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10.000 km ostwärts – eine Reise durch das beginnende 1989 (14), auf der Rückreise

CHABAROWSK, 5. März 1989

In Chabarowsk komme ich in meinem Zug aus dem Süden am nächsten Morgen an. Erst wird gefrühstückt, dann macht auch das Intourlst-Büro auf. Fahrkarte für den heutigen Zug nach Moskau ? Kein Problem. Nach einer halben Stunde habe ich sie in der Hand.

Auf der Post gebe ich die Michel – Jackson – Platte an Aschot nach Wladiwostok auf.

Einkaufen. Bis Moskau wird es wieder eine lange Reise werden und in der sowjetischen Eisenbahn ist es einfach üblich, eine Tasche mit Essen dabei zu haben.

WORAN ZERBRACH DAS SOWJETIMPERIUM ?

Im Lebensmittelgeschäft gibt es Brot, Zwiebeln, eingemachte Tomaten und Paprika, aber Fleisch ? Dort hinten ? – Nein, das ist Fisch aus dem Amur-Fluss. Der wird spätestens morgen früh schlecht sein.

„Pardon“ frage ich die Verkäuferin. „Haben Sie keine Wurst oder Speck ?“ Sie schaut mich verständnislos an. „Nein, woher denn ?“ Missmutig trotte ich hinaus. Dann drehe ich mich aber doch noch einmal um. „Entschuldigen Sie“ sage ich wieder. „Aber gibt es hier in Chabarowsk kein Geschäft, wo man Wurst bekommen kann ?“ „Nein.“ Sie schüttelt den Kopf. „Wer hier in Chabarowsk so etwas haben will, der muss schon ins >Rynok< gehen.“ Ihre Augen blitzen verächtlich.

Dieses >Rynok< muss wohl ein besonders verrufenes Geschäft sein in der Stadt. Ich beschließe, es zu suchen: „Wie komme ich dahin ?“ – „Mit der Straßenbahn zwei Stationen und dann immer den Leuten nach.“

Die Straßenbahn hat gerade vor dem Bahnhof gehalten. Oben an dem Stromabnehmer-Bügel ist ein Kälberstrick befestigt. Er baumelt an der Seite herunter. Der Straßenbahnschaffner steigt aus und zieht an ihm. Der Schnee, der sich auf dem Bügel gesammelt hat, fällt ab. So, jetzt kann es weiter gehen.

Zwei Stationen weiter steige ich aus. Doch in dem Geschäft, in dem ich frage, gibt es auch keine Wurst. Das wird wohl auch nicht das… wie hieß das Geschäft gleich noch einmal ? – Verflixt, jetzt habe ich es wieder vergessen. „Ach, entschuldigen Sie.“ frage ich einen Passanten. „Wo kann man hier Wurst kaufen ?“ – „Da drüben“ sagt er und weist auf die andere Straßenseite „Im >Rynok<, wo die vielen Menschen sind, genauer: in der großen Halle da.“

Ja, richtig: Rynok hieß das Wort.
Wenig später bin ich auf der anderen Straßenseite und dann befinde ich mich auf einem riesigen Basar. Das große Gebäude daneben ist die Markthalle. In ihr werden die Lebensmittel verkauft. Erst jetzt begreife ich, dass Rynok das russische Wort für Markt ist. Tschorny Rynok ist der Schwarzmarkt. Aber der Schwarzmarkt hat seine Schwärze verloren, seit der private Verkauf von Waren offiziell gestattet ist.

Eine staatliche Preisreglementierung gibt es nicht. Der Preis richtet sich nach Angebot und Nachfrage. Letztere ist groß, erstere klein im Sowjetland. Das Pfund Speck, dass ich kaufe, kostet vier Rubel. Für mich ist es ein Klacks, ein sowjetischer Jungakademiker muss dafür 6 Stunden arbeiten. Ich verstehe die gemischten Gefühle, mit denen Russen vom >Rynok< sprechen.

