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Kherson – an der Front. Und irgendwie egal

Beim Einchecken im Hotel wird man direkt darauf hingewiesen: Rauchen ist auf den Zimmern nicht erlaubt. „Auch wenn Sie einen Balkon haben – es darf nirgends geraucht werden, nicht mal auf dem Balkon.“ Dann kommt: „Bei Luftalarm versuchen Sie gar nicht erst, bis zum Bunker zu kommen. Das schaffen Sie sowieso nicht. Gehen Sie einfach auf den Korridor.“

Kherson: Erst war die Stadt russisch besetzt, dann wurde sie von der ukrainischen Armee befreit. Danach haben die Russen den Damm des Flusses, an dem die Stadt liegt, zerstört, und es kam zu einer Flutkatastrophe. Menschen, die sich auf die Dächer ihrer Häuser geflüchtet hatten, haben die Russen beschossen. Auch die Flutkatastrophe hat die Stadt und die umliegende Region ansatzweise bewältigt. Geblieben ist: die russische Armee auf der anderen Flussseite. Die Stadt liegt also quasi an der Front. Auf den Uferstraßen ist die schusssichere Weste unabdingbar. Es gibt keine Straße, in der nicht ein Gebäude von Raketen oder Drohnen getroffen wurde.

Igor war eigentlich Hotelier in Istanbul. Jetzt ist er wieder da – seit Februar 2022. Warum er zurückgekommen ist? „Meine Mutter ist hier und will nicht weg.“ Wenn man mit den noch verbliebenen Bewohnern und Bewohnerinnen der Stadt und der Region spricht, hört man diese Antwort häufig. Die Menschen bleiben in einer Region, die unter Dauerbeschuss steht. Oft sind es Alte, die noch nie im Ausland waren und mehr Angst davor haben als vor einem Krieg, an den sie sich gewöhnt haben. Die Jüngeren lassen ihre Eltern oft nicht allen. Und irgendwie ist die Grundhaltung auch: Selbst wenn das Haus des Nachbarn getroffen wurde – ich kann den Krieg überleben, ich werde nicht getroffen. Viele leben hier mit der Haltung: Wenn ich gehe, haben die Russen quasi gewonnen. Also opfere ich mein Leben für mein Land. Selbstmord oder Heroismus? Wer von uns mag das beurteilen?

Nachts kommen russische Spione

Man hat sich daran gewöhnt, dass quasi täglich Drohnenangriffe erfolgen, dass Luftalarm ein Dauergeräusch ist und dass man keine öffentlichen Grünflächen betreten kann, weil die Russen diese Flächen vermint haben. Insider gehen davon aus, dass täglich 10–15 russische Spione in der Stadt unterwegs sind. Sie kommen nachts über den Fluss, sind von Ukrainern und Ukrainerinnen nicht zu unterscheiden und sprechen dieselbe Sprache. Gerade im Süden und Osten ist Russisch bis heute mehr oder minder Umgangssprache.

Die willkürlichen Tötungen und Zerstörunen der russischen Armee haben in Kherson eine neue Dimension erreicht: Über Mobiltelefone wird per GPS geortet, wo sich Freiwillige von Hilfsorganisationen befinden – sie werden gezielt ermordet. Vor einem Ortstermin erklärt Igor und zeigt auf einen schwarzen Fleck vor einem Supermarkt: „Hier hatte ein Freiwilliger geparkt und telefoniert. Über seinem Auto tauchte eine Drohne auf und hat ihn ermordet.“ Es gibt Videos von solchen Angriffen auf Privatpersonen und Helfer.

Igor und seine Organisation „Strong But Free“ evakuieren unter Lebensgefahr Menschen aus den umliegenden Dörfern – meist Dörfer, die direkt am Fluss liegen. Sie bringen sogar Haustiere zu ihren Besitzern, die in die Westukraine geflüchtet sind. Oftmals ist eine Flucht unter Beschuss eine Aktion von wenigen Minuten. Die Fahrzeuge haben nicht genug Platz, und es bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als ihre Tiere zurückzulassen. Die Freiwilligen versorgen ältere Menschen, bringen sie in die beiden noch aktiven Krankenhäuser und haben aktuell einen Keller eingerichtet, in dem Freizeitprogramme für Kinder stattfinden. Auf der Straße spielen ist für die Kinder von Kherson keine Option.

