CHABAROWSK – MOSKAU, 5. – 10. März 1989 – Dritter Teil: Vom Baikal nach Moskau
Als in Irkutsk 30 Japaner einsteigen und der Matrose Juri mit ihnen bekannt wird, möchte er nicht, dass sie von seiner Tätigkeit erfahren. Er ist Matrose … sagen wir mal … auf einem Fischereifahrzeug.
Die Japaner… Ich sehe sie zum ersten mal, als wir in Irkutsk die Kristina aus dem Zug bringen. Sie trägt das Kind, Juri und ich je zwei Taschen. Heute Nacht wird sie mit der Kleinen auf dem Bahnhofsschlafsaal sein. Morgen früh geht ihr Flugzeug nach Odessa.
Schnell haben wir ihr Gepäck auf dem Bahnhof ins Schließfach gebracht. Dann sagen wir „Tschüß“ und „Gute Reise“.
Doch, die Japaner muss auch ich bestaunen gehen. Sie sind fast alle im 4. Waggon eingestiegen. Dort habe ich schon zwei Bekannte, Wjatscheslw oder Wasja genannt und sein Kollege Iwan sind auf dem Weg von Wladiwostok nach Swerdlowsk.
Der Schaffner aus dem 4. Waggon hat mich zu ihnen gelotst, ihnen eine Gebrauchsanleitung zu übersetzen. Es handelt sich um die Beschreibung für einen Farbfernseher und zwei Videorekorder.
Wasja hatte sie auf dem Schwarzen Markt in Wladiwostok gekauft – für zusammen 40.000 Rubel. Ein unvorstellbarer Preis. Für den Schaffner aus dem 4. Waggon sind es 266 Monats-, das heißt 55 1/2 Jahreseinkommen.
Wasja und Iwan betreiben beide eine Kooperative. Sie reparieren Erdölbohrtürme in Nordsibirien. Dass dabei auch etwas vom Handel abfällt, sollte man annehmen.
Wasja begrüßt mich schon an der Waggontür: „Sei gegrüßt, wo warst Du .so lange ?“ und „schau, was ich mir in Ulan-Ude gekauft habe !“
Auf der Sitzbank im Abteil liegt ein Bärenfell.
Ein Jäger hat es nachts in Sibirien auf dem Bahnhof angeboten. Für 800 Rubel. Oder sagen wir es anschaulicher: für den fünfhundertsten Teil des Wertes, der da an Elektronik zu seinen Füßen steht.
Wenig später ist das Abteil voll von Japanern. Ich habe zu übersetzen, vom Englischen ins Russische und zurück und bin im übrigen damit für den Rest der Reise nach Moskau beschäftigt.
Nicht nur in diesem Abteil werde ich in Anspruch genommen. Die meiste Zeit unterhalten wir uns mit Yuko und Kaoru. Kaoru studiert Englisch in Osaka. Yuko ist dort Krankenschwester. Sie sind auf dem Weg durch Russland über Moskau und Leningrad nach Polen und von dort wollen sie nach Deutschland.
In diesen Tagen bin ich fast nur noch vorn, im 4. Waggon. Mit Wassili und Iwan unterhalte ich mich viel und lange. „Kultur“ seufzt der Neureiche. „Einmal hatten wir Kultur, da gab es einen Tolstoj, Dostojewski, einen Puschkin. Was haben wir heute ? Armut, Elend, Verwahrlosung, woher sollte Kultur auch kommen ? Schau Dir Kosja, unseren Schaffner an. 150,- Rubel verdient er im Monat.
Er ist ein pfiffiger, ein aufgeschlossener Kerl. Weißt Du, wie viel Kultur man für 150.- Rubel bekommen kann ? Weißt Du was eine Karte fürs Ballet kostet ? Und dann, schau auf unsere russischen >Händler<. Sie betteln die Touristen an um Uhren, Feuerzeuge, Klimbim. Wie würdelos sie sind, wie erbärmlich. Und sie machen es ja nicht, weil sie so geboren sind. Sie müssen an ihr täglich Brot kommen und sie wissen nicht, wie. Und ein ehrliches Unternehmen zu führen ist immer noch verpönt in diesem Land.“
Kosja, der mit vollem Namen Konstantin heißt, der Schaffner jedenfalls, hält auf‘ seine Ehre. Er ist besorgt um seine japanischen Gäste. Was wünschen sie zu trinken ? Das ist ein Problem in Russland. Aber Kosja wird sich kümmern. Auf der nächsten Station verkaufen Georgier aus einem Waggon heraus Wein aus Plastikkanistern. Jetzt heißt es Flaschen mitzubringen und dann
schnell, ehe die Miliz kommt.
