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Vom Sinn des Soldatseins – Erinnerungen an den Wehrdienst in der DDR (Teil 4/9)

Kapitel 4

Alle vier Wochen fand an zwei aufeinander folgenden Tagen Politunterricht statt – ver­ächtlich »Märchenstunde« genannt. Die gesamte Mannschaft saß im Schu­lungsraum und erhielt »Rotlichtbestrahlung«. So angenehm es einerseits war, an diesen Tagen mal nicht die übliche Ein­satzausbildung zu haben, so unendlich dröge zog sich andererseits die ideologische Beriese­lung hin. Offiziere leierten irgendwelche Phrasen her­unter, die nicht einmal sie selbst für voll nahmen, und versuchten vergeblich, die ganz trägen, wider­­willigen Soldaten in Diskussionen zu ver­wickeln.

Bei der Lektüre des jedem Soldaten überreichten Ratgebers »Vom Sinn des Soldat­seins« erfuhren sie unter anderem folgendes: »Militärische Disziplin […] bedeutet bedingungslose Unterordnung unter den Willen des Vorgesetzten. Der Befehl des Kom­mandeurs ist unter allen Umständen Gesetz Ihres Handelns.« Wenn das so war, was blieb da noch zu diskutieren übrig?

Ich nutzte die Zeit vornehmlich zum Schreiben langer Briefe. Zwi­schen­­durch war Selbststudium in den un­glaublich dum­men, verlogenen Schulungsheften »Wissen und Kämp­fen« angesagt. Die meisten legten in diesen Stun­den ihren Kopf auf den Tisch oder, sofern das Selbst­studium auf die Stube verlegt wurde, sich selbst ins Bett; wichtig war dann, dass jemand Schmiere stand für den Fall, dass der Polit­offi­zier kontrollieren kam.

Die allererste Politschulung diente der Vorbereitung auf die Vereidigung. Nach zwei Wochen Grundausbildung war es so weit. Tagelang hatte man die Rekruten getriezt, bis der Sitz des Kop­pels und der Schirm­mütze millimetergenau der Vorschrift entsprach, und sie waren genug gedrillt worden, um jetzt perfekt exer­zie­ren und antreten zu können.

Die langwierige Veranstaltung mit viel Tschingderassassa kulminierte im Ableisten des sogenannten Fahneneides. Vorne sprach ein Offizier ihnen vor, und alle spra­chen, alle brüllten ihm nach. Die Wehrdienst­leistenden schworen, »ein ehrlicher, tap­ferer, dis­zi­pli­nierter und wachsamer Soldat zu sein, den militärischen Vorgesetzten unbeding­ten Gehorsam zu leisten, die Befehle mit aller Entschlossen­heit zu erfüllen und die militärischen und staatlichen Geheimnisse immer zu streng zu wahren.« Wir schworen, ich schwor, »jederzeit bereit zu sein, den Sozialis­mus gegen alle Feinde zu verteidigen und mein Leben zur Erringung des Sieges ein­zu­setzen.« Und würde ich je gegen den Eid verstoßen, sollte »mich die harte Strafe der Gesetze unserer Repu­blik und die Ver­ach­tung des werktätigen Volkes treffen.« Damit hatten sie mich. Der Pakt war geschlossen. Eine reale Alternative hatte nie zur Auswahl gestanden, es sei denn, ich hätte nicht studieren oder sogar in den Knast gehen wollen.

Einmal in der Hölle gelandet, galt es, sie als normalen Teil der Welt zu akzep­tie­ren und eine geschützte Position in ihr zu erlangen. Es galt, sich auf deren krude Ge­pflogen­heiten einzu­stel­­len, in ihren komplexen Hierarchien sich einzurichten und innerhalb ihrer Mauern und viel­fältigen Verbote sich bewegen zu können. Wie all die anderen Rekru­ten lernte auch ich in ver­blüf­fend kurzer Frist die Spielregeln. Entscheidend war, nicht über Gebühr aufzufallen, weder im Positiven noch im Negativen, weder bei den Vorgesetzten noch bei den Kameraden. An­pas­sung war ebenso wichtig wie der trotzige Vorsatz, dieser widrigen Welt reser­viert und kritisch zu begeg­nen. Ich wollte ihr nicht verfallen, musste aber gerade des­halb ihre Regeln beherrschen.

Ich wollte sehr viel lesen und geistig nicht versumpfen, wollte nicht saufen und – später – jüngere Dienst­halbjahre nicht schikanieren; ich durfte aber auch nicht als allzu versponnener Außenseiter oder gar Musterknabe gelten, musste geachtet werden, musste schon auch mal mittrinken. Hilf­reich war, dass ich sportlich genug war, die Sturmbahn am schnellsten von allen zu überwinden, und geschickt oder intelligent genug, meine Maschinen­pistole fehler­frei auseinanderzunehmen und zusammenzubauen. Denn wer dauernd dabei passte, zog nicht nur Verachtung und Ärger der Vor­gesetzten auf sich, sondern auch der eigenen Truppe, weil der Ärger auf sie als Kollektiv zurück­fiel. Wurde die Gruppennorm nicht geschafft, weil ein Ein­zel­ner zu langsam war oder vor­beischoss, musste die gesamte Gruppe die Übung wieder­holen oder kam für einen Gruppen­aus­gang nicht in Frage.

Schädlich war es aber auch, als Stre­ber, »Kratzer«, »Putte« zu gelten. Mit dem Arsch an die Wand zu kommen war okay, aber bei den Vorgesetzten ohne Not sich einzu­schlei­men eine grobe Sünde, die den Rückhalt unter den Kameraden kosten konnte. Beides war kein Problem für mich.

Wenn überhaupt, dann miss­trauten mir einige, weil ich die Leseratte, die ich nun mal war, den Träumer und Spöt­ter, den Ästheten und Kultur­men­schen offen zur Schau stellte. Manche Handwerker, Bauern, Proleten, Sechs­klassen­abgänger fühlten sich hier provo­ziert, obwohl ich ihnen doch gar nichts zuleide tat. Bald schon hatte ich den Spitz­namen »Acker­macker« weg, eine halb verächtliche, halb achtungsvolle Verballhornung von Akademiker. So etwas hätte böse enden kön­nen, aber irgendwie muss ich doch erd­ver­bunden und loyal gewirkt haben, denn ich wurde in Ruhe ge­las­sen und geschätzt. Einzig je ein­mal im zweiten und dritten Dienst­halbjahr schien die Differenz zu eskalieren – ich wurde zu heftigen, durch­aus ern­sten Ring­­­­kämp­fen genö­tigt. Doch weil der erste unent­schie­den aus­ging und beim zweiten der Provo­kateur unterlag, hatte ich vor größe­rem Publi­­kum bewiesen, dass ich mir nicht die Butter vom Brot nehmen ließ.

 

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Über Frank Böttcher

Frank Böttcher wurde 1960 in Lutherstadt Wittenberg geboren und lebt seit 1981 in Berlin. In den 1990er Jahren schrieb er Kunstkritiken und dergleichen für den Tagesspiegel. Vor allem aber ist er Verleger des 1995 gegründeten, bis heute existierenden kleinen, aber feinen Lukas Verlags.

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