ernst genommen werden.

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        Hallo Herr K.,

        bei der notwendigen Privatisierung „Sozialistischen Eigentums“ im Osten zum Schaffen eines Marktes denken wir immer nur an die Treuhand, welche die „Volkseigenen Betriebe“ privatisierte.

        „Sozialistisches Eigentum“ waren aber auch mit § 18 Abs. 1 und 3 des Zivilgesetzbuches der DDR die zu privatisierenden „Sozialistischen Genossenschaften“.

        Diese sollten durch einen „gerechten“ Beschluss der Genossenschaftsmitglieder in eine Rechtsform des Bürgerlichen Rechts umgeformt werden. Das sah § 7 des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes so vor:
        https://www.gesetze-im-internet.de/lanpg/__7.html

        In der Praxis gründete der clevere Vorsitzende der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, LPG, eine GmbH, in der er die bestimmenden Kapitalanteile hielt. Im schlimmsten Fall gehörte sie ihm dann ganz allein und die anderen Mitglieder gingen leer aus („Seid froh, wenn ich diese Last übernehme, nach dem westdeutschen Genossenschaftsrecht habt Ihr alle eine Nachschusspflicht in diesen bankrotten Laden. Das werdet Ihr los, wenn allein ich das für Euch mache.“)

        Wenn Sie so wollen: In der Landwirtschaft in Ostdeutschland lief das ab, was in Rußland ablief. Mit dem Unterschied allerdings, dass es (fast) keine Toten gab beim Run aufs Kapital.

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        Lieber Herr W.,

        was mir an dem einen oder anderen Ostdeutschen Intelligenzler gefällt, ist manchmal ein gewisses Undestatement, das die kultiviert haben. Wenn Sie von den LPG-Leitern erzählen, kommt mir unweigerlich Frau Merkel in den Sinn oder der Chef von Nord Stream 2, Herr Warnig, den ich einmal kennenlernen durfte. Beides sind hochintelligente Menschen, die, wenn man sie nicht kennt, einen eher zurückhaltenden Eindruck von sich vermitteln können. Aber von der Haltung her sind sie eigentlich sehr klar und wissen was sie wollen und wie sie ihre Ziele durchsetzen können. Daher werden und wurden sie von vielen unterschätzt. Die Masche: Das ist lästig, ich mach das für Euch, mir könnt Ihr vertrauen! hat nicht nur in den LPGs funktioniert, sie funktioniert vor allem in der Politik sowohl im Osten als auch im Westen.

        Merkel hat in der CDU am Anfang die lästigen Arbeiten gemacht und sich im Hintergrund gehalten.
        Als sie dannnKanzlerin war, hat sie 2008 gesagt: „Die Einlagen sind sicher!“

        2015: „Wir schaffen das!“

        Und mehr oder weniger hat das auch geklappt, man hat alle 4 Jahre sein Kreuzchen gemacht un die meisten waren einigermassen zufrieden und haben darauf vertraut, dass „Mutti“ das schon regelt.

        Warnig hat still und leise die Pipelines gebaut und die Politiker durften sich anfangs damit schmücken. Die Pipelines wurden Deutschland ja nicht von den Russen aufgedrängt, es war die deutsche Wirtschaft, die das billige Gas haben wollte, die energieintensiven Industrien, die Energiewirtschaft und auch die Bevölkerung freute sich über stabile Gaspreise. Und der freundliche tapsige Ossi hat geliefert. Alle waren zufrieden, bis der Ukrainekrieg eskalierte.

        Und bei Merkel lief ja auch lange alles relativ gut, bis Corona kam und nach ihrer Amtszeit dann noch der Krieg und dann noch die Klimaprobleme, die Infrastrukturprobleme und man merkte plötzlich, dass vieles unter Merkel versäumt wurde und man danach noch eine dysfunktionale Regierung hatte, die mit den Problemen offensichtlich nicht zurande kam.

