SOTSCHI, 14. und 15. März 1989
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Der Reisebus des sowletischen Partners von Jugendtourist mit Schwester, Bruder, Schwager und Schwägerin (*) und ihrer ganzen Reisegruppe rollt genSüden.
Am Ufer eines Gebirgsflüsschens geht es immer höher und höher in den Kaukasus hinauf. Oben, wo die Straße an einem kleinen Bergsee gesperrt ist, machen wir Halt. Wir müssen auf ziemlicher Höhe sein, oben an den Hängen liegen die Gletscher und Schneefelder, deren einer bis hier hinunter ins Tal reicht.
Auf dem Rückweg bitte ich unseren Dolmetscher und den Busfahrer, ob wir an einer Brücke halten können. Schon auf der Hinfahrt ist sie mir aufgefallen. Mit Seilen sind Balken aneinander gebunden und schaukeln über einem Fluss.
Einzeln fahren Personenkraftwagen über das seltsame Gebilde, jetzt wieder eins.
Der Busfahrer hält dankenswerter Weise einige hundert Meter weiter an einer zweiten Brücke, die nur für Fußgänger gedacht ist.
Die gesamte Reisegruppe strömt aus dem Bus, hinaus auf das schaukelnde Holz. Es ist schon ein exotischer Anblick. Weiter geht die Fahrt, zurück nach Sotschi.
An einer Gaststätte machen wir wiederum halt und alles strömt zu dem Bier, das es hier gibt. Au weia, die geöffneten Flaschen müssen wir ausgießen, die anderen geben wir zurück. Hierfür ist unser Gaumen vielleicht doch etwas zu verwöhnt !
Am späten Nachmittag sind wir wieder in Sotschi. Jetzt sollte ich vielleicht einmal mein Hotel aufsuchen, nein nicht wegen der Übernachtung. Im Hotel der Reisegruppe der DDR-Reisegesellschaft „Jugendtourist“ gibt es nicht nur essen, sondern auch ein Bett für mich. Aber das ist halt nicht ganz so offiziell und ich sollte mir nun einen Stempel in mein Visum drücken lassen.
Mein Visum ist ein Transitvisum und wird heute ablaufen. Heute Nacht, 24:00 Uhr sollte ich die UdSSR verlassen haben, was ich weder kann noch will.
Das Hotel, das ich von Japan aus für die eine Übernachtung gebucht habe, ist schäbiger als das meiner Verwandtschaft (*). Es ist ein Riesenbau und heruntergewohnt. Die Sesselbezüge sind verschlissen. DM 120,- habe ich für eine Übernachtung hier bezahlen müssen.
Brauchen werde ich es nicht, wie gesagt, aber es tut der Bürokratie Genüge und der Stempel Im Visum ist wichtig. Er wird den Grenzern bei der Ausreise klipp und klar beweisen, dass alles seine Richtigkeit hat.
An der Rezeption lege ich meinen Pass vor und sofort schwirrt auch eine Hotelangestellte um mich herum. Und da ist es dann: das seltene Wort „Gospodin“. „Gospodin“ heißt „Herr“, aber nicht in dem Sinne, wie es heute im Deutschen gebraucht wird. Ein „Herr“ war im vorrevolutionären Russland grundsätzlich nicht der Bauer. Das waren die Gutsherren und Stadtvornehmen.
Nach der Oktoberrevolution wurden die Herren abgeschafft, nach und nach setzte sich eine Anrede durch: „Genosse“. Wer zu seinem Nächsten auf Distanz gehen will, wie der Milizionär, der einen Verkehrssünder straft, der gebraucht eine andere Anrede: „Bürger“.
Nur Ausländern ist im heutigen Russisch die Anrede „Gospodin“ vorbehalten. „Würden Sie bitte für den Gospodin die Papiere ausfüllen ?“ fragt die Hotelangestellte ihren Kollegen. Der sucht die Anmeldung heraus und macht ein verwundertes Gesicht.
