1993, Dezember. Den schriftlichen Teil des 2. Juristischen Staatsexamens habe ich bestanden. Im Januar muss ich noch zur mündlichen Prüfung nach München. „Schaffen Sie schon!“ sagt mein Ausbildungsrichter im Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg.
In der Neuen Juristischen Wochenschrift, NJW, habe ich eine Ausschreibung gelesen. Sie suchen Mitarbeiter und Sachgebietsleiter zum Aufbau einer Wiedergutmachungsbehörde zum „SED-Unrecht“ in Leipzig, Dresden und Chemnitz. Befristetes Arbeitsverhältnis zunächst, aber eine unbefristete Anstellung stehe in Aussicht.
Mein Traumjob !
Glaube ich.
Auf mich, einen ehemaligen Gefangenen des Ministeriums für Staatssicherheit, heute ausgebildeter Volljurist, kann eine sächsische Wiedergutmachungsbehörde zur Wiedergutmachung des „SED-Unrechts“ doch gar nicht verzichten! Jedenfalls nicht im Jahr 1994.
Glaube ich.
„Herr Walther,“ so fragt der sächsische Personalratsvertreter beim Vorstellungsgespräch in Dresden, „Sind Sie nu ein Ossi oder ein Wessi ?“.
„Wieso ?“ frage ich zurück. „Na in Ihrer Bewerbung haben Sie eine Adresse in Bayern angegeben. Und nun geben Sie eine Adresse in Sachsen-Anhalt an.“
„Spielt das eine Rolle?“ So frage ich erneut. „Das spielt for uns eine große Rolle. Haben Sie selber noch Fragen?“
„Ja.“ Sage ich. „Eine Frage habe ich noch. Nehmen Sie mich? Weil, ich habe natürlich noch weitere Behörden angeschrieben.“
Was nicht ganz die Wahrheit ist.
Neufünfland 1990 und Folgejahre, das Paradies für juristische Berufsanfänger
Das Landratsamt Leipziger Land, das mich einstellen will, hatte ich gar nicht angeschrieben. Ich hatte einfach nur den Pförtner gefragt: „Brauchen Sie hier einen Juristen?“ Und der hatte erwidert: „Weiß’ch nicht. Müssen Sie mai hoch ins Personalamt gehen.“ Und die Personalchefin dort hatte gesagt: „Herr Walther, Sie schickt der Himmel. Können Sie am übernächsten Montag anfang’n ?“
Könnte ich. Unbefristeter Arbeitsvertrag. Einstiegsgehalt Vergütungsgruppe 13, alles bestens.
„Fangen Sie erst mal dort an.“ Sagt der vom bayrischen Landessozialgericht ins Dresdner Sozialministerium abgeordnete Richter im dortigen Vorstellungsgespräch. Er verdient sich mit der Versendung in den wilden Osten gerade seine künftige Richterstelle am Bundessozialgericht. „Die kurzen Kündigungsfristen in der Probezeit sind auch für den Arbeitnehmer aufgestellt.“
Also werde ich „erst mal“ fünf Monate lang ein sächsischer Kommunalbediensteter in einem Bauordnungsamt. Im Leipziger Umland stapeln sich die Bauanträge.
Bis dort das Telefon klingelt. Dresden. Sozialministerium.
„Wir ha’m eine gute Nachrichd for Sie, Herr Walther! Sie können am Montag anfang’n. In Leipzig.“
Ja Montag geht noch nicht. So kurz sind die Kündigungsfristen in der Probezeit nun auch wieder nicht. Aber auch das ist kein Problem. Ich bin begeistert.
Aufarbeiter
In der neuen Arbeit müssen unsere 1994er Gesetze, das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz und das Berufliche Rehabilitierungsgesetz zunächst einer Öffentlichkeit vorgestellt werden.
Das macht unsere Fachaufsicht, der neue Referatsleiter, Dr. Rainer Gaebler, im Dresdener Sozialministerium.
„Wissen Se, das müssen Sie sich mal merken…“ So antwortet dieser auf einer Informationsveranstaltung, in der ehemalige politische Gefangene der DDR Fragen über Fragen haben:
„In einem Rechtsstaat ist das Ministerium immer for die Grundlinie verantwortlich. Zu Einzelheiten müssen Sie schon einen Sachbearbeiter fragen.“ Und:
„Die Juristen, die mach’n ja Gesetze, die nicht einmal ich verstehen.“
Dr. Gaebler hat an der Bergakademie zu Freiberg in Sachsen zu Kegelkennzahlen bei Brenngasen promoviert. Verstehen Sie wiederum das ?
Also, das hat mit der Dichte der Brenndüsen bei der Gasverbrennung zu tun, habe ich mich kundig machen müssen. Das war wichtig in Neufünfland bei der Umstellung von „Stadtgas“ auf Erdgas. Das ist jetzt zu Ende bei der MITGAS und Dr. Gaebler, hatte sich beruflich neu zu orientieren. Da war es schon von Vorteil dass er in der DDR Synodaler in der sächsischen Landessynode der Evangelischen Kirche war. Wie der Minister auch.
Ach so, die Informationsveranstaltung:
Da stehe ich also auf, sage, dass ich so ein von Dr. Gaebler genannter Sachbearbeiter sei. Und dass die Sachlage wohl wie folgt zu beurteilen wäre. Dafür sitze ich dann dort unter den ehemaligen Haftkameraden bis weit nach Mitternacht.
