avatar

10.000 km ostwärts – eine Reise durch das beginnende 1989 (17), auf der Rückreise

CHABAROWSK – MOSKAU, 5. – 10. März 1989 – Zweiter Teil: Von Birobidshan zum Baikal

Die Schaffnerin hat mir eine Tabelle gegeben, auf der ich ersehen kann, wann der Zug wo ist. Hier, in der übernächsten Station kann ich in das achte Abteil. Moment mal, werden wir wirklich schon am 10. März in Moskau sein ? Die Schaffnerin nickt.

Ich mache mich auf den Weg durch die Waggons. Finde ich jemanden, der in Birobidshan aussteigt ? Ja, ein junger Mann packt gerade seine Sachen. „Entschuldigen Sie, können Sie für mich auf der Post dieses Telegramm aufgeben ?“ Er liest sich den Zettel durch: „Kolja, entschuldige, bin schon am 10.3. in Moskau, Zug und Waggon wie gehabt.“ – „Ja, das mache ich schon.“ sagt er. Nein, Geld will er nur zwei Rubel nehmen. „Mehr kostet das doch nicht.“

Birobidshan am Amur ist die Hauptstadt des „Jüdischen Autonomen Sowjetbezirks“ (heute eines „Jüdischen Autonomen Bezirks“ in der Russländischen Föderation). Das sagt nichts über die Anzahl der Juden, die hier wohnen. Ihr Anteil beträgt weniger als drei Prozent der Gesamtbevölkerung (heute weniger als 1 %).

War Chabarowsk schon eine recht kulturlose Retorten-Stadt, so ist Birobidshan noch um vieles schlimmer dran. Obendrein ist die Stadt kleiner. Der prozentuale Anteil der Juden in Chabarowsk ist deshalb auch höher als der in der Hauptstadt des jüdischen autonomen Bezirks.

Wundert es ? Die jüdische Minderheit in der Sowjetunion hat den höchsten Bildungsgrad, den größten Anteil an Akademikern. Wen unter diesen Leuten sollte es hierher ziehen, wo es nicht einmal ein Technikum gibt, geschweige denn eine Universität. Hier gibt es nur das Thermometer, das jetzt, 23 Uhr schon wieder gegen minus 30 Grad Celsius tendiert.

Auf dein Rückweg in „meinen Waggon“ treffe ich die Schaffnerin vom Nachbarwagen. Sie ist, wie auch an den folgenden Tagen, angetrunken. Nicht nur jetzt, auch an den Folgetagen redet sie auf mich ein: „Und ? Deutscher ? Faschist ? Hast Du wenigstens ein Geschenk für mich ?“

Ich bin verblüfft, wie eisern sie das durchzieht.
Selbstverständlich habe ich auch ihr gegenüber all mein Russisch vergessen und werde auch in den kommenden Tagen nicht verstehen, was sie von mir will.

Dann endlich ist Platz im Abteil Nr. 8 bei Christina und Juri. Endlich kann ich mich ausbreiten.

Christina ist übrigens eine strenge Juristin und ist besorgt darum, dass mir, dem Ausländer Recht widerfährt. Schon nach 20 Minuten in ihrem Abteil liegt sie im Clinch mit dem Schaffner. Gerade hat derselbe nämlich Tee gebracht und will kassieren.

„Der Ausländer hat eine Buchfahrkarte, in derselben ist der Preis für den Tee enthalten !“ So fährt sie wütend den Schaffner an. „Das wissen sie ganz genau ! Sie haben hier gar nichts zu kassieren !“

Bild oben: Die „Buchfahrkarte“, erworben um 2/3 des Preises einer Hotelübernachtung im Hotel „Intertourist“ in Chabaraowsk

Der Schaffner weiß, dass dem so ist. Was aber nicht besagt, dass er es akzeptiert. Er muss den Tee ja irgendwo kaufen. Kann schon sein, dass der Ausländer mit seiner Fahrkarte den Tee bezahlt hat. Aber doch nicht bei ihm, dem Schaffner. Und Tee kochen macht Mühe, die will bezahlt sein…

All das verstehe ich sehr gut. Aber Kristina kann es nicht hinnehmen.
Draußen, ungesehen von ihren strengen Augen, stecke ich ihm dann sein Geld zu.

Später, lange nach Mitternacht schlafen wir ein. Kristinas Tochter schläft schon lange. Es muss eine arge Strapaze sein für den vier Monate alten Wurm.

Am nächsten Morgen und auch in den folgenden Tagen sind wir ein gutes Team. Der Matrose Juri und ich springen immer wieder hinaus auf die Waggontoilette.
Kinderhöschen und Windeln sind in der Toilette auszuwaschen und zum Trocknen aufzuhängen. Wir sind im Zeitalter vor der Einfuhr der Wegwerf-Windel. Alle 1 1/2 Stunden muss Kristina ihrem jammernden Sprössling die Hosen wechseln.

Gerade rattern wir über eine Brücke, die am Anfang und am Ende von einem Turm gesäumt ist. Darauf stellt ein Uniformierter mit Maschinenpistole. „Warum“, so frage ich „stehen hier auf allen Brücken Soldaten ?“ – „Das sind keine Soldaten.“ sagt Juri. „Es ist eine Spezialeinheit der Bahn-Miliz. Es gibt Banden hier hinten in Sowjetisch-Fernost, frustrierte Menschen, die einen Sinn darin sehen, Brücken zu sprengen und auch sonst zu zerstören“ – „Chuligany“, so zitiere ich das russische Wort für Hooligan oder „Rowdy“ und versuche mir einen wissenden Anschein zu geben.

