WARSCHAU, 19. März 1989
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Der nächste Morgen beginnt mit einer Messe, weit draußen in einem Kloster vor den Toren der Stadt. Andrzej geht nicht mit. Er glaubt nicht, dass es Gott gibt. Wenngleich er nicht abstreiten würde, ein Katholik zu sein. 1000 Jahre Christentum seien nun einmal eine historische Tatsache in Polen, um die komme auch er nicht herum.
Die Kirche zum Beispiel ist ihm ein Greuel, wegen der jüngsten Gesetzesinitiativen der Kommunisten. Diese und die Kirche hätten sich darauf verständigt, Abtreibungen teilweise unter Strafe zu stellen. Aber da sind wir schon wieder im Streitgespräch.
Also gehe ich nur mit Michael und Ewa zur Messe in dem Kloster vor den Toren der Stadt.
In dieser wird das Kind von Freunden der beiden getauft. Natürlich will ich dabei sein.
Immer war das Kloster ein Zentrum der polnischen Nation, getragen in der Zeit der Zarenherrschaft, der Zeit der preußischen und deutschen Herrschaft und natürlich ist das auch in der sozialistischen, die Polenwürden sagen: „in der sowjetrussischen“ Zeit.
Vor der Kapelle stehen die Gedenktafeln mit den Namen der gefallener polnischer Offiziere…
Es ist Palmsonntag, eine Woche vor Ostern. Langsam komme ich wieder in die Relationen der Zeit und ihrer Ordnung zurück.
Ein Freund Michaels nimmt mich mit in die Stadt, so dass ich mit Ludmilla in ein anderes Kloster in der Altstadt gehen kann.
Jeden Monat findet hier eine oppositionelle Veranstaltung namens „sprechende Zeitung“ statt.
Anfangs sind noch wenig Menschen in dem Raum. Aber das liegt daran, dass die Abendmesse im Nachbarkeller. Nachdem der Priester dort seinen Schlusssegen gesprochen hat, kommen die Menschen herübergeströmt.
Und wieder kann ich nur staunen. Zwei Journallisten moderieren, zu Gast sind zwei Vertreter der Solidarnosc und zwei oppositionelle Intellektuelle. Ein Solidarnosc-Führer aus Stettin berichtet über die Verhandlungen mit den Regierungsvertretern, an denen er in der vergangenen Woche teilgenommen hat.
Ein Professor erzählt ebenfalls davon. In westdeutschen Zeitungen lese ich später. daß er ins polnische Parlament einzieht, Fraktionssprecher der Solidarnosc wird und Geremek heißt.
Bild oben: Bronisław Geremek, 2004, Aufnahme aus Wikipedia
Aber noch ist all das nicht geschehen. Noch ist lediglich der Optimismus aller Polen, dass dies sein wird. Aber das ist viell. In seinem Buch „Der Fürst“ schreibt Macchiaveli: „Oft wird das Wort zitiert >>Volkes Stimme ist Gottes Stimme<<. Manche fügen dann noch hinzu, dass die Stimme des Volkes die Wahrheit sage, wie Gott auch die Wahrheit ist. Das aber trifft den Kern nicht. Der Stimme des Volkes wohnt etwas viel Geheimnisvolleres inne: die Fähigkeit, die Zukunft zu wissen.“
Ludmilla und eine Freundin von ihr kochen Tee für die Anwesenden. Er wird im kalten Keller herumgereicht. Alles hat eine verbindliche, familiäre Atmosphäre. Politik hat wirkliche Bürgernähe und das wird sie auch nötig brauchen, wenn sie bestehen will in diesem ruinierten Land.
Am späteren Abend dann holen mich Michael und Ewa zur Tauffeier ihrer Freunde ab. Schon seit einer halben Stunde habe ich auf die Uhr geschaut. „Die kommen schon,“ sagt Ludmilla, „die waren noch nie pünktlich.“
Bei denn Freunden der beiden sitze ich anfangs etwas dumm herum. Was soll man auch machen unter diskutierenden polnischen Intellektuellen, deren Sprache man nicht versteht ?
Folgt man den slawischen Grundworten, die sich mir erschließen, geht es wohl um die Wahl des neuen Bischofs zu Köln und das Vorgehen des (polnischen) Papstes bei der Einsetzung. Die Meinung der Kölner Christenheit hatte den Papst herzlich wenig interessiert, als er ihnen den vormaligen Bischoff von Ostberlin als Oberhirten auf die Nase setzte. Der vertritt, wie fast alle Theologen aus dem Osten, eine sehr strenge und konservative Moraltheologie.
Die Kölner hätten lieber jemanden gehabt, der ihrer rheinischen Frohnatur mehr entsprechen würde. Darf ich auch einmal etwas sagen? ich darf.
