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Vom Sinn des Soldatseins – Erinnerungen an den Wehrdienst in der DDR (Teil 5/9)

Kapitel 5

Nach vier Wochen endete die Grundausbildung – eine wichtige Zäsur. Das erste, das härteste Acht­zehntel, war abgedient. Für die EK’s, die Entlassungskandidaten aus dem dritten Diensthalb­jahr, war das natürlich ein Nichts. Soeben hatten sie mit viel Tamtam und Schnaps den An­schnitt ihres zuvor sorgfältig präparierten und bemalten, 150 Zentimeter langen Schneider­band­maßes zelebriert. Von nun an würden sie Tag für Tag einen Ein-Zentimeter-Schnipsel entfernen und sich an der immer deutlicher abnehmenden Länge erfreuen. Unter all den Ritua­len des Armisten­alltags war dies das zentrale.

Auch ich trank mit und war am Ende schwer besof­fen. Die Schnaps­flaschen – vornehmlich der Sorten »Blauer Würger« (klar) und »Goldbrand« (braun) – flogen im hohen Bogen aus dem Fenster, damit ihre Herkunft anonym bliebe. Die leeren »Rohre«, »Glas­mantel­geschosse«, »Uken« bzw. deren Scherben würden wir »Frische« am kom­men­den Morgen im Zuge der Revierreinigung aufsammeln müssen. Die Vorgesetzten hatten die wilde Festivität nur pro forma zu unterbinden versucht; in Wahrheit waren sie hier machtlos und ließen die EK’s gewähren.

Abgeschlossen wurde die Grundausbildung durch den sogenannten Härtetest. Er begann nachts um drei mit einem Alarm und einem Eilmarsch über fünfzehn Kilometer in voller Aus­rüstung im Regen, teilweise im Laufschritt und mehrere Kilometer unter der Gas­maske und im Schutzanzug. Wer die eiserne Regel verletzte, bei solchen Gelegenheiten auf gar keinen Fall frische Strümpfe unter den Stiefeln zu tragen, und sich großflächige, blutende Blasen zuzog, dem blieb nichts weiter übrig als die Zähne zusammenzubeißen. Die Norm war erfüllt, sobald die Ein­heit in geschlossener Formation in der geforderten Zeit am Ziel eintraf. In das hinter­drein ­fah­rende Sanitätsauto durfte nur, wer glaubhaft zusammenbrach. Dass ausgerechnet Leutnant Zuck, der Zugführer, »unter Gas« einen Kollaps erlitt, unter­grub natürlich dessen ohnehin nicht son­der­lich ausgeprägte Auto­rität.

Vormittags erholten sich die Rekruten bei einer schrift­­lichen Prü­fung. Der Nachmittag verging mit jeweils bewertetem Kriechen, Gleiten, Über­winden der Sturmbahn, Anlegen der Schutzanzüge sowie mit Exerzieren. Das war es dann aber auch. Wir waren jetzt ordent­liche Soldaten. Die kommenden siebzehn Monate wür­den von rou­ti­niertem, un­endlich langweiligem Dienstalltag und von Zeittotschlagen bestimmt sein. Zwi­schenzeitlich würde es zwar auch ein paar Einsätz­e, Feldlager, Nachtschießübungen, Abkom­mandie­run­­gen oder Objektvisiten durch Generäle geben, was stets »Sackstand« genannten Stress, anderer­­seits aber auch gewisse Abwechs­lung bedeutete, vor allem aber würde es darauf ankom­men, wäh­rend der faden Ab­folge von Wach-, Küchen- und Bereitschaftsdiensten, Drill und Aus­bildung, Polit­unter­richt, Stuben- und Revier­reinigen nicht zu verwahrlosen.

Schon deshalb waren alle, die es betraf, froh, dass die Kompanie in den folgenden zwei­ein­­halb Monaten statt in der Potsdamer Kaserne in einem Arbeiterwohnheim in Cottbus hau­ste. Wir sollten dort, in der Niederlausitz, die DDR nicht mit der Waffe in der Hand ver­teidi­gen, son­dern energie­wirt­schaftlich retten. Denn weil fast alle Heizung und Stromgewinnung im Land auf dem Abbau heimischer Braunkohle basierte, für den dreckigen Knochenjob in den Tage­­­bauen aber nie ausreichend Arbeitskräfte zur Verfügung standen, musste vor allem win­ters die Armee einspringen.

Unser Einsatzort lag nördlich von Cottbus bei Jänsch­walde. Wir wurden zu nachtschlafender Zeit um 3.15 Uhr geweckt und frierend und dösend auf LKW’s in die Grube gekarrt, wo wir entweder mit Spitzhacken den harten Frostboden aufhackten, damit die Gleise für die Loren versetzt werden konnten, oder bei Plusgraden sogenannte »Faschinen« (schwere Bün­­del Fichtengestrüpps) unter die Gleise wuchteten, damit diese und die Loren nicht im schwar­zen Schlamm versanken.

Nicht weit von uns trug ein gigantischer Schaufel­radbagger enorme Mengen an Erde und die erstaunlich schmalen Kohleflöze ab. Wir schufteten in einer wah­ren Mond­land­schaft: Die Erde war großflächig aufgerissen und tief verwundet; ur­alte Wäl­der, Wiesen, ganze Dör­fer waren der Förderung des »braunen Golds«, wie die Bonzen die Um­welt- und Kultur­zer­störung schönzureden versuchten, geopfert worden. Kaum vorstellbar, dass je eine ge­wisse Rena­tu­rierung möglich sein würde. Die Lausitz verlor hier ihr Gesicht und ihre Ge­schichte, stieg als Rauch aus den Kraftwerken auf und verschwand unter dürren Nadel­waldmono­kulturen und künstlichen Seen aus vormaligen Tagebaurestlöchern.

An einem Tag pro Woche mussten wir nicht wie sonst zehn, sondern zwölf Stunden in der riesigen, stets zugigen Grube ver­bringen; mit An- und Abfahrt kamen noch gut zwei Stunden hinzu. Einmal leisteten wir gar eine Doppel­schicht und tra­fen erst abends um 22 Uhr in der Unterkunft ein, und mehr­fach hatten wir auch Wochen­end­einsätze. So kraftzehrend das alles war – ich litt unter einem »Wolf«, den ich mir gelaufen hatte, und während einer Grippe ging ich einmal ohn­mäch­tig zu Boden –, so sehr fand jeder­mann die »Kohle« doch akzeptabler als den Dienst in der Ka­serne. Denn hier gab es weniger mili­tärischen Drill als dort; man war trotz der Uni­form eher Arbeiter denn Sol­dat, und man konnte der gan­zen Plackerei einen gewissen volks­wirt­schaft­lichen Sinn abge­win­nen. Der harte Job war okay, wir fühlten uns männlich und gebraucht.

Die Silvesternacht 1979/80 verbrachte ich im Wohnheim. Fast alle Kameraden soffen sehr – ich bewusst überhaupt nicht. Der Armeealltag hatte seinen ersten Schrecken verloren; ich begann, mich mit ihm zu arrangieren, ihn irgendwie tiefzuhän­gen und vor mir auf Distanz zu halten. Es gab ein paar Kameraden, bei denen ich ähnliche Den­kungs­art und Interessen ent­deckte und die so zu haltgebenden Freunden wurden. Wir unter­nah­men so ab­gefahrene Dinge wie das gemeinsame Lesen von Schillers »Glocke«; eine weitere Lek­türe waren zwei Bände mit den Brie­fen Vincent van Goghs an seinen Bruder Theo.

Als Mitte Januar im nicht weit ent­fern­ten Peitz mal wieder ein Jazz- und Bluesfest statt­fand, setzte ich alles in Be­we­gung, dorthin zu ge­langen. Dazu bedurfte es eines bis zum frühen Mor­gen gel­ten­den, »erwei­ter­ten« Ausgangsscheins, um den ich bis zum letzten Augen­blick zittern musste, und natür­­lich der zivilen Uniform aus Blue Jeans und Parka. Wie ich es schaffte, diese Kleidung von da­heim ins »Objekt« zu schmug­geln und am entschei­den­den Tag auch wie­der hinaus – vielleicht hatte ich sie aber auch im An­schluss an den Weihnachts­urlaub in einem Schließ­fach des Cott­buser Bahnhofs deponiert –, weiß ich nicht mehr, jeden­­falls war ich in Peitz kaum mehr als Armist zu iden­ti­­fizieren. Es ver­rie­ten mich allein noch die schwarzen Aus­gangsschuhe und natürlich der Haar­­­schnitt.

Briefe aus jener Zeit belegen, dass ich mich mit der politischen Situation in Afgha­ni­stan und mit meiner Position gegenüber den Eltern beschäftigte. Erstere schien bedrohlich. Soeben waren sowje­tische Truppen in Afghanistan eingedrungen, um das dortige kommunistische Regime im Kampf gegen muslimische Aufständische zu unterstützen. Ich wusste nicht, was ich davon halten und was der DDR-Propaganda glauben sollte, und hatte Angst, auch deutsche Soldaten würden an den Hindukusch geschickt werden. Glücklicherweise sollte solches unter ande­ren Vorzeichen erst mehr als zwanzig Jahre später geschehen und mich dann nicht mehr persön­lich treffen kön­nen.

Mit Vater haderte ich, nachdem er mir vorgeworfen hatte, ich hätte mich, als er mich letztens zum Zug brachte, nicht ordentlich verabschiedet. Sein Insistieren auf Formalien war gewiss albern, aber was dahinterstand, war beider­seits die Schwie­rig­keit, mit mei­ner verstärkten Ablösung von der Familie klarzukom­men. Noch nie war ich derart lange und gründ­­lich von den Eltern getrennt gewesen wie seit dem letzten Vier­teljahr. In den wenigen Urlaubstagen, die ich bislang hatte, hatte ich mich mög­lichst wenig bei ihnen zu Hause aufge­halten. Viel lieber besuchte ich Freunde, ging mit ihnen zu Ver­anstaltun­gen und zum Tanz.

Schon jetzt antizipierte ich die Schwierigkeiten, die sich im Verhältnis zu den Eltern auf­tun wür­den, wenn in mehr als einem Jahr die Armee endlich vorbei, das Stu­dium in Berlin aber noch nicht begon­nen war: gemeinsam mit dem jüngeren Bruder in einem Zimmer schla­fend, sodass bei­spielsweise gewiss kein Mädchen bei mir würde über­nachten können, und über­haupt dem elter­lichen Alltagsregime sehr unterworfen. Der Armeedienst war sowieso verlo­rene Lebens­zeit, aber auch in den Monaten danach würde das »eigentliche« Leben, wie ich es mir wünschte und vor­stellte, noch nicht stattfinden können. Dass andererseits auch die Eltern un­sicher waren, was den Umgang mit ihrem nun zwar erwachsenen, gleichwohl noch nicht selb­ständigen Kind anging, blendete ich selbstherrlich aus.

 

 

 

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Über Frank Böttcher

Frank Böttcher wurde 1960 in Lutherstadt Wittenberg geboren und lebt seit 1981 in Berlin. In den 1990er Jahren schrieb er Kunstkritiken und dergleichen für den Tagesspiegel. Vor allem aber ist er Verleger des 1995 gegründeten, bis heute existierenden kleinen, aber feinen Lukas Verlags.

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