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Vom Sinn des Soldatseins – Erinnerungen an den Wehrdienst in der DDR (Teil 9/9)

Fast jeder Mann, der ungefähr vor 1970 geboren wurde und bis 1990 in der DDR lebte, musste dort den Grundwehrdienst in der NVA oder anderen kasernierten Einheiten ableisten. Der Autor, Jahrgang 1960, erinnert sich in neun Kapiteln an seine eigenen entsprechenden Erfahrungen.

Kapitel 9

Als Vater mich abholte, lag das Kapitel Armee hinter mir, versuchte ich mir einzureden. Dabei wusste ich nur zu gut, dass ich lediglich ein erstes großes Hauptkapitel hinter mich gebracht hatte; mehrere kleine wür­den mit Sicherheit noch folgen, die Frage war nur, wie lange die Schonzeit dauern würde. Denn der Staat betrachtete seine Bürger als Leibeigene und junge Männer ganz besonders, indem er sie nach Ableistung des Grund­wehrdienstes zu Reser­vi­sten deklarierte.

Nur knapp zwei Jahre später, im Frühjahr 1983, schlug er erneut zu, und zwar auf beson­ders perfide Weise. Denn alle wehrtauglichen männlichen Stu­denten des Landes mussten, wollten sie ihren Studienplatz nicht verlieren, im dritten oder vier­ten Semester für fünf Wochen in ein Militär­lager im ver­schlafenen thüringischen Ort Seeling­städt.

In der Ferne sah man die bei der Uran­förderung ent­stan­denen Abraumhalden der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut. Ehemalige Unter­offiziere wurden in Seelingstädt zu Reserve­offi­­zieren ausgebildet, niedere Char­gen wie mich machte man zu Gruppenführern. Vor allem aber ging es darum, uns angehen­den Aka­de­mikern klarzumachen, dass unser intellektuelles Vermögen und unser Dünkel keinen Pfiffer­ling wert waren und wir dem Staat gegenüber stets gefügig zu sein hatten.

Seit April 1981 war mein Haupthaar un­ge­schnitten geblieben, nun musste die Mähne schon wieder ab. (Trotzig hängte ich den Skalp in den Spind.) Solchermaßen präpariert hatten wir uns an einem Sammelpunkt einzufinden, wurden des Nachts per Sonderzug durchs Land transportiert, rückten in die Kaserne »Peter Göring« ein und erhiel­ten die üblichen Uni­formen und Aus­rüstungs­stücke. Verblüfft und erschrocken stellten wir fest, dass wir jeden Hand­griff noch immer mühe­los be­herrsch­ten. Binnen weniger Stunden waren aus übermütigen, über­heb­lichen Studen­ten wieder einsatzbereite, funktionierende Soldaten gewor­den. Wir traten in Reih und Glied an, marschier­ten zum Essenfassen, schossen mit der Maschi­nenpistole und reinigten sie hinterher so selbstver­ständ­lich, als hätten wir das zuletzt erst gestern getan, legten vorschriftsmäßig das Bett­zeug auf Kante und ordneten den Inhalt der Spinde.

Sobald wir die eingeübte Rolle übernommen hatten, regte sich reflektorisch in uns das Selbst­bewusst­sein altgedienter Hasen, sich von nie­man­dem etwas vormachen lassen zu wollen. Freilich scheiterte jeder, der sich den Befehlen und Vor­schrif­ten zu wider­setzen oder zu entziehen suchte, binnen kurzem. Der entschei­dende Unterschied zum Armeealltag, wie wir ihn bisher kann­ten, bestand nämlich darin, dass hier in Seeling­städt kein Entrinnen, kein »Abseilen« mög­lich war. Weder gab es Druckposten noch nie­dere Diensthalbjahre, und es griff auch nicht die übliche plebe­ji­sche Solidarität der Unterjochten. Nicht mitzuspielen war hier äußerst riskant. Unsere militä­rischen Leistungen und mehr noch unser »Be­tra­gen« wurden benotet, was in mei­nem Fall – ich erhielt eine »Drei« – die Redu­zierung des Lei­stungs­stipendiums bedeutete, wäh­rend eine »Fünf« gar zur Exmatrikulation geführt hätte.

