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10.000 km ostwärts – eine Reise durch das beginnende 1989 (12), auf der Rückreise

CHABAROWSK, 3. MÄRZ 1989

Die Maschine ist gelandet und ich stehe in der langen Schlange vor der Passkontrolle, dann die Formularien, die Gepäckkontrolle…

„Haben Sie Bücher ?“ – „Ja“ sage ich und hole meine Wörterbücher und das Grammatiklehrbuch heraus. Er blättert darin herum und liest die Texte. „Nein.“ sagt er. „So etwas meine ich nicht !“ (Weiß ich doch!) „Elektronik ?“

Vier Walkman also Mini -Kassettenrekorder habe ich dabei, 15 Uhren, zwei Taschenrechner und zwei Wecker. Aber das lassen wir mal.

Wenn ich wider Erwarten die Tasche auspacken muss, kann man darüber immer noch reden. Ich hole die mitgebrachte Michel – Jackson – Platte hervor und sage: „An Elektronik habe ich nur das hier !“ Er wendet sie lange hin und her. Es ist zwar keine Elektronik, aber auch etwas zum Kontrollieren. „Gut“ sagt er. „Packen Sie zusammen. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.“ – „Danke.“

Im Durchgang nebenan erscheinen die beiden koreanischen Greise, die wieder zurück nach Sachalin fliegen. Ihre Anzüge, die sie drüben in Japan als Geschenk aus der Wohlstandsgesellschaft erhalten haben, sind abgetragen. Hier aber erscheinen sie als schreiender Luxus. Ob sie dem Neid ihrer Dorfgenossen entgehen werden ? Ich habe meine Zweifel.

Mit dem Bus fahre ich in Richtung Bahnhof. Er ist kalt und mit Holzbänken ausgestattet. Aber mehr ist ja auch nicht nötig.

Hunger habe ich. In der Bahnhofsgaststätte bestelle ich mir dann, 20 Uhr abends etwas zu Essen. „Woher kommst Du ?“ fragt die etwas ältere Kellnerin. „Aus Japan. Jetzt geht es wieder heim nach Deutschland.“ – „Hast Du etwas mitgebracht ? Kosmetik ? Eau de Cologne ?“ Ich schüttele den Kopf. „Das nicht. Aber Damen-Uhren, golden, an einem Kettchen. Man kann sie um den Hals
hängen.“ Sie schüttelt den Kopf. Dann kommt sie aber doch wieder. „Kannst Du sie mir zeigen ?“ Ich nicke und gehe in die Garderobe zu meinen Sachen. Ein halbes dutzend Kellnerinnen folgt.

Schmuggelgeschäfte

„Wie viel ?“ Ich überlege. „Zwanzig ?“ – „Was zwanzig ?“ – „Zwanzig Rubel.“ Je drei Mark haben die Uhren gekostet und war ich jetzt vielleicht zu hoch mit dem Preis ? Nein. Eher zu niedrig.
„Ja, gib schon her.“ Ehe ich mich versehe, sind sechs Uhren verschwunden und ich habe 120 Rubel in der Hand. „Noch welche ?“ Ich schüttele den Kopf und packe wieder ein. Verflixt, da rutschen mir doch noch zwei Uhren heraus. Zwei Kellnerinnen stürzen sich darauf und strecken mir das Geld entgegen.

Ich muss sie flehentlich bitten: „Sie, ich brauche die Uhren noch. Was soll ich meinen Freunden als Geschenk mitbringen ?“ Ist ja schon gut, ich bekomme sie wieder zurück.

Inzwischen kommen Leute aus dem Bahnhof, um zu schauen, was es hier gäbe. „Zusammenpacken, schnell, und die Taschen mitnehmen !“ zischt mir die ältere Kellnerin zu.

Der Großvater, der die Gardarobe bewacht, zetert. „Und meine Marke ? Der Ausländer hat seine Garderobenmarke nicht abgegeben !“ – „Schweig, Jegor Jefimowitsch !“ herrscht ihn die Chefin an. „Ja, mir fehlt eine Garderobenmarke jetzt. Und was bekomme ich dafür ?“ – „Bekommst schon was !“ sagt eine der Kellnerinnen.

Sie sind besorgt um mich und um das Geschäft, das sie eben gemacht haben. Das darf sich nicht herumsprechen auf dem Bahnhof. Dass ich morgen früh nach Wladiwostok will, habe ich ihnen schon erzählt. Dass ich noch nicht recht weiß, wo ich heute die Nacht verbringe, ebenfalls.

