CHABAROWSK, 5. März 1989
„Können wir in die Stadt fahren ?“ frage ich einen Taxifahrer.
„Können wir,“ sagt er, „wohin ?“ – „Dorthin, wo man etwas sehen kann.“ Abgemacht. Im Taxi plaudern wir und er ist auch erfreut über „die Fuhre“ die er jetzt macht.
Chabarowsk ist, wie schon einmal gesagt, eine junge Stadt. Die „Altstadt“ gibt es hier nicht. Die ältesten Gebäude stammen alle aus diesem Jahrhundert. Wir fahren zum Lenin-Platz und die Engels-Straße entlang. Häuserblock reiht sich an Häuserblock. Es ist der Baustil der zwanziger Jahre, das Zentrum der Stadt.
„Warst Du schon am Amur ?“ fragt der Taxi-Fahrer. „Nicht ? – Den mußt Du unbedingt sehen.“
Wenig später steht er auf einer Anlegerbrücke am Fluss. Ich steige aus und gehe zum Ufer hinunter. Gigantisch weit breitet sich eine Eisfläche vor uns aus. Drüben, am anderen Ufer ist China.
Später setzt er mich an einem Mahnmal ab: „Das besuchen alle Ausländer.“ Es besteht aus gigantischen marmornen Blöcken, in deren Halbkreis ein „ewiges Feuer“ brennt. Irgendwelchen revolutionären Kämpfern ist es gewidmet, ich glaube, den Rotarmisten, die hier in den zwanziger Jahren ihre weißen Gegner zerschlugen.
Ich bin wohl nicht der rechte Ausländer, um hier meine Andacht zu entfallen. Aber ich will meinen Taxifahrer nicht kränken und als er fragt, ob ich das ganze nicht großartig fände, sage ich nur, dass mir tote Steine nicht so liegen. Er nickt.„Aber Jetzt siehst Du etwas Lebendiges, das schönste und komfortabelste Hotel in der Stadt. Es ist so schön,“ und jetzt flüstert er fast vor Ehrfurcht, „dass dort fast nur Ausländer wohnen.“
Als wir dort sind, will ich eigentlich gar nicht hinein. Auch sein Hinweis, dass hier viele Bundesbürger wohnten, kann mich nicht reizen. 100 DM kostet die Nacht im „Hotel Intourist“ in Chabarowsk. Das habe ich in Tokio schon mitbekommen. Oder sagen wir es anschaulicher: 14 Taschenrechner ist der Preis, für Russen ein unvorstellbares Vermögen.
Hinter dem Hotel, so hat mir der Taxifahrer gesagt, befindet sich das Stadtmuseum. Das interessiert mich schon eher. Es hat gerade geöffnet. Er will auf mich warten.
Im Museum empfangen mich zwei ausgestopfte Amur-Tiger. Auch sonst bin ich davon überrascht, was hier lebt oder einst gelebt hat. Ein Raum ist dem Waldläufer Dersu Uzala gewidmet, der hier mehrere Forschungsexpeditionen geführt hat. In einer japanisch/sowjetischen Koproduktion konnte man seine Taten in den Kinos der Welt bestaunen.
Oben: Screenshot aus youtube, wo der Film abrufbar ist.
Dann liegen hier noch die Waffen und Geräte der Wissenschaftler und Kosaken aus dem vorigen Jahrhundert. Sie sind hier nie lange geblieben, schon gar nicht für immer. Ich muss an Igor denken, dessen zu Hause immer die Ukraine bleiben wird.
Mehrere Räume widmen sich der Oktoberrevolution und dem Bürgerkrieg. In einem Rondell ist eine Szene aus demselben als Panorama rundum an die Wand gemalt. Über eine Treppe gelangt der Besucher dort hinein und steht auf einmal mitten im Pulverdampf.
Dort, an der Seite ist eine zerschossene Hütte aus dem Bild herausgebaut. Darinnen sitzt ein schwer verletzter Politkommissar mit verbundenem Kopf und Arm. Er studiert eine Karte. Ja, viele der Helden sind schon gefallen. Man kann ihre Leichen herumliegen sehen. Aber auch die konterrevolutionären Verräter haben Blut gelassen. Bald werden sie ausgemerzt sein.
Draußen steige ich wieder ins Taxi. „Und nun ?“ fragt der Fahrer.„Gibt es keine Kirche im Ort ?“ will ich wissen. „Oh doch. Sie ist in der Nähe des Bahnhofs. Hast Du ihre Kuppeln nicht gesehen ?“
Nein, ich habe sie nicht bemerkt. Aber dann stehen wir ja davor.
„Wieviel ?“ Er zeigt auf die Gebühren-Uhr in seinem Taxi. Ich bin beschämt über seine Bescheidenheit und gebe das Doppelte.
Vor der Kirche steht ein blinder Mann und bettelt, zwei alte Frauen ebenfalls. Innen ist Gottesdienst, heute ist Sonntag. Nanu, das habe ich ganz vergessen.
Man kann es auch schnell vergessen in der Sowjetunion. Die Lebensmittelgeschäfte haben alle Tage offen, die meisten Industriewarengeschäfte ebenfalls. Das hatten mir schon die Freunde In Moskau erklärt. „Ist das bei Euch nicht so ? “ wollten sie wissen. „Wann kaufen dann die Leute bei Euch ein ?“
Das ist eine wichtige Frage, wenn man in einem Land lebt, in dem zum Teil samstags gearbeitet wird und in dem das Schlangestehen tatsächlich einen ganzen Tag zum Einkaufen erfordert. Über den Rhythmus einer Gesellschaft hatten wir uns unterhalten und ich hatte gemeint, dass eine Gesellschaft aus den Fugen gerate, wenn sie keine rhythmische Ordnung mehr pflege.
Die Einteilung der Woche in Werk- und Sonntage ist solch ein Rhythmus. Ohne Sonntag macht die Woche auch keinen Sinn mehr. Sie wird eine Zähleinheit für den Computer, weit weg vom gesellschaftlichen Leben.
Heute also ist Sonntag. Ich betrete die Kirche, in der der Priester vor der vergoldeten Ikonenwand die Liturgie singt. Das Gotteshaus ist aus Holz und sieht von außen aus wie eine Baracke.
Nein, schäbig ist es nicht, es ist sogar groß und hat einen Glockenturm.
Und innen ist es reich geschmückt. Brechend voll ist der Raum, meist alte Frauen stehen hier. Nach der Liturgie wird ein Kind getauft. Dann leert sich die Kirche nach und nach.
Einschub 2024:
Der Neubau von Kirchen war in Rußland schon im 1. Weltkrieg unbezahlbar. Nachdem 1922 auch der Ferne Osten an die Moskauer Sowjetmacht fiel, sowieso ausgeschlossen.
Kirchen wurden ab dem Ende der 1990er Jahre dann viele in der Russländischen Föderation gebaut. Die Russische Orthodoxie füllt heute das Vakuum, das der Zusammenbruch der Kommunistischen Ideologie ab 1992 in Rußland hinterlassen hat. Russische Orthodoxie gehört heute zum Moskauer Selbstverständnis des Staates.
Bild oben: Die 2004 erbaute Kirche der Verklärung des Erlösers zu Chabarowsk, heute „das Wahrzeichen der Stadt“, Foto aus Wikipedia.