„Ach Sie sind das, der Japaner !“ Er lacht sichtlich erleichtert. „Wissen Sie, Gospodin Walther, da Sie in Japan das Zimmer gebucht haben, haben wir einen Japaner erwartet. Niemand hier kann Japanisch. Aber, -“ fragt er dann, „wir haben sie bereits gestern erwartet.
Ich tue nicht nur verwundert, sondern bin es auch. Donnerwetter, mein Fahrkartenkauf wurde weiter gemeldet! .Dann aber zucken wir beide mit den Schultern. Macht nichts, es ist Vorsaison und Plätze sind Immer frei hier. Das mit der Fahrkarte nach Hause ?
Ja, das gehört zum Service des Hauses, morgen früh wird sie für den Gospodin bereit liegen. Mein heute ablaufendes Visa ? Auch das ist kein Problem, heute abend kommt die Miliz, die Passnummern zu registrieren, die wird das für den Gospodin regeln.
Sonst noch etwas ? Ja, das mit dem Gepäck. Mein Zug fährt erst morgen Abend, gegen 23.00 Uhr.
Bis um welche Uhrzeit habe ich das Zimmer zu räumen ? Und kann ich hier bis zum
Abend mein Gepäck im Hotel lassen ? – Oh ja, da solle der Gospodin sich doch nicht solches Kopfzerbrechen machen. Das Gepäck kann der Gospodin selbstverständlich den ganzen Tag im Zimmer lassen, bis zum Abend.
Da der Zug schon vor Mitternacht fahre, koste das dann nicht eine volle Hotelübernachtung zusätzlich, sondern nur eine halbe… Zu bezahlen in Westgeld, selbstverständlich…. DM 60,-. Ich
sage der Hotelangestellten, dass ich das ziemlich unverschämt fände. Ich sei Student und wüsste mit 60,- Deutsche Mark sinnvolleres anzustellen, als davon eine Gepäckaufbewahrung zu zahlen. Die kann ich auch für 20 Kopeken auf dem Bahnhof haben, billiger und genauso gut.
Sie zeigt Betroffenheit und dann den Weg zur Gepäckaufbewahrung des Hotels im Keller. Kosten ? Nein. das gehört zum Service des Hauses. Sieh an!
Nun aber, so die Hostesse, zur Hauptsache, weshalb der Gospodin ja hier ist: die Schönheit Sotschis. Da wäre erst einmal die Stadtrundfahrt morgen früh für DM 20,- und dann noch der Rundflug mit dem Helikopter für DM 40,- … Ich sage, dass ich Freunde in einem anderen Hotel kennen gelernt hätte. Mit diesen wolle ich den morgigen Tag verbringen. Vielen Dank.
Nebenbei gesagt: den Flug mit dem Helikopter gedenke ich beim DDR-Reisebüro „Jugendtourist“ zu bekommen, für 15 Rubel.
Was ist deutsch ?
Zur Verwandtschaft ins Hotel fahre ich wieder mit einem Taxi. Mit dem Fahrer, einem Mann Ende vierzig, komme ich schnell in Plaudern. Er weiß erstaunlich viel über die Gegend hier und ihre Geschichte.
„Woher kommst Du ?“ will er von mir wissen.
„Tscheche ? Ungar ?“ Nein, Deutscher bin ich, Bundesrepublik, Bonn, Jurastudent. „Ja ?“ der Fahrer lacht und zeigt auf das Schild am Armaturenbrett mit seinem Namen. „Schau, Schneider heiße ich, Waldemar oder eben Wladimir, wie die Russen sagen oder noch einfacher: Wolodja. Deutscher bin ich, und das steht auch in meinem Pass.“
Lange erzählt er und ich will viel wissen. Seine Eltern waren damals nach Kasachstan deportiert worden, dann war diese schlimme Zeit, als man sie verprügelt hat, wenn sie nur ein deutsches Wort miteinander redeten. Aber „Wremja letschajet“ sagt er. Wie ? Wir haben im Deutschen auch solch ein Sprichwort ? Wie heißt es noch einmal ?