„Nein !“ sagt Christina. „Das ist schon nicht mehr Rowdytum, das ist schon eine Stufe mehr.“ Juri nickt zustimmend. Ist das immer noch dieselbe Kristina, die mir vor ein paar Stunden etwas über Kriminalität erzählen wollte ? Ich will nicht noch einmal darauf zurückkommen. Wahrscheinlich würde sie trotz allem darauf beharren, dass „der Sozialismus“ jedenfalls und abstrakt gesehen die Kriminalität besser bewältige.

Aber eine bissige Bemerkung kann ich mir nun doch nicht ersparen. Als ihre Tochter wieder einmal schreit, sage ich: „Ja siehst Du, Kleines – so ist Deine Mutter. Die gerechte Gesellschaft hat sie im Kopf und merkt nicht einmal, dass Du eine neue Hose brauchst.“ Juri und Kristina lachen und dann beginnt wieder die Teamarbeit.

Mit Juri stehe ich noch oft draußen, während Christina ihrem Kind die Brust gibt.

Kamtschatka…Wie ist das Klima dort ? Warst Du an den Vulkanen ? Es ist soviel, was ich Juri zu fragen habe. Ich erzähle ihm von Island, vom großen und kleinen Geysir und dass ich davon
träume, einmal nach Kamtschatka fahren zu dürfen. „Ach weißt Du“ sagt Juri. „Kamtschatka sieht bestimmt nicht anders aus als Hokkaido, die nördlichste der japanischen Inseln auch. Gewiss, es leben nicht so viele Menschen dort. Du kannst tagelang durch dir Vulkanlandschaft ziehen und keiner Menschenseele begegnen. Aber ist es wirklich so ein Verlust, wenn man dort nicht war ?“ – Doch, mir erscheint es wohl schon so.

Bild oben: Kamtschatka, Tal der Geysire, aus Wikipedia

Ich muss mit recht glasigen Augen seinen Ausführungen gelauscht haben und er versucht mich zu trösten: „Weißt Du, die Welt verändert sich. Vielleicht ist schon das, was heute so weit und unüberwindbar erscheint, schon morgen greifbar nahe ?“ Vielleicht wirklich.

Das Gespräch über seine Arbeit ist übrigens immer wieder lustig, wegen der Worte der russischen Seemannssprache. Was zum Beispiel könnte ein „Kwartirmajster“, eine „Landkarta“. ein „Langbot“ oder ein „Bozmanmat“ sein ? Und nicht zu vergessen die Worte aus dem Englischen, „Drajf ( drive )“ für Meeresströmung zum Beispiel.

Die Geschichte der „Großen Russischen Seefahrt“ beginnt 1713, mit der Gründung des heutigen Leningrad durch Peter „den Großen“. In Ermangelung eigener tüchtiger Seeoffiziere heuert das russische Marineministerium zunächst ausländische Kapitäne an. Der Däne Vitus Bering, Entdecker der nach ihm benannten Meerenge zwischen Asien und Alaska, ist der Bekannteste unter ihnen.

Später wachsen einheimische Seeleute heran. Unter ihnen tun sich die Deutschen aus dem Baltikum, das Russland im 18. Jahrhundert (aus schwedischer und polnischer Hand) erobert, besonders hervor. Sie bringen das deutsche Vokabular in die russische Seemannssprache. Ein deutschstämmiger Edelmann aus der Nähe von Talinn (Reval), Johann Adam ( = Iwan Fjodorowitsch ) von Krusenstern wird 1803 bis 1806 die erste russische Weltumseglung leiten.

Später und daheim werde ich Krusensterns Erinnerungen lesen. Sie sind gespickt mit Vokabeln wie „Meine russische Heimat“ und „die Ehre Russlands, die es zu verteidigen galt.“

Geschrieben ist das Ganze im Original… auf Deutsch.
Aber all das weiß ich noch nicht in den Tagen, in denen ich mit Juri erzähle. Nur eines merke ich: Als später 30 Japaner einsteigen und er mit ihnen bekannt wird, möchte er nicht, dass sie von seiner Tätigkeit erfahren. Er ist Matrose … sagen wir mal … auf einem Fischereifahrzeug. Währenddessen erzählt er mir, dem Bürger eines NATO-Staates bereitwillig vom Dienst in der Rotbannerflotte.

Kristina fragt uns gespannt, ob uns der Milizionär gefunden hätte und was er wollte. „Welcher Milizionär ?“ – „Ja, da war ein Milizionär in Zivil, der wollte wissen, ob der Ausländer hier sei.
Und da Du nicht da warst, war er sehr aufgeregt und wollte wissen, wann Du ausgestiegen seiest. Und ich sagte: >Da ist doch sein Gepäck, warum sollte er ausgestiegen sein.< Aber er fuhr mich an und meinte, dass ich Dich nicht aus dem Abteil gehen lassen sollte und nachschauen, dass Du nicht verloren gehst. Da habe ich ihn zurück angefahren, dass ich nicht Deine Amme sei. Schließlich weißt Du ja selbst, wie man aus dem Abteil heraus und wieder hinein kommt.“ Au wei – die Mühlen der sowjetischen Bürokratie mahlen langsam, aber sie mahlen.

Der Baikal …Acht Stunden an diesem sonnigen Tag fahren wir an seinem Ufer entlang. Er ist dick vereist, zugefroren. Wieder stehen viele der Mitreisenden an den Fenstern und drücken sich die Nasen platt. Der See, der größte der Welt, bildet die Grenze zwischen Sibirien im Westen und dem Fernen Osten. Er ist eine magische Grenze. Jetzt werden wir sie überschreiten, kommen wir in altes russisches Kulturland, das Land der Kirchen und Klöster.

 

Shares
Folge uns und like uns:
error20
fb-share-icon0
Tweet 384
avatar

Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Shares
Scroll To Top