MOSKAU – SOTSCHI, 12. und 13. März 1989
„Guten Abend !“ sage ich zu den Mitreisenden im halbdunklen Abteil, um mich dann gleich ihnen schlafen zu legen. Die Mitreisenden lerne ich erst am nächsten Morgen kennen. Da ist einmal Swetlana, oder kurz: Sweta, eine schwarz gelockte Ukrainerin Ende zwanzig, eine russische Verwaltungsbeamte namens Olga Jegorowna, etwa 50-Jährig und Boris. Er ist ein Arbeiter aus einem Moskauer Vorort und ist ständig am Wodka – Einschenken. Erst am Morgen darauf, als ihm nach einer alkohollosen Nacht die Hand zittert, merke ich dass er ohne den Fusel, nicht mehr aushält.
„Und wie heißt Du ?“ will Boris wissen. Mein Name ist ihm unbekannt. „Es ist ein deutscher Name,“ sage ich, „ich bin Deutscher.“ – „Und wo lebst Du ?“ will Boris wissen, „nein halt, lass mich raten, in Estland ? – Lettland ?“
In mir kämpfen Stolz und Entsetzen. Spreche ich wirklich so gut Russisch ? Oder ist mein Äußeres schon so heruntergekommen, dass ich gar nicht mehr wie ein Westler aussehe ?
„Nein, in Deutschland lebe ich, Bundesrepublik, Bonn …“
Ihnen gegenüber spinne ich eine Geschichte. In Bonn studiere ich Jura und für die Zukunft schwebe mir derzeit vor, einmal für die deutsche Wirtschaft in der Sowjetunion zu arbeiten. Aus diesem Grund wäre ich jetzt hier, um mein Russisch zu vervollkommnen.
Die Geschichte mit der Reise nach Tokio, schreiender Luxus genug, passt irgendwie nicht hierher.
Wenig später bekomme ich auch noch mit, dass sich meine Mitreisenden noch nie eine Reise in das Gebiet östlich des Ural haben leisten können. Es zieht sie wohl auch nicht dorthin.
Und was mein Studium und meine derzeitigen Zukunftshoffnungen betrifft, so sind zumindest ja diese wahr. So werde ich auch für den Rest meiner Reise durch die Sowjetunion bei dieser Version bleiben. Man lebt leichter mit Ihr.
Nach alter Gewohnheit gehe ich zum Schaffner auf einen Schwatz. Er hat eine große Familie, deren zwei Mitglieder im Abteil nebenan sitzen.
Ihre Namen habe ich vergessen, so nenne ich sie jetzt den alten und den jungen Aserbaidshaner. „Setz Dich zu uns“ fordern sie mich in einem grausam schlechten Russisch auf.
Der Alte muss den Jungen immer wieder nach Vokabeln fragen. Auf dem Tisch liegt ein auseinander genommenes Hähnchen auf einer Zeitung. Dazwischen tummeln sich Kippen und Zigarettenasche. „Iß !“ fordern sie mich auf. „Können wir nicht vor dem Essen die Asche und die Kippen weg räumen ?“ frage ich. Aber die beiden verstehen gar nicht, wozu das gut sein soll.
Woher, wohin ? Dass ich ein Westler bin, wissen sie bereits vom Schaffner. Jeder erhält sein begehrtes Feuerzeug, mehr habe ich auch nicht. Sie trinken viel und das lockert die Zunge. Aus Berg-Karabach sind sie und die Stimmung bei ihnen muss heiß sein.
„Unsere Heimat wollen uns die Armenier wegnehmen, unsere heilige Heimat. – Verstehst Du, was das ist, wenn fremde Menschen Dir Deine Heimat nehmen wollen ?“
Ich verstehe es wohl. – „Aber ist das nicht auch Heimat für hunderttausende armenischer Menschen ?“ Die beiden sehen das anders. „Sollen sie doch nach Armenien gehen, wenn sie wollen. – Die Koffer würden wir ihnen noch packen t“
Nein, die beiden sind nicht die bösen, verschlagenen Menschen, die Kolja mir vorgestellt hat. Nur zügellos sind sie, wie Südländer eben sind. Und mit dieser Zügellosigkeit machen sie jede Frau an, die draußen am Abteil vorbeigeht. Aber hat es nicht Ursachen, dass sie jetzt so zügellos und stinkbetrunken sind ?
Der Zar und noch konsequenter die Sowjetmacht, sie haben zielstrebig darauf hingearbeitet. Zweimal schaut das Gesicht eines besorgten Boris ins Abteil. Er will mir etwas sagen, aber er wagt es wohl nicht in dieser Umgebung. Was es sein mag, kann ich mir denken und ich höre es mir am Nachmittag an, als ich in mein Abteil zurückkehre.
Sweta fasst mich bei der Schulter und sagt, liebevoll und besorgt zu mir: „Geh‘ nicht wieder dorthin, Bodo. Das sind Kaukasier, keine Russen. Es ist nicht gut für Dich, wenn Du Dich zu ihnen setzt.“
Ich bezweifle das, wenngleich ich schon gemerkt habe, dass ich den Aserbaidshanern nicht alles zugestehen sollte, was sie von mir verlangen. Meine Adresse in der Bundesrepublik wollen sie zum Beispiel, um mich im nächsten Jahr zu besuchen.
„Alle werden wir bald frei sein !“ haben sie gesagt. „Du wirst es sehen!“
Aber ich schaue an diesem und dem folgenden Tag nur kurz bei den Aserbaidshanern vorbei und setze mich nicht nieder. Etwas anderes würde meine groß- und kleinrussischen Mitreisenden im Abteil zutiefst verletzen.
Immer weiter rattern wir gen Süden. Der Schnee ist lange verschwunden. Erst braun, dann zaghaft grün wird das Land. In der Nacht sind wir in Rostow am Don und am nächsten Morgen schaukeln wir auf einer eingleisigen Strecke am Ufer des Schwarzen Meeres entlang.
Links erhebt sich steil der Kaukasus, rechts fällt es zum Meer hin ab. Hier ist bereits Frühling.
Olga Jegorewna steigt in einem kleinen Kurort aus, Boris trägt ihr die Koffer auf den Bahnhof. Er ist hilfsbereit und sorgt sich um seine Mitmenschen.
In einem Vorort Sotschis, in dem Schwester, Schwager, Bruder und Schwägerin (*) in einem Hotel wohnen, springe ich auf den Bahnsteig.
Bild oben: Sotschi 2008 (aus Wikipedia)