Nein, das wird Waldemar zu schnell vergessen und auf seine Bitte hin schreibe ich die Worte auf ein Stück Papier, In lateinischen und kyrillischen Buchstaben: „DIE ZEIT HEILT ALLE WUNDEN.“
Waldemar kann kein Deutsch. Woher sollte es auch kommen ? „Was denkst Du über eine deutsche autonome Sowjetrepublik ?“ so frage ich ihn. „Würde es Dich dort hinziehen?“
Er wiegt den Kopf und sagt dann:
„Nein, ich glaube nicht. Schau, wir haben ein Sprichwort: >Wer unter den Wölfen lebt, lernt zu heulen wie sie.< Seit 20 Jahren wohne ich hier am Kaukasus, verdiene schnelles Geld und gebe es schnell aus.
Ich führe ein sorgloses Leben und bin es zufrieden, wie ein Südländer eben. Nein, ich glaube ich werde nicht mehr weggehen von hier. Aber die Jüngeren, vielleicht können sie es.“
Vom so genannten „soliden Leben“ hält er eh nicht viel. 4 Jahre hat er studiert und ist Ingenieur für Starkstromanlagen. 110 Rubel hat er im Monat verdient. Nein, da hat er schon besser daran getan, sich ein Auto und einen Gewerbeschein zuzulegen und Taxi zu fahren. Da verdient er 110 Rubel an einem Nachmittag.
Nach ein paar Augenblicken des Nachdenkens holt er Luft und sagt: „Zwei Deutsche nebeneinander im PKW und wie müssen wir uns unterhalten ? Auf Russisch.“ Ich zucke mit den Schultern: „So ist das Leben.“ – „Wann seid Ihr eigentlich gegangen ?“ will der Taxifahrer wissen. „Wer ?“ – „Du und Deine Eltern !“
– Wie ? Was ? Erst nach zweimal Schlucken begreife ich, was der Taxifahrer meint. Er denkt, dass ich als Deutscher in der Sowjetunion geboren und dann als Kind mit meinen Eltern… Nein, ich bin nicht hier geboren, auch meine Eltern sind keine Russlanddeutschen.
Oben am Hotel tut er mir noch einen Gefallen. Ich will meine Jeansjacke verkaufen und er fragt unter seinen Kollegen, den „Kindern“, wie er sagt, herum. 50 Rubel will ich mindestens haben, aber 35 ist das Höchste, was sie mir geben wollen.
Also behalte ich die Jacke. „War richtig von Dir.“ sagt Waldemar. „Die verkaufen das Ding nicht unter 80 Rubeln weiter. Bei so einer Spanne sollte man das Ganze lieber behalten.“
Bild oben: Bahnhof Sotschi, aus Wikipedia 2012
Zum Hotel der Verwandtschaft (*) gehört ein tolles Schwimmbad, das wir heute Abend testen. Einer aus der Reisegruppe borgt mir seinen Hotelausweis.
Der nächste Tag wird uns keinen Ausflug mit dem Helikopter bringen. Es schneit oben im Gebirge und weiter unten regnet es Bindfäden. Es ist zu schwierig und zu gefährlich für den Piloten.
Was ich erst später erfahre: der Westgeld – Hubschrauber ab „meinem“ Hotel fliegt selbstverständlich. Also bummeln wir wieder durch die Stadt und schauen, erzählen, essen und trinken.
Heute Abend geht es also weiter, heimwärts, westwärts. Die Taschen heben mir meine Geschwister und die Schwägerin und der Schwager (*) noch hinein, dann rollt der Zug auch schon ab.
Ade Ihr vier, ade Sotschi !