Ich drücke Kosja ein Päckchen mit japanischem grünen Tee in die Hand. Es ist ein seltsames Gemisch. „Für die Japaner, als Überraschung,“ sage ich. Als ich am nächsten Tag nach dem Tee frage, gebietet mir Kosja zu schweigen. „Psst,“ sagt er, „der Tee ist schon weg. Ich habe ihn der Zugführerin geschenkt, zum Internationalen Frauentag.“
Ach ja, heute ist der 8. März. Kosja ist enttäuscht, dass keine der Japanerinnen versteht, als er ihnen zum internationalen Frauentag gratulieren will. Ich versuche ihm zu erklären, dass dieser Feiertag aus der europäischen Arbeiterbewegung stammt und in Japan unbekannt ist. Auch in Westeuropa pflegen sich hauptsächlich sozialistische und sozialdemokratische Kreise an diesen Tag zu erinnern. Kossja ist enttäuscht. „
In Swerdlowsk steigen die beiden Kooperativtschikis mit ihren Videorekordern und dem Fernseher aus. Sie müssen weiter nach Norden, auf ihre Erdöltürme.
Yuko winkt mit einer Bärenkralle, die Wasja von seinem Fell abgeschnitten hat, als Geschenk. Gute Reise, Wasja und Iwan !
Einer der Japaner bekommt erst jetzt mit, dass ich nicht zu den beiden gehöre. „Ach, Sie sind gar kein Russe ? Deutscher ? Bundesrepublik? Ah – Oh.“ So sagt er auf Englisch. Sein Gesicht das mich, wie auch die beiden, bisher eisern ignoriert hat, bekommt ein honigsüßes Lächeln. Dann will er auf einmal soooo viel von mir wissen. Ich habe lieber gar keine Zeit und muss hinter in „mein“ Abteil.
Dort sitzen inzwischen zwei junge Frauen, Marina und Olga. Olga hat gerade ihr Technikum in Nowosibirsk beendet, jetzt hat sie eine Kommandirowka auf die Krim. Dort wird sie die nächsten 3 Jahre zu arbeiten haben.
Marina hingegen hat eine Kommandirowka besserer Art erwischt. Sie ist Ballerina und tanzt am Omsker Ballett in der ersten Reihe. Für ein halbes Jahr darf sie ans Bolschoj – Theater nach Moskau. Sie fällt durch ungewöhnlich chices Äußeres auf und blättert gerade in der russischen Ausgabe der Modezeitschrift Burda.
„Darf ich mal lesen ?“ – Ich darf. Auf der letzten Seite prangt mir „Otto – odobrjaju“ entgegen, die russische Version von „Otto – find‘ ich gut“. Ich muss lachen.
Kaoru und Yuko sind in den folgenden Tagen oft bei uns. Ich bin erstaunt über Marinas Allgemeinwissen, die Japanerinnen sind es ebenfalls. „Woher weißt Du das alles über unser Land ?“ will Yuko wissen. „Es gibt viele Bücher hier.“ sagt Marina. „Aber natürlich ist es schwer, sie zu bekommen.“
Als ich höre, was Marina als Ballerina im Monat bekommt, muss ich schlucken: 80 Rubel im Monat. „Ja weißt Du,“ sagt Marina, „es wird noch vorausgesetzt, dass ich nebenbei Tanzstunden gebe… “
Dass ihr außerdem dieser oder jener nette Herr mal etwas schenkt und ein ganz Reicher sie eines Tages heiratet, wird in diesem Lohnsystem sicher auch vorausgesetzt. Ein halbes Jahr später wird sie mir dann aus Omsk schreiben, ihren Beruf an den Nagel gehängt haben und in einer Fabrik arbeiten.
Wundert es ? Die Stellung als attraktive, tanzende Bettlerin ist nun auch nicht gerade die angenehmste.
Aber noch sitzen wir im Zug nach Moskau, noch sind wir in den verschneiten Wäldern. In Jaroslawl muss Juri, der Matrose aussteigen. Schnell tauschen wir Geschenke, auch mit Olga und Marina, die dann wiederum Kaoru und Yuko mit Geschenken behängen. Dann stehen wir auch schon draußen. „Du bist endgültig wieder in Europa.“ sagt Juri und weist auf den Grund unter seinen Füßen: „Es gibt wieder Bahnsteige.“
Tatsächlich, die Reisenden müssen nicht mehr aufs blanke Feld hinunterklettern ( Wie mag das aussehen, wenn es nicht gefroren ist ? ). Eine richtige „Plattform“ gibt es hier.
In zwei Stunden werden wir in Moskau sein. Langsam quälen wir uns alle in unsere Mäntel.
Moskau – Jaroslawer Bahnhof. Da bin ich also wieder. Wie es jetzt weiter gehen wird, weiß ich noch nicht. In der Tasche habe ich einen Fahrkartengutschein nach Sotschi. Der Zug fährt heute Nacht, 21 Uhr.
Wenn Kolja sein Vorsprechen wahr gemacht hat und hier ist und obendrein noch ein Bett für mich hat, dann könnte ich ja vielleicht erst morgen…
Ach so, vor dem Losrennen sollte man sich ja erst einmal verabschieden. Tschüß Marina, auf Wiedersehen Olga, tschüß Kaoru und Yuko !