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10.000 km ostwärts – eine Reise durch das beginnende 1989 (16), auf der Rückreise

CHABAROWSK – MOSKAU, 5. – 10. März 1989, erster Teil: Chabarowsk – Birobidshan

Der Schaffner ist ein Schlitzohr, das mich schon beim Einsteigen fragt, ob ich ein Geschenk für ihn habe. Aber ich kann auf einmal ganz schlecht russisch und ihn überhaupt nicht verstehen. Seine Kollegin, ein Koloss von Frau, ist da schon freundlicher. „Nun gib ihm doch erst einmal einen Platz !“ sagt sie.

Ja, damit wird es schwierig. Denn dernWagen, in dem ich mich befinde, wurde nicht wie geplant ab Chabarowsk eingesetzt, sondern bereits ab Komsomolsk am Amur. Und jetzt sitzen da halt schon Leute drin.

Aber dort hinten, im Abteil Nr. 8 wird in der Station nach Birobidshan ein Platz frei. So lange darf ich mich im Abteil der Schaffner breit machen. Ich mache mich aber gar nicht breit, sondern packe nur etwas zum Lesen und etwas zum Essen aus. Die junge Frau dort hinten winkt zu mir herüber.

Sie hat halblanges, blondes Haar und wäre sogar hübsch, wenn sie nicht so dick wäre. „Du fährst heute Abend in unserem Coupe ?“ fragt sie. „Im achten, ja das werde ich, wenn ich das darf !“ – „Natürlich darfst Du das. Du hast ja Deine Fahrkarte bezahlt.“

Sie heißt Kristina, ein in der Sowjetunion seltener Name und kommt aus Estland. Eine Wohnbewilligung und eine dreijährige Arbeitstverpflichtung, eine so genannte Komandirowka, hat sie allerdings in der Ukraine, für die Stadt Odessa.

Ihr Mann dient auf Kamtschatka in einer Raketeneinheit. Ihn hat sie die letzten Tage besucht, zusammen mit ihrer Tochter, die gerade vier Monate alt ist.

Jura studiere ich ? Kristina ist im Juristin und arbeitet in einem sowjetischen Großbetrieb. Hier hätte mir schon klar sein können, wie sie redet. Ich werde es aber erst nach und nach mitbekommen.

Schon fängt sie an, von Gorbatschow und der Perestroika zu schwärmen. Sie wird der einzige Sowjetbürger mit dieser Begeisterung für Gorbatschow bleiben, dem ich in der Sowjetunion begegne. Aber begeistert zu sein ist ihre Pflicht. Immerhin ist es ja ihre Aufgabe, die sozialistische Gesetzlichkeit durchzusetzen !

„Du sprichst nicht schlecht russisch.“ sagt sie. „Danke“ sage ich. „Aber schließlich interessiere ich mich für das Land und da muß ich die Sprache lernen. Das ist doch normal.“ – „So normal ist das gar nicht.“ entgegnet sie. „Millionen von Sowjetbürgern sprechen schlechter russisch als Du !“ – „Ist das schlimm ? Schließlich sind ja nicht alle Sowjetbürger Russen !“ – „Ja, das ist schlimm, denn wer in der Sowjetunion lebt, der muss fließend und fehlerfrei russisch sprechen können.“ – „Du bist aber keine gute Estin.“ versuche ich zu spötteln.

Doch das verträgt sie jetzt gar nicht. „Nein, die verantwortungslosen Demonstranten in Talinn, das sind keine guten Esten,“ antwortet sie böse. – Au weia, da bin ich ja an jemanden geraten.

Dabei ist sie doch selbst mehr Getriebene denn Treiber und das hängt mit der Kommandirowka zusammen, die sie in die Ukraine verschlagen hat.

Nach absolviertem Studium kann ein sowjetischer Jungakademiker seinen Arbeitsplatz keinesfalls frei wählen. Auf drei Jahre hat er erst einmal einer Kommandirowka zu folgen. Diese verfrachtet ihn nicht dahin, wohin er will, sondern dahin wo die Sowjetmacht ihn braucht. Estnische wie auch lettische Jungakademiker werden eben außerhalb ihrer Heimat gebraucht. In diesen Baltenrepubliken wiederum braucht man Jungakademiker russischer Nationalität.