Eine der Kellnerinnen führt mich über eine Seitentreppe hinauf in das Obergeschoß des Bahnhofs. „Schnell !“ flüstert sie. Dann stehen wir vor dem Schreibtisch einer älteren Frau. „Der junge Mensch hier braucht ein Bett bis morgen früh nach Wladiwostok.“ – „Geben sie mir bitte Ihren Pass !“

Erst jetzt begreife ich, wo ich bin. Es ist der Bahnhofsschlafsaal. Zwei Rubel kostet die Übernachtung.

„Entschuldigung.“ sage ich. „Aber den Pass brauche ich doch noch !“ – „Warum ?“ – „Ich habe noch keine Fahrkarte.“ Schon jetzt ist mir bang, wenn ich daran denke, dass mir am Schalter vielleicht keine verkauft wird. Schließlich habe ich keine Visumseintragung für die Stadt…

„Gib mir 15 Rubel !“ sagt die Kellnerin. „In 10 Minuten wirst Du Deine Fahrkarte haben.“ Dann ist sie verschwunden. Als wir an dem Schreibtisch die Formulare ausgefüllt haben, kommt sie zurück: „Deine Fahrkarte. “ – „Tausend Dank.“

Wenig später liege ich frisch geduscht in einem frisch bezogenen Bett. In dem riesigen Raum stehen noch weitere sieben Betten. Mit einem Mal ist mir klar, dass ich hier wohl in einer Welt bin, in der ich als Ausländer gar nicht sein dürfte. Aber was ist erlaubt, was ist verboten ? Mein Transitvisum erlaubt mir, die Sowjetunion auf kürzestem Weg zu durchqueren.

Dass auch noch „Sotschi“ in dem Papier eingetragen ist, hat die sowjetische Botschaft in Tokio gemacht. Dazu hat der Botschaftsangestellte eingetragen, dass ich nach Sofia, nach Bulgarien fahren wolle. Mit der Fähre von Sotschi nach Varna. Das kann ich aber gar nicht, weil ich kein bulgarisches Visum habe. Im Übrigen will ich es auch nicht.

Aber es ist alles wichtig, die Papiere haben sonst ihre Ordnung nicht. Und nach Sotschi will ich unbedingt. Wie schreibt der vor 6 Wochen wieder verhaftete Vaclav Havel ?:

„In den Verhältnissen der Totalität verschwindet die Korrektive der Öffentlichkeit. Nichts hindert also die Ideologie daran, sich immer weiter von der Wirklichkeit zu entfernen und sich allmählich in das zu verwandeln, was sie in einem posttotalitären System ist, in eine Welt des Scheins, in ein bloßes Ritual, in eine formalisierte Sprache, die sich von dem semantischen Kontakt zur Wirklichkeit löst und in ein System ritueller Zeichen verwandelt, die die Wirklichkeit durch eine Pseudowirklichkeit ersetzen.“ (Versuch, in der Wahrheit zu leben, S. 19 ff. 1980, by Rowohlt Taschenbuch Verlag )

Im Schlafsaal der Eisenbahn

Die Funktion und die Notwendigkeit des Schlafsaals bekomme ich mit, als ein etwa fünfundvierzigjähriger Mann gegen 23 Uhr den Raum betritt.

Soeben ist er mit dem Flugzeug aus Nowosibirsk gekommen.
Morgen früh um fünf fährt er weiter mit dem Zug nach Norden.

Er ist Ingenieur und will viel wissen über den Westen. Jura studiere ich ? Wie ist die
Konkurrenz zu diesem Studium ?

„Konkurs“ sagt er. Das Wort bezeichnet die Anzahl der Bewerber, die sich um einen Studienplatz bemühen. Ich sage, dass es für dieses Studium in Deutschland keinen „Konkurs“ gibt. Für andere Fächer gibt es einen, für Medizin etwa. „Numerus Clausus“ wird das in der Bundesrepublik genannt. Für mich aber beginnt der „Konkurs“ erst, nachdem ich das Examen absolviert habe, wenn es um einen Arbeitsplatz geht.

Er nickt, das System ist ihm klar und er findet es eigentlich auch ganz logisch. Wenn sich eine Gesellschaft so viele Studenten leisten kann, bitte. In der Sowjetunion, so meint er, könne man sich das wohl nicht leisten. In der Sowjetunion kommen auf einen Platz an den Juristischen Fakultäten etwa 50 Bewerber.

