Wenn Volkswagen hustet, dann hat Niedersachsen Fieber, sagte vor einigen Jahren ein Kollege. Damals fand ich diese Aussage stark übertrieben. Allerdings war ich damals noch bei einer Redaktion beschäftigt, in deren Umfeld es keinen VW-Standort gab. Heute weiß ich, dass der Kollege recht hatte. Und es ist vielleicht sogar noch viel schlimmer.
Seit Montag liefen im Wyndham-Hotel am Weidetor in Hannover die Tarifverhandlungen zwischen Volkswagen und der IG Metall. Es waren, so ließen die spärlichen Berichte durchblicken, außerordentlich schwere, zähe Verhandlungen.
Warum es gut ist, auch mal zu schweigen
Volkswagen will und muss Kosten senken, deshalb plante man weitreichende Sparmaßnahmen, darunter Gehaltskürzungen, den Abbau von Arbeitsplätzen und mögliche Werksschließungen. Konkret schlug das Unternehmen eine Reduzierung der Löhne um zehn Prozent und den Wegfall von Sonderzulagen vor. Die IG Metall lehnte diese Maßnahmen entschieden ab und forderte stattdessen eine Lohnerhöhung um sieben Prozent sowie zusätzliche 170 Euro für Auszubildende, um die hohe Inflation auszugleichen und den privaten Konsum zu stärken. Die Positionen lagen also denkbar weit auseinander. Nach mehreren Runden aber haben sich beide Seiten angenähert. Und, auch das hört man immer wieder: Beide Seiten sollen den Ernst der Lage verstanden haben und entsprechend zu Kompromissen bereit sein. Eine Entscheidung noch vor Weihnachten war das Ziel, eine Einigung bei der anstehenden Sondersitzung des Aufsichtsrats wurde angestrebt. Diese Einigung, das haben Kompromisse oft an sich, wird beiden Seiten nicht sonderlich schmecken. Aber es geht ausschließlich um die Sache. Und die Sache ist das Überleben von Volkswagen und damit auch die Existenz der Arbeitnehmer.
Dass aus den Verhandlungen nicht allzu viel Konkretes zu erfahren war, ärgerte mich als Journalisten natürlich ein wenig. Allein schon berufsbedingt bin ich ausgesprochen neugierig. Andererseits war es, neutral betrachtet, wohl ein gutes Zeichen, wenn das Ego Einzelner hinter dem Ziel und dem Ergebnis zurückstehen kann. Das allerdings gefällt nicht allen – vor allem denen nicht, die gewohnheitsmäßig auf Krawall setzen anstatt auf Konsens.
Krawall als Werbestrategie
Oder sickerte doch etwas durch? In der Nacht zum Donnerstag, dem 19. Dezember, schliefen einige Mitarbeiter des Volkswagenwerks in Emden äußerst schlecht. Der Grund: Ein Flugblatt, das online kursierte, behauptete, man habe aus den Verhandlungen erfahren, dass das traditionsreiche Werk in Ostfriesland im Jahr 2030 geschlossen werde. In dieser Nacht erreichten mich einige Nachrichten und sogar Anrufe von Freunden, die im Volkswagenwerk arbeiten. Der Tenor war immer der gleiche: Stimmt das? Schließen die wirklich unser Werk? Ich hatte davon noch nichts gehört, nahm mir aber vor, in der Redaktion sofort in diese Richtung zu recherchieren. Tatsächlich begann ich damit noch in der Nacht, an Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken.
Die Spurensuche ging schnell. Das Flugblatt bezeichnete sich als Mitarbeiterzeitung von und für Kollegen diverser Automobilwerke des Volkswagenkonzerns und war abrufbar über die Seiten einer Vereinigung (?) namens „Internationale Automobilarbeiterkoordination“. Vertreten wird diese von Volker Kraft aus Stuttgart, der wiederum für die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (eine linksextremistische Kleinstpartei, die selbst bei den Sonstigen als Sonstige gilt) kandidiert. Das Impressum allerdings stellte sich schnell als falsch heraus: Die angegebene Adresse, ja, sogar den Ort gibt es überhaupt nicht. Es war wie so oft, wenn man es mit radikalen Kleinstgruppen zu tun hat: Sie gründen unterschiedliche Publikationsplattformen und zitieren sich dann gegenseitig. Oder anders gesagt: Fünf Leute betreiben acht Webseiten. Das ist ein Phänomen, das ich schon häufiger feststellen musste. So kann man Relevanz vortäuschen, und viel zu oft funktioniert diese Taktik sogar.
Zig Telefonate, ausschließlich Verwunderung
Den Vormittag über telefonierte ich quer durch Ostfriesland bis nach Ostfalen, um wenigstens Anhaltspunkte dafür zu finden, dass dieses Flugblatt mehr darstellt als lediglich aus der Zeit gefallenen Arbeits- und Klassenkampf. Aber egal, wen ich aus Politik, Wirtschaft oder Gewerkschaft ans Telefon bekam, niemand hatte von solchen Plänen gehört. Dass ausgerechnet Emden genannt wurde, verwunderte dabei ganz besonders. Dieses Werk produziert ab Jahreswechsel ausschließlich elektrische Fahrzeuge und wurde zu diesem Zweck mit Investitionen von über einer Milliarde Euro fit gemacht. Nein, das ergäbe keinen Sinn, hörte ich mehrmals.
Letztendlich fasste ich meine Rechercheergebnisse zu einem kurzen Artikel zusammen, in dem ich die Vorgänge und Hintergründe beschrieb: „Aufregung um linksextremes Flugblatt: Ende für Volkswagen Emden im Jahr 2030?“ Im Text ließ ich einen langjährigen und sehr gut informierten Gewerkschaftsvertreter zu Wort kommen, der merklich entsetzt darüber war, dass die MLPD ausgerechnet in dieser vulnerablen Situation derartige Behauptungen verbreitete. Und: dass sie mit den Ängsten der Mitarbeiter spielte, indem sie eine anstehende Werksschließung erfand. Mittlerweile sind die ersten Ergebnisse der Verhandlungen bekannt, und wir wissen: Das Emder Werk wird nicht geschlossen. Natürlich nicht, möchte man rufen. Meine Klarstellung der Situation machte am Donnerstag schnell die Runde in Werkkreisen und sorgte bei den Mitarbeitern zumindest für ein wenig Erleichterung – die Situation hat ihnen ja bereits die Vorweihnachtszeit verdorben. Vielleicht können sie wenigstens zum Fest ein wenig durchatmen.
Generalabrechnung von linksaußen
Die Reaktion der Marxisten und Leninisten ließ ebenfalls nicht lange auf sich warten. Noch am gleichen Tag wurde mir in einem Beitrag auf einer der Webseiten ellenlang erklärt, was meine Pflichten als Journalist seien: „Schweinereien aus Geheimverhandlungen gehören ans Tageslicht und nicht in dunkle Hinterzimmer.“ Ich hätte also gefälligst die Verhandlungsführung kritisieren sollen anstatt die Fake-News. Kritik erhielt ich auch für meinen Hinweis auf die rechtlichen Gegebenheiten des Streikrechts. Denn Streiks sind in Deutschland den Gewerkschaften während der Tarifverhandlungen vorbehalten – eine Absicherung gegen einen Missbrauch des Streikrechts. Streiks anderer Gruppen können arbeitsrechtliche Konsequenzen wie Abmahnung, Kündigung oder Schadensersatzforderungen nach sich ziehen. Aber: „Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Kampfmaßnahmen.“ Da ist dann natürlich kein Platz für Recht und Gesetz. Der von mir zitierte Gewerkschaftsvertreter bekam dann auch noch sein Fett weg. Seine Position zeuge „von einem niedrigen gewerkschaftlichen Bewusstsein“.
Die Unabhängigkeit musste ich mir sowieso absprechen lassen, schließlich schreibe ich „ganz nach dem Geschmack von VW“. Und es zeuge „von sittlicher Unreife“, dass ich gewerkschaftliche Ausschlüsse von Marxisten und/oder Leninisten fordere – ausgerechnet in dieser Situation. Das habe ich übrigens nicht getan. Warum auch? Es ist Sache der Gewerkschaften, wie sie sich hier positionieren. Die IG Metall hat es bereits eindeutig getan, und auch Ver.di steht Mitgliedern, die parallel ein Parteibuch der MLPD besitzen, skeptisch gegenüber. Das sind Fakten, keine Forderungen. Überhaupt ist mein Artikel handwerklich sauber und entspricht allen Neutralitätsstandards.
Ist Haltung wichtiger als Objektivität?
Woher bloß kommt eine derart verquere Vorstellung von Journalismus? Ich habe da zumindest eine vage Ahnung. Einerseits ist es ja Teil der kommunistischen DNS, dass die Presse gefälligst verlängerter Arm der Partei, aber eben nicht ihr Kritiker zu sein hat. Andererseits hängt unserer Branche seit Jahren die Positionierung des Monitor-Journalisten Georg Restle an. Der forderte „werteorientierten“ Journalismus und erteilte dem Ideal der Neutralität eine Absage. Der Haltungsjournalist war geboren – mit der Folge, dass es immer wieder unangenehme Ausfälle zu bestaunen gibt, bei denen Artikel oder Beiträge entstehen, die aus ganz wenig Objektivität, dafür aber aus ganz viel Meinung – Haltung – bestehen. Und die nicht als Kommentar gekennzeichnet sind. Natürlich weckt eine solche Entwicklung Hoffnungen bei denen, die mit einer freien, unabhängigen Presse nicht viel anfangen können.