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Königsberg

Kaliningrad im November 1993. Ich stehe auf dem First der Kirche „Zur Heiligen Familie“ (Im Bild links.).


Die letzte Dachplatte ist gelegt im ostpreußischen Norden. Gerade rechtzeitig, in jenem November 1993, denn schon beginnt es zu schneien. Die Teile sind noch zu verschrauben mit all den Stiften, die auf dem Transport von Deutschland durcheinander geraten waren. Der greise Pfarrer Reifferscheidt sortiert die Muttern.

Er ist ein Ermländer, der einst noch als junger Kaplan 1944 in der damaligen Kirche „Zur Heiligen Familie“ die Messe gelesen hatte. Die damalige katholische Hauptkirche Königsbergs ist heute ein städtisches Musik – Konservatorium.

Ostpreußen war seit dem 6. Juli 1525 evangelisch geworden.
Allein das der polnischen Krone unterstehende Ermland blieb katholisch. Fast alle deutschen Katholiken aus Ostpreußen sind Ermländer. Wenn sie in Königsberg lebten, waren sie meist aus dem Ermland zugezogen.

1992 hatten die Moskauer Behörden dem litauischen Priester Danupras Geronskas erlaubt, nach Kaliningrad zu ziehen, um die dortigen Katholiken zu begleiten. Und sie hatten dem vormaligen Sowjetbürger die russische Staatsbürgerschaft zugestanden.

Eine unglaubliche Großzügigkeit, wie ich lange glaubte. Erst sieben Jahre später reime ich mir zusammen, was sich die russische Obrigkeit dabei gedacht haben muss.

Trotzdem – Danupras begann einen langen Machtkampf mit den Kaliningrader Stadtoberen, als er mit seiner neuen Gemeinde die Messe auf dem Platz vor der alten Kirche „Zur Heiligen Familie“ feierte. Meist litauische oder polnische Familien standen dort, jeden Sonntag, bei Hitze und Kälte, Regen und Schnee. Und jeden Sonntag wurden es mehr.

Im Sommer 1993 hatte also die Stadtverwaltung einen Kompromiss angeboten und der Gemeinde einen Bauplatz am Ufer des Pregel zugewiesen. Das deutsche Bistum Augsburg hat eine Fertigteilkirche zur Verfügung gestellt. Die Betonplatte ist gegossen.

Nun stellen wir die Teile. Ich, ein Referendar, ein Beamtenanwärter für den höheren nichttechnischen Verwaltungsdienst und all die anderen „deutschen Spezialisten.“

Tag und Nacht haben die litauischen Großmütter die Teile bewacht. „Vor den Russen, den Kommunisten, den Verbrechern“ – wie mir eine von ihnen sagt.

„Die Russen sind nicht durchweg Kommunisten und auch keine Verbrecher.“ antworte ich. Und: „Gott hat auch die Russen lieb.“ – „Nein -“ erwidert sie heftig, „Die Russen liebt kein Gott.“ – „Natürlich liebt Gott die Russen.“ sage ich. „Er hat sie doch erschaffen.“ – „Nein-“ sagte die litauische Großmutter, – „Die Russen hat der Teufel erschaffen.“

Ohne Igor, unseren ukrainischen Kranfahrer, hätten wir das alles nicht geschafft. Neben uns steht übrigens Helmut, ein gebürtiger Königsberger, den die Rote Armee 1945, als damals 17-jährigen Flakhelfer, in Gefangenschaft nahm. 5 Jahre war er in den Lagern.

Als wir uns ablichten lassen, ist er ein gerade in den Ruhestand getretener Stadtdirektor der Stadt Duisburg, zuletzt Leiter des städtischen Planungsamtes.

Die Straßenjungen, die obdachlosen Kinder, laufen mir hinterher. Einige von ihnen übernachten ab jetzt, dem späten Herbst schon in den Kanalisationsanlagen. Den frechsten habe ich mir gegriffen: „Du denkst, Du seiest ein echter russischer Held ?“ habe ich ihn gefragt. „Nein, nein, noch bist Du ein Däumling.“

„Der Junge – Däumchen“, so könnte man die russische Version des Märchens vom Däumling übersetzen und seinen Spitznamen hat er jetzt weg: „Maltschik Paltschik“.

Die Russisch-Orthodoxen in Kaliningrad haben auch erst ab den 1990er Jahren ihr Gemeindeleben entfalten können. Bis 1985 gab es keine Kirche im Oblast. Keine einzige.

„Was baut Ihr da eigentlich ?“ – fragt mich die russische Babuschka, die an ihrem Stock die Straße entlang gewackelt kommt. „Eine Kirche !“ Ja, nickt sie, das habe sie schon gehört. „Aber warum baut Ihr Deutschen eine Kirche für die Polen ? Für die Litauer ? Warum keine für uns ?“

„Das, Mütterchen,-“ antworte ich geschwind, „Das ist eine Kirche für Euch.“ – „Nein, nein, Söhnchen“ sagt sie, „Das ist eine katholische Kirche, keine russische. Das kann man ja schon von außen sehen.“

In Juditten, bei Jewgeni, dem russisch-orthodoxen Diakon bin ich mehrmals. In seiner Kirche, von außen ein Deutschordensbau aus dem 13. Jahrhundert, von innen erfüllt von Weihrauch und Ikonen, feiern wir die göttlichen Liturgie.

Jewgeni selbst steht noch vor der Priesterweihe. Er könnte sie sofort haben, an Priestern mangelt es dem Heiligen Synod. Nichts würde sich an seiner Arbeit ändern, schon jetzt steht der junge Mann den Orthodoxen Königsbergs vor.

Er aber ist unschlüssig. Der ledige Priesteramtskandidat in der Orthodoxen Kirche hat zur Weihe das Gelübde der Ehelosigkeit, den Zölibat abzulegen. Eine Ehe kann ein Orthodoxer damit nur vor dem Priesteramt schließen. Und geweiht wird zum Priester nur der Ehemann, dessen Frau der Weihe zustimmt. Eine Einrichtung, deren Gebrauch in der evangelischen Kirche sicher die Scheidungsrate bei Pastoren senken könnte.

Andererseits: Jewgeni sucht derzeit noch eine Partnerin, die dem Idealbild einer evangelischen Pfarrfrau des 19. Jahrhunderts folgt. Treu und folgsam. Ihrem Mann, der Gemeinde und damit Gott dienend und das alles, ohne eine Entlohnung dafür zu verlangen. Jewgeni wird eine solche Frau möglicherweise nicht finden im Europa des Jahres 1993.

Er erzählt mir von seinen Plänen und seiner Vorstellung von Gemeinde.
Eines werde er, Jewgeni, noch hinbekommen: Eine russisch – orthodoxe Kathedrale mit geschwungenen Zwiebelturm und dies an der Stelle, an der heute Lenin steht.

„Wir Katholiken“, sage ich, „Wir Katholiken bauen hier aus dem Überfluss des Westens. Ihr Orthodoxen baut aus den Kopeken der Witwe.“

Er schüttelt den Kopf und erzählt von seinen Geldgebern und Gönnern. Dem Staat, dem staatlichen Fernsehen und den Neureichen, die heute die russisch-orthodoxe Kirche umwerben.

„Jeden Tag will irgendein Kaliningrader Kamerateam, dass ich meine Kasel überwerfe, mein Weihrauchfass fülle und irgendwo neben irgendwelchen postkommunistischen Bonzen stehe und ihnen zu einem Schein von Heiligkeit verhelfe. Es ist unheimlich. Ich kenne sie doch alle noch von früher.“

Ostpreußen ist nicht zu vergleichen mit dem Sand Brandenburgs oder Mecklenburgs. Ostpreußen hat fette Schwarzerde-Böden.

„Schau,“ so sagt Danupras, der litauische Priester, als wir wieder über Land fahren. „Schau Dir die Brachflächen an. Auf über 50 Prozent der Äcker Ostpreußens wächst Unkraut. So ist das mit einem Haus, das der Hausherr verlassen musste.“ – „Die Russen“ – entgegne ich, „Die Russen können Hausherren sein. Du wirst es sehen.“ – „Nein,“ gibt er bestimmt den Ball zurück, „Die Russen können keine Hausherren sein. Sie sind Sklavenseelen. Wir kennen sie länger als Ihr aus dem Westen. Ihr solltet auf uns hören.“ – „Du kennst sie,“ so antworte ich ihm, „wie sie sein mussten, als sie dem Kommunismus dienten. Du kennst sie nicht, wenn sie leben, wie Gott sie sich gedacht hat.“

Die Gemeinde „Zur Heiligen Familie“ wird in der Folge rasant wachsen. Mit Maristen-Padres aus Polen, einem weiteren litauischen Priester, einem Diakon, von Beruf auch Zimmermann, der auf dem Gelände eine Berufsschule für russische Zimmermänner und Maurer errichten wird, mit zwei Marienschwestern aus Deutschland und natürlich der deutschen Ärztin in der Armen-Ambulanz. 2005 wird eine weitere, nun eine feste Kirche eingeweiht und die Gemeinde St. Adalbert gegründet werden.

Auch sie wird bescheiden sein, verglichen mit der neuen russischen Kathedrale, errichtet an dem Ort, wo Lenin stand.

Nein, mir ist nicht wohl, wenn ich heute an Kaliningrad denke.

Heute scheint es, als sei alles vergeblich gewesen.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

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