Angriffe als Dauerzustand

Ich bin mittlerweile das ungefähr 20. Mal in der Stadt. Beim ersten Besuch, direkt nach der Flutkatastrophe, gab es ein Theater, das zu einem Stützpunkt für Hilfsgüter umfunktioniert wurde. Während des Besuchs erfolgte ein derart starker Angriff, dass wir in den Keller geflüchtet sind und über die Außenkameras beobachten konnten, wie in der Nähe und Umgebung, mitten im Stadtzentrum, Drohnen und Raketen einschlugen. Alltag.

Als Ausländer habe ich mittlerweile keinen Zugang mehr zu bestimmten Bereichen, weil es deutlich zu gefährlich ist. Wobei die Abstufung von „gefährlich“ aus der Außenwahrnehmung schon eher fragwürdig wirkt. Es ist krass und quasi nur noch graduell zu unterscheiden.

Ein großes Problem für die Region ist der Gewöhnungseffekt – Krieg als Alltag. Selbst innerhalb der Ukraine werden oftmals sehr schnell Hilfsmaßnahmen ergriffen, wenn sich die Front verschiebt und Menschen evakuiert werden müssen. In Kherson ist Angriff Dauerzustand – ein bisschen wie für uns der Ukrainekrieg insgesamt, der nur noch zu einem Hintergrundrauschen geworden ist. Vertreter großer Organisationen wie etwa des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR kommen hierhin, sind zwei, drei Stunden da, lassen sich berichten, wie der Zustand ist, und verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Igor, als Leiter einer solchen Hilfsorganisation, ist mittlerweile extrem frustriert.

Private Hilfsorganisationen auf sich gestellt

Wie viele Hilfsorganisationen innerhalb der Ukraine, die sich aus der Ukraine selbst gegründet haben, bezieht auch Igor seine Spenden hauptsächlich aus dem Land selbst. Das Land ist wirtschaftlich extrem herausgefordert, und die Spendenbereitschaft der Ukrainer ist logischerweise aufgrund des bald drei Jahre andauernden Kriegs praktisch auf Null gesunken. Hinzu kommt, dass die Sprachkenntnisse der Freiwilligen in ukrainischen Hilfsorganisationen oft begrenzt sind, ebenso wie ihre Kontakte ins Ausland. Es ist ihnen daher kaum möglich, Spendenaufrufe für ihre Aktivitäten in Europa oder den USA zu formulieren und gezielt zu verbreiten.

Wenn die großen internationalen Organisationen nicht zur Kenntnis nehmen, was Ukrainerinnen und Ukrainer mit ihren kleinen und mittleren Organisationen an Hilfe leisten können, bricht ein System zusammen, das sich inzwischen extrem etabliert hat. Viele der Ehrenamtlichen sind mittlerweile sattelfest, wenn es um Organisation und Logistik geht – von der Administration über die Zusammenarbeit mit Behördenstrukturen bis hin zur Beschaffung von Lieferwagen und der Fähigkeit, Hilfsgüter gezielt dorthin zu bringen, wo sie am dringendsten benötigt werden.

Der Kriegsalltag und der Gewöhnungseffekt lassen sich kaum besser dokumentieren als über das Einchecken im Hotel: In den Zimmern ist Rauchen nicht erlaubt. Eine Chance zur Flucht in den Bunker haben Sie nicht.

Andreas Tölke, 64, hat 25 Jahre Hochglanz vollgeschrieben mit Porträts und Interviews mit Größen von Zaha Hadid bis Jeff Koons. 2015 hat er „Be an Angel e.V.“ initiiert, um soziale und ökonomischer Integration voranzutreibend. Seit 04. März 2022 ist der Bundesverdienstkreuzträger meist in der Ukraine, hat mit dem Be an Angel-Team 24.000 Menschen evakuiert und 5.000 Tonnen Hilfsgüter bis in Frontgebiete geliefert. Bei Demagogie, Ideologie, Radikalisierung, Paternalismus und Besserwisserei-Gequengel bekommt Tölke richtig schlechte Laune. 

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