Womit ich überhaupt nicht zurechtkam, waren die völlig veränderten Befehlsverhältnisse. Bei der »normalen« Armee standen sich Soldaten und Vorgesetzte klar antagoni­stisch gegen­über. Man hatte zu gehorchen und übte zugleich permanent Verwei­gerung. Hier in See­lingstädt aber waren die direkten Vorgesetzten Kommilitonen, die ihrerseits auf Durch­set­zungs­fähigkeit und Erfolg in der ihnen unterstellten Einheit bewertet wurden.

In meinem Fall handelte es sich um scharfe, linientreue, freilich auch intelligente Kriminalistik­studen­ten. Es ging mir gegen die Hut­schnur, mich ihnen unterzuordnen, und ich steigerte mich in eine Art Privatfehde spe­ziell gegen einen besonders eiskalten dieser Typen hin­ein, die ich natürlich – was ich mir nicht ein­gestehen wollte – nur verlieren konnte, denn die Macht war nicht auf meiner Seite. Nach zwei, drei Wochen drehte ich beinahe durch, schrie ihn hasserfüllt an, verweigerte den Betten­bau, riskierte einem Michael Kohl­haas gleich Kopf und Kragen bzw. mein Stu­dium.

Belastend kam hinzu, dass im theoretischen und politi­schen Teil der Ausbildung un­ver­blümt ein baldiger (Atom‑)Krieg gegen den Klassen­feind für mög­lich gehalten wurde. Das sowie­so stets gespannte Ver­hält­nis zwischen NATO und Warschauer Pakt war damals von besonders hef­tiger wechsel­seitiger Aufrüstung und von Drohgebärden ge­prägt. Ich musste lernen, dass beim fast täg­lich geübten Sturm­angriff von etwa einer Minute Dauer die durch­schnitt­liche Über­lebens­zeit des Stürmenden im Ernstfall etwa zwanzig Sekunden betrug. Da ich mehr oder weniger pazi­­fistisch eingestellt war oder jedenfalls nicht vorhatte, für welche politische Doktrin auch immer mein Leben zu opfern, mochte ich mich mit solchem Irrsinn nicht abfinden.

Es waren zwei Freunde, der Mathe­ma­tik­stu­dent und jetzige Professor Matthias K. sowie vor allem der an­gehende Musik- und Deutsch­lehrer Frank K. (der heute beim Deutschland­funk für Neue Musik ver­antwortlich ist), die mir Halt gaben und mich vor mir selber schützten. Bei Frank konnte ich mich revan­chie­ren, indem ich mit ihm, einer sport­lichen Null, ausführlich das Über­winden der Eskaladierwand und das Hangeln am Seil übte, sodass er wider Erwar­ten nicht mit der Note Fünf nach Hause fuhr und ebenfalls weiterstudieren durfte.

Das war 1983. Infolge des Studiums und eines anschließenden Forschungs­stu­diums mit dem Ziel der Promotion durfte ich nun davon ausgehen, ein paar Jahre von dem verhassten Ver­ein in Ruhe gelassen zu werden. Trotzdem wurde ich in dieser Zeit zweimal genötigt, meinerseits einen militärischen Ausbilder zu mimen. Denn während die männlichen Studenten eines Jahr­gangs nach Seelingstädt einrückten, war für die Frauen ebenfalls für fünf Wochen ein Zivil­vertei­di­gungs­lager obligatorisch, wo sie unter der Anleitung akademischer Nachwuchs­kader (wie ich einer war) das Marschieren usw. erlernten. Auch die jungen Frauen trugen in dieser Zeit Uni­form, schlie­fen in Baracken, übten die Appell- und Antreteordnung, erlernten das Bergen und Ver­sor­gen von Ver­letzten. 1986 und noch einmal im Herbst 1988, just um Lukas’ Geburt herum, konnte ich mich des traurigen Jobs als einer ihrer Zugführer nicht erwehren. Widerwillig und mehr schlecht als recht füllte ich ihn aus, voll Scham, dass ich ihn überhaupt ausfüllte.

Als meine Freundin Josephin im Frühjahr 1986 eben­falls in einem derartigen Lager (unweit von Temp­lin) war, stieg sie einmal über den Zaun, um zu mir, ihrem Liebsten, nach Berlin zu fahren und dort die Nacht zu verbringen. Natürlich wurde die Eskapade bald bemerkt. Schon gegen sechs Uhr morgens traf ein Telegramm bei mir ein, sie habe sich unver­züg­lich nach Templin zurückzubegeben. Ihr Vergehen schlug an der Humboldt-Uni hohe Wellen. Hardliner for­derten, ein Exem­pel zu statuieren; Josephin verlor um ein Haar ihren Studienplatz, um den sie doch jahre­lang gekämpft hatte. Wahr­schein­lich schützte sie nur der Fakt, dass sie damals noch Mit­glied der SED war, vor der Relegation.

Bedenklich nahe rückte mir die Armee noch einmal im Herbst 1989 auf den Pelz, als bereits viele Menschen, darunter auch ich, gegen diesen Staat mitsamt seinen Militärs auf die Straße gingen. Ich erwog, den Termin der Reservemusterung einfach verstreichen zu lassen, wollte dann aber doch keinen Ärger riskieren bzw. eine bereits geplante lukrative Stelle in Berlin beim Kunsthandel nicht unnötig gefähr­den. So fand ich mich beim Greifswalder Wehr­­kreiskommando lammfromm ein und hörte mir an, was die Herren mir zu sagen hat­ten.

Anders als vor zwölf Jahren während der ersten Musterung gaben sie sich freund­lich, ja ver­un­sichert. Dass auch ich zu den Demonstranten »da draußen« ge­hören könnte, auf die sie verächt­lich schimpften, lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Sie gin­gen vielmehr davon aus, dass ich, der ich als frisch promovierter, junger Wissenschaftler für eine veritable Kar­riere an der Greifs­­walder Universität vorgesehen war, per Ritterschlag zum Reserveoffizier geadelt würde und fortan sozu­sagen ihres­gleichen wäre.

Ich beließ sie in ihrem Glauben, vermied aber auch jede Zustim­mung und erklärte wahrheitsgemäß, dass ich aus Greifswald bald fort­gehen und über­haupt der akademischen Welt den Rücken kehren würde – und spielte damit auf Zeit. Denn ich rech­nete mir aus, dass man mich in Berlin und vor dem Hintergrund meiner neuen Arbeits­stelle doch nicht so bald zur Armee zöge. Eine Heldentat, auf die ich stolz sein könnte, war solch Tak­tieren nicht. Angesichts des wenige Wochen später einsetzenden Zusam­men­bruchs des Regimes hätte ich gewiss auch mutiger sein und den Musterungsoffizieren die Meinung gei­gen können. Andererseits war an jenem Tag nicht klar, dass die DDR mitsamt ihren Knall­char­gen so schnell schon den Bach runtergehen sollte, und Klugheit statt Herois­mus schien mir ange­brachter.

Mit dem Ende der DDR war ich Gewissensentscheidungen etwa der Art, ob ich mich in oppor­­tunistischer Manier zum Reserveoffizier machen lassen oder besser Zivilcourage beweisen und einem solchen Ansinnen mich verweigern soll, ein für alle Mal enthoben. Dass zur deutsch-deut­schen Ver­eini­gung gehörte, dass die ehemaligen Soldaten aus dem Osten des Landes nicht länger mehr Reser­visten waren, betrachte ich noch heute als eines der schönsten Geschenke der »Wende«. Den grauen Wehrdienstausweis mitsamt der »Hundemarke« aus Aluminiumblech warf ich mit großer symbo­lischer Geste sogleich in den Müll. Niemals wieder – so schwor ich mir, so hoffte ich – sollte mich ein Staat gegen meinen Willen als Soldat in Haft nehmen können.

P.S.: Weil ich den Wehrdienstausweis nicht mehr besaß, fiel es mir Jahre später beim soge­nannten Konten­­klärungsverfahren schwer, der Rentenversicherung gegenüber meine in der DDR »ge­diente« Zeit plau­sibel zu machen. Erst nach einigem Hin und Her akzeptierte man die andert­­halb Jahre des Grundwehrdienstes als rentenrelevant. Freiheit ist stets relativ und daher übe­rhaupt nur eine Fiktion. Nach ihr zu streben, bleibt dennoch ein hohes Gut.

 

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Über Frank Böttcher

Frank Böttcher wurde 1960 in Lutherstadt Wittenberg geboren und lebt seit 1981 in Berlin. In den 1990er Jahren schrieb er Kunstkritiken und dergleichen für den Tagesspiegel. Vor allem aber ist er Verleger des 1995 gegründeten, bis heute existierenden kleinen, aber feinen Lukas Verlags.

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