        Manchmal hatte ich dabei den Eindruck, dass in der Ampel-Regierung sich die typischen westdeutschen Eitelkeiten im Wege standen bzw. gegenseitig behinderten. Besonders unangenehm fand ich Frau Baerbock, Herrn Lindner und Herrn Habeck.

        Mit ein wenig mehr Understatement wären die möglicherweise besser gefahren. Die Menschen sind ja nicht blöd und merken, dass es mit dem Gerede von Menschenrechten nicht weit her ist, wenn Habeck in Katar den grünen Bückling macht und Baerbock in Syrien einen islamistischen Folterknecht als „Befreier“ hofiert, wenn Habeck von Umwelt schwafelt und Fracking-Gas aus den USA anlanden will. Das kann man nur machen, ohne Schaden an seiner Glaubwürdigkeit zu nehmen, wenn man vorher die Klappe nicht zu weit aufgerissen hat. Merkel war zunächst – leise – gegen die Abschaltung der AKWs und nach Fukushima konnte sie daher ohne grossen Gesichtsverlust sich dem Zeitgeist anschliessen und die AKWs dann doch abschalten.

        Und die Wahlergebnisse der FDP im Osten zeigen, dass die Ostdeutschen eines nach der Wende gelernt haben, wer allzu dick aufträgt, der ist unseriös, denn mit Versicherungsvertretern und Hütchenspielern aus dem Westen hat man dort seine Erfahrungen gemacht.

        Das macht die AfD viel geschickter, die hat vielleicht einen belehrenden Ton gegenüber den anderen Parteien und den Medien, aber so gut wie nie gegenüber den Wählern. Und man versucht mittlerweile in der AfD auch, die eigenen Ambitionen der Protagonisten nicht so in den Vordergrund treten zu lassen, was glaube ich auch bei den Leuten gut ankommt. Die haben technisch viel richtig gemacht.

        Nur wer nicht bereit ist, seinen Widersacher zu studieren und von ihm zu lernen, wird sich auch erfolgreich gegen ihn zur Wehr setzten können.

        Das fällt aber vielen offensichtlich schwer, vor allem, wenn sie selbst an der Macht sind und sich für unwiderstehlich schlau und kompetent halten.

        68er

      4. avatar

        „Die FDP“ war im Osten noch in den 1990ern eine andere Partei, lieber 68er.

        Wer in der DDR nicht in die SED eintreten wollte, aber trotzdem „was werden wollte“, der nahm ein Blockparteibuch. Das der „Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, L.D.P.D.“ zum Beispiel, deren Mitgliederbestand die FDP 1990 geerbt hatte.

        Oder der DDR-CDU. Katholiken wurden in der DDR der 1980er Jahre ganz offen vom z.B. sächsischen, also Meißner Bischof dazu aufgerufen, gezielt die CDU als „Nische“ zu wählen.

        In Sachsen-Anhalt war bei den noch einigermaßen freien Wahlen 1946 die L.D.P.D. stärkste Partei geworden und stellte sogar den Ministerpräsidenten (Der freilich nur ein Maskottchen der Sowjets war.).

        https://de.wikipedia.org/wiki/Erhard_H%C3%BCbener

        Die CDU stand 1946 im Kernland der Reformation im Ruf, ein „Katholikenverein“, eine Neuauflage des ZENTRUM zu sein.

        Da könnten Protestanten nicht mitmachen.

        Noch lange nach 1990 war die in FDP umbenannte L.D.P.D. eine sehr starke Kraft in Sachsen-Anhalt. Vor allem kommunal. Als Erbe der L.D.P.D. die ja in der DDR auch Bürgermeister stellen durfte.

        Ganz selbstverständlich sagte der Weißenfelser FDP-Vorsitzende noch 2001 zu mir:

        „Ich war gut befreundet Ihren verstorbenen Vater. Er war ja auch in unserer Partei.“

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