So erzähle ich, während Michael übersetzt: „Als der neue Bischof von Köln von der Presse gefragt wurde, was ihm jetzt am meisten am Herzen liege, nannte er die DDR. Er meinte, dass die Kölner Katholiken beachtlich viel über Brasilien oder Argentinien wüssten. Das Wissen um die Katholische Kirche im thüringischen Eichsfeld hingegen tendiere gegen Null.
Hier könne und wolle er mit seinem Hintergrund als ehemaliger Bischof von Berlin / Brandenburg einiges dagegen halten.
Ja, der Papst hat getrickst. Er hat die Kölner Kandidaten so ausgesucht und die Kölner Gegenvorschläge so abgebügelt, daß den Kölnern letztendlich nichts übrig blieb, als zu dem jetzigen Bischof >JA< zu sagen. Und das Erzbistum Köln ist eine Pfründe… Es ist die reichste Diozöse der Welt. Ja. man kann sich jetzt darüber unterhalten, ob das feinster demokratischer Stil war… Man kann sich aber auch darüber unterhalten, was es für die Geschichte Europas bringen wird. Und hier beweist der Papst einen bewundernswürdigen Weitblick.“
Michaels Freunde nicken, aber: „Was für ein Bild gewinnt der Westen dadurch vom Papst, und damit von einem herausragenden Polen ? Ihr im Westen müßt doch den Eindruck haben, wir Polen seien dogmatische, bornierte Hinterwäldler, die grundsätzlich etwas gegen die Freiheit des Einzelnen haben.“
Ich gebe zu, dieser Eindruck entsteht im Westen. Aber entspricht dieser Eindruck nicht zu einem Goßteil Tatsachen ? Ist der polnische Klerus nicht wirklich festgefügt, starr und unbeweglich ? Und noch anders gefragt: war das bisher schlecht für die Geschichte Polens ?
Haben sich nicht die Kommunisten an eben dieser Starrheit die Zähne ausgebissen ?
Das mag sein, wird mir entgegnet. Aber die Zeiten ändern sich. In Polen muß man lernen, nicht stur gegen etwas an Prinzipien festzuhalten. Man muß lernen, selbst zu gestalten. Dazu gehöre Flexibilität im Inneren wie im Äußeren. Demokratie ist nötig, Dogmen stehen ihr immer im Wege.
Sehr spät kommen wir heim und am nächsten Morgen müssen die Kinder wie der in die Schule. Die Nacht ist kurz. An diesem Tag will ich auch wieder heimfahren. Michael muß irgendwann am späten Morgen eine Vorlesung halten und sich darauf noch vorbereiten. Die Zloty, die er für diese Tätigkeit bekommt. kann man auf der Bank in Deutsche Mark umtauschen. Es wären dann 60.-.
Ewa gibt in der Woche Musikunterricht. Das organisiert sie für sich, privat. Von Beruf ist sie Lehrerin mit staatlichem Examen.
Ihr ehemaliger Schuldirektor fleht sie seit einem Jahr an, wieder zu kommen und die Kinder zu unterrichten. Für die 30 Wochenstunden, die sie dort zu arbeiten hat, wird sie etwa halb soviel Geld bekommen wie sie jetzt mit 6 privaten Musikstunden in der Woche verdient. Für dieselben würde keine Zeit mehr bleiben bei einer Anstellung an der Schule, auch für die abendlichen Diskussionen nicht. Aber es ist notwendig und Ewa hat Lust dazu.
Sie wird im nächsten Schuljahr beginnen, zu arbeiten. Wovon man dann das Brot auf den Tisch verdient, wird man sehen.
Als Ewa mir eine Wurst einpacken will, Iehne ich ab. „Komm, das kann ich nun auch noch selbst kaufen !“ – „So ?“ Michael schmunzelt. „Hast Du denn Lebensmittelmarken ?“ – „Wie bitte, was ?“ – „Wurst bekommst Du im staatlichen Laden nur auf Marken.“
Ich kratze mich am Kopf, habe mich dann aber wieder gefaßt: in der Sowjetunion bekomme ich Wurst im staatlichen Laden nicht einmal auf Marken. Zur Überprüfung noch einte Testfrage: „Aber auf dem Samstagsmarkt bekomme Ich Wurst ?“ – „Ja, zu für uns unbezahlbaren Preisen.“ – Und, wie gesagt: am Samstag auf dem Rynok.
Mein Weltbild, daß die ökonomische Situation umso besser wird, je näher ich der Bundesrepublik komme, stimmt wieder. Polen bildet keine Ausnahme.
Ich bedanke mich bei Ewa und am Abend dann geht es in den Zug, der mich nach Deutschland bringen soll.
Die beiden haben zu arbeiten, er geht in die Uni, sie gibt Stunden. So finde ich allein zum Zug.
Einschub 2024:
MIchael (Bild unten aus 2015), …
Michael wird es einmal in die polnische Staatsdiplomatie führen, in den Dienst des polnischen Außenministeriums.