Dieser Umbau auf den Markt ist in der Sowjetunion schon nicht mehr rückgängig zu machen. Es sind nur „Kooperativtschikis“, die hier verkaufen, Privatleute also. Ohne sie hätte kein Chabarowsker auch nur eine Faser Fleisch auf dem Tisch. Die staatlich gelenkte Lebensmittelproduktion ist auf diesem Gebiet schon lange zusammengebrochen. Wen beliefert sie eigentlich noch, die Soldaten, die hier im Osten der Sowjetunion dienen ? Sicherlich !
Und wen beliefern die Kolchosen noch ?
Oder muss man vielleicht sogar schon andersherum fragen: Bekommen die Kolchosen noch aus eigener Kraft die Soldaten satt?
Oder müssen auch hier schon „Kooperativtschikis “ einspringen ?

Hinter den Verkaufstischen hängen ausgenommene Schweine und werden gerade zerlegt. Von oben, dem Rundgang, wo sich ein Geschäft am anderen anschließt, schieße ich ein paar Fotos. Es sieht auch zu urwüchsig aus, wie der kräftige junge Mann dort an dem Holzbock ein Schwein zerlegt und dann auf die Hälften wirft. Die Axt blitzt in seiner Hand, dann fährt sie hinein. – Zack ! Und noch einmal: – Zack !

Er hält inne, und winkt zu mir hinauf. Dann stellt er sich in die malerischste Positur, in die er sich stellen kann. Die Kamera klickt. „Von welcher Zeitung kommst Du ?“ ruft er zu mir hinauf. „Von gar keiner, bin Tourist, Bundesrepublik !“ brülle ich durch den Markthallenlärm hinunter. „Gute Reise !“ ruft er auf deutsch. „Danke.- Gutes Geschäft Dir !“ Er nickt und lacht. Dann nimmt er das
nächste Stück Schwein vom Haken.

Oben auf dem Rundgang, in den Geschäften der Privathandwerker, gibt es alles, was das Herz begehrt: Tassen, Teller, Becher. Letzteren kann ich noch für die Eisenbahn gebrauchen.

Draußen vor der Halle wiederum stehen die Händler mit gebrauchten und neuen Kleidern. Schuhe, Hosen, Jacken, Mantel und vor allem Pelze gibt es hier. Die Pelzmäntel aus Silberfuchs erregen meine Aufmerksamkeit. 700 Rubel kosten sie. Für einen Jungakademiker sind das etwa 6 Monatsgehälter. Für einen Schaffner in der Transsibirischen Eisenbahn sind es fünf.

Für mich wären es etwa 4 bis 7 Walkmen, also Taschen-Kassettenrekorder für je 10 Deutsche Mark oder 30 bis 35 Uhren für je 3.- DM, wie ich sie vorgestern verkauft habe. – Je nachdem, was man dafür bekommt.

Mit Geld zu rechnen, würde alle Vorstellungskraft sprengen. Denn auch die Anzahl der Rubel, die man für eine Deutsche Mark bekommt, liegt nicht fest. Bei der sowjetischen Staatsbank sind es etwa 1/3 Rubel, bei den Taxifahrern in Sotschi zwei Rubel und später erfahre ich, dass es in
Moskau „Insider“ gibt, die fünf Rubel zahlen. Wo also soll man da einen Kurs ansetzen ?

Der Pelzmantel-Verkäufer will mir meine Kassettenrecorder abkaufen. Doch die sind auf dem Bahnhof. Als ich alles Essen gekauft habe und mit ihm gehen will, ist er verschwunden.

So mache ich mich allein auf den Weg zurück zu meinem Gepäck.

Die restlichen Stunden will ich nutzen, die Stadt zu besichtigen.
Gleich vorweg: außer Kirchen ist nichts in der Sowjetunion sehenswerter als der „Rynok“, der Markt.
„Können wir in die Stadt fahren ?“ frage ich einen Taxifahrer. „Können wir,“ sagt er, „wohin ?“ – „Dorthin, wo man etwas sehen kann.“ Abgemacht. Im Taxi plaudern wir und er ist auch erfreut über „die Fuhre“ die er jetzt macht.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

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