„Sie haben es ja gehört, Herr Walther!“ Seufzt Dr. Gaebeler in der Woche darauf in der Chemnitzer Kantine. „Anstrengend, diese Vorfolgten. Diese FÄKALIENSPRACHE !“
„Verfolgte saßen in der DDR in Zuchthäusern, nicht in Bergakademien. Das liegt in der Natur der Sache.“ Erwidere ich. Und: „Ich kann Ihnen diese Veranstaltungen gern abnehmen.“
„Nee, Herr Walther, Öffendlichkeitsarbeit, das muss schon das Minisderium machen. Da können wir nicht so einen kleinen Sachbearbeiter wie Ihn’n da hinschicken.“
Aber muss ich ein kleiner Sachbearbeiter bleiben? Warum werde ich nicht wenigstens Sachgebietsleiter?
Diese seien aber aus dem Kreis der Nichtjuristen auszuwählen, so steht es im Grundsatzpapier, das auf dem Schreibtisch des Leiters, des Aufbaustabes, Dr. Fischer, liegt. „Warum?“ Frage ich diesen.
„Die Juristen, die Wessis, die wiss’n doch gar nicht, was wir in der DDR gelitten haben.“
Nein, ich mag sie überhaupt nicht, diese DDR-Bürgerrechtler mit ihren Doktortiteln, die von ihren schweren Leiden in der DDR erzählen.
Also schreibe ich eine Gegenvorstellung an den Minister. Auf dem Dienstweg, wie sich das gehört für einen öffentlich Bediensteten. Hier ist sie:
Das Schreiben (Bild oben) gibt mir der Präsident des Chemnitzer Landesamtes im Original zurück. Mit seinen Anmerkungen darauf. Niemals gebe es eine solche Festlegung. Und Dr. Fischer hätte so etwas auch gar nicht weitergeben dürfen.
„Sie haben mir damit sehr geschadet.“ Seufzt mir Dr. Fischer nun in der Chemnitzer Kantine vor. „War nicht meine Absicht.“ Erwidere ich wahrheitsgemäß. Absicht ist nämlich etwas anderes als „billigend in Kauf nehmen“, wie der Jurist weiß.
Dann trifft mich der Personalabbau. Alle Juristen werden entlassen. Nicht nur ich. Mit Gnadenfrist bis Ende nächsten Jahres.
„Herr Walther.“ Rät der Aufbauhelfer vom bayrischen Versorgungsamt in Landsberg. „Erwarten Sie koa Wunder von diesem Ministerium. Schaug’n’s zu, wie Sie etwas anderes finden.“
„Es trifft auch mich, Herr Walther.“ Seufzt wiederum Dr. Gaebeler in der Chemnitzer Kantine.
„Die Wessis in der Staatskanzlei vom Biedenkopf haben eine neue Ossi-Bremse erfunden. Die haben festgelegt, dass Referatsleiter in einem Ministerium nur sein dürfe, wer mindestens 5 Jahre in einer nachgeordneten Behörde gearbeitet had. Nu muss ich erst mal die Reghabilitierungsbehörde leiten. So ein Blödsinn, ich werde gar keine fünf Jahre voll bekommen. Dann bin ich nämlich in Rente.“
Nach Hause
Doch, ich finde etwas anderes.
In der Innenverwaltung Sachsen-Anhalts. Ich kündige und lasse mir meine Beurteilung geben.
Im Magdeburger Landtag sind sie nämlich auch sauer auf alle diese Wessi-Juristen.
„Wie viele leitende Mitarbeiter in den Ministerien kommen aus dem Westen?“ So hat der Hallenser SPD-Landtagsabgeordnete Thomas Felke gefragt. „Wie viele wohnen da heute noch?“
Die Antwort ist erschreckend. Etwa die Hälfte der Magdeburger Ministerialbürokratie wohnt westlich der Landesgrenze und rollt montags ein ins Land und freitags wieder aus. Von Magdeburg bis Helmstedt in Niedersachsen sind es nur 50 km. Böse Zungen sagen, nur deshalb sei Magdeburg und nicht Halle überhaupt Landeshauptstadt geworden.
„Wie will unsere neue SPD-Regierung dies langfristig ändern?“ Das hat der Abgeordnete auch gefragt.
Ja, das ist schwierig, weil das alles gar keine Altlast der Vorgängerregierung von CDU und FDP ist.
Das zweite juristische Staatsexamen ist als Laufbahnbefähigung für den höheren allgemeinen Verwaltungsdienst definiert und die Ausbildung erfordert mindestens vier Jahre Studium plus drei Jahre Referendariat. Sieben Jahre. Welcher Ostdeutsche bringt das schon mit im Jahr 1995?
Aber da gibt es etwas im Einigungsvertrag. Der Westen hat sich nämlich verpflichtet, alle DDR-Diplomjuristen der Abschlüsse 1987 bis 1992 in einem dreijährigen Rechtspraktikum umzuschulen. Sofern diese das wollen. Die Umschulung ist jetzt abgeschlossen und 1995/96 wird die Landesregierung nur noch solche einstellen.
„Nicht ablehnen. Einladen!“ Hat der damalige Personalchef im Magdeburger Innenministerium, Godehard Vagedes quer über meine Bewerbung geschrieben. Ich bin ihm heute noch dankbar Und er kann mir sogar gleich nach dem Vorstellungsgespräch im Sommer 1995 sagen, dass mich die Einstellung erwarte. Regierungspräsidium Halle? Gern.
„Haben Sie einen Wunsch zu Ihrem Einsatz?“ So fragt mich die Hallenser Personalchefin auf der Rückfahrt vom Vorstellungsgespräch nach Süden.
„Ja. Alles, nur nicht Bereinigung von SED-Unrecht.“