Wieder in seine Heimat zurückzukehren ist schwer. Denn hierfür braucht man eine
Arbeitsbewilligung. Und diese wiederum bekommt man nur für einen Ort, in dem die eigene Qualifizierung gebraucht wird. Ja, eigentlich gibt es im Baltikum schon genügend Juristen…

Der Effekt: Immer weniger Intellektuelle in Estland, Lettland und sogar Litauen sprechen die Landessprache. Es mangelt an Lehrern, die auf estnisch unterrichten könnten, an Ingenieuren, die auf estnisch mit den Arbeitern sprechen, an Ärzten, die die Krankheitsdiagnose auf estnisch stellen könnten; kurz: an allem, was eine eigenständige Nationalkultur trägt.

Bild oben: Enn Tarto 2007, aus Wikipedia

„Planmäßige Russifizierung“ hat das der estnische Bürgerrechtler Enn Tarto genannt. Unter dem Vorwurf „Nationalistischer Hetze“ hat er 12 Jahre Arbeitslager bekommen…

Die Zeit arbeitet gegen den Vielvölkerstaat Sowjetunion. Die Nationen regen sich und
bedrohen über kurz oder lang den Bestand des Imperiums. Je weniger davon übrig bleiben, desto stabiler wird der Staat sein.

Wie heißt es in der Geschichte vom Turmbau zu Babel (1. Mose, 11, 5-7 ) ?:

„Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, den die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns. Nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns hernieder fahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe ! So zerstreute sie der Herr, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen…“

Ein gefährliches, ein mahnendes Beispiel. Nein, so klug ist man im Kreml schon lange. Man weiß, was man zum Bau einer Stadt braucht.

Aber das alles kann ich, das sehe ich sofort, Kristina nicht sagen. Es würde sie vielleicht zutiefst beleidigen. Für ihr Sowjetreich ist sie bereit, alles hinzugeben.

Eine groteske Probe davon werde ich später im Abteil mitbekommen: „Wo würdest Du lieber leben, in der Sowjetunion oder in der Bundesrepublik ?“ fragt sie mich. „Die Bundesrepublik ist meine Heimat, natürlich möchte ich in meiner Heimat leben.“ So versuche ich einer Grundsatzdiskussion
auszuweichen.

Doch das geht nicht. „Aber in Deiner Heimat gibt es Kriminalität, Banden, Räuber, Rauschgiftsucht, ständig musst Du um Dein Leben bangen,“ bohrt sie weiter. „So ein Quatsch !“ sage ich.

„Wenn ich kein Dealer oder Zuhälter bin, werde ich in keine Bandenkriege verwickelt und muss auch nicht um mein Leben bangen. Und eine Spritze voll Heroin schiebt mir auch niemand gewaltsam in den Unterarm.“ – „Aber das alles gibt es bei Euch, und Prostitution auch, wie Du ja selbst sagst.“

Es hilft nichts, ich muss zum Gegenangriff übergehen: „Sag mal, Kristina, willst Du mir jetzt wirklich erzählen, es gäbe in der Sowjetunion keine Straßenräuber, keine Einbrecher und keine Zuhälter ?“

Gerade will sie zu einer langen Erklärung ausholen, da beugt sich Juri, ein Matrose von der Pazifikflotte über seine obere Liege:

„Nun mach aber mal einen Punkt, Kristina und gib zu, dass Du Dich in Komsomolsk nach 21 Uhr nicht mehr auf die Straße traust !“ Sie schweigt verdutzt.

Na klar, ist ja schon wahr…
Aber von ihm und den anderen Fahrgästen werde ich später noch erzählen. Vorerst sitze ich noch vorn, im Dienstabteil. Die Schaffnerin hat mir eine Tabelle gegeben, auf der ich ersehen kann, wann der Zug wo ist. Hier, in der übernächsten Station kann ich in das achte Abteil.

Moment mal, werden wir wirklich schon am 10. März in Moskau sein ? Die Schaffnerin nickt.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

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