„Und wie ist es dann mit der Arbeit ? Man liest viel bei uns über die Arbeitslosigkeit im Westen. “ – „Das ist eben das, was Du >Konkurs< nennst. Wenn ich ein gutes Examen absolviere, bekomme ich immer Arbeit, gute und begehrte Arbeit. Mache ich ein schlechtes Examen, dann bleiben nur minder bezahlte Jobs. Oder vielleicht auch gar keiner.“ Er nickt. So ist das eben im Leben.

„Und, machst Du ein gutes Examen ?“ will er wissen. „Nicht ganz“, sage ich, „dafür sitze ich zu viel in der sowjetischen Eisenbahn.“

Er lacht und wir plaudern noch eine Weile. Von der politischen Umgestaltung kann er nicht viel sagen. Sie interessiert ihn auch nicht direkt. Die Wirtschaft findet er viel wichtiger. Aber die hängt ja mit der Perestrojka zusammen. Und mag sein, dass er und seine Kollegen endlich aus dem Schlamassel kommen. Chabarowsk z.B. ist das Industriezentrum der fernöstlichen Sowjetunion.

Und was wird von hier aus exportiert ? Holz und Lachs.
Aber das ist zumindest schon etwas und eigentlich ist er ja auch ein bischen stolz darauf. Er liebt sein Land und es ist ihm schlicht nicht möglich, auf Distanz zu gehen. Konformitätsdruck nennt das die Soziologie. Bei fast allen Russen werde ihn noch feststellen, weniger allerdings bei Sowjetbürgern nichtslawischer Nationalität. Sie stehen unter anderen Konformitäten.

Zu augenfällig ist die fehlende Distanz der Menschen zueinander. Das „Du“, mit dem man hier angesprochen wird und mit dem man dann auch antworten kann, ist die Festschreibung dessen.
„Du“ ist die generelle Anredeform in Russland. Wenn man mit „Du“ angesprochen wird, ist man auch aufgenommen in die Gemeinschaft. Das „Sie“ ist eher unnormal. Es zeigt Distanz, doch nicht in dem Sinne, in dem in Westeuropa Distanz gezeigt wird.
Man will den anderen nicht so anders nehmen, wie er ist. Nein man will ihn gar nicht nehmen. Weil er eben so anders ist.

Wenn man hier mit „Sie“ angeredet wird, hat das meist nichts Gutes zu bedeuten. Auf jeden Fall ist man erst einmal „draußen“.

Zwischen „Du“ und „Sie“ hat die russische Sprache einen Kompromiss anzubieten: die Anrode mit „Sie“ und dem Vor- und Vaters- unter Weglassung des Familiennamens. Man gebraucht diese Form im Betrieb gegenüber den Vorgesetzten, auf Behörden und sonstigen Einrichtungen der Gesellschaft.

Es muss eine riesige seelische Anspannung sein, in dieser Gesellschaft aus der „Rolle zu fallen“. Und man tut es nicht ungestraft.

Solschenizyn z.B. ist für die meisten Russen immer noch ein Bösewicht. Er ist dies nicht wegen der antikommunistischen Gedanken, die er zu Papier gebracht hat. Die spielen nur in der pseudoöffentlichen Diskussion eine Rolle. Nein, sein Hauptverbrechen ist ein anderes. Seine Worte haben sich von denen seiner Mitmenschen entfernt. Mag sein, dass seine Gedanken eines Tages von allen Russen geteilt werden. Dann wird er ein Gott sein. Bis dahin bleibt er ein Teufel.

Dazwischen ist in Russland kein Platz, nicht für Abweichler. Ein Ausweg daraus ist für mich nicht in Sicht. Das, was sich heute in der Sowjetunion als „Neues Denken“ abzeichnet, ist nicht die offene Diskussion, wie wir sie uns im Westen vorstellen. Es ist ein bis aufs Messer durchgeführter Kampf verschieden denkender Gruppen. Kompromisse sind da nicht drin.

Der heutige gesellschaftliche Zustand in Russland ist keinesfalls die Folge des Kommunismus, sondern allenfalls eine seiner Ursachen.

Denn auch in Japan, das nun gar nichts damit zu tun hat, habe ich ihn gesehen: Den Gruppenzwang, die unverrückbaren Normen des Zusammenlebens. Es ist gar nicht wichtig, was sie beinhalten. Auf eines nur kommt es an: man darf sie nicht für alle sichtbar verletzen.

Aber zurück nach Chabarowsk. Ein „Du“ bin ich hier im Schlafsaal und auch als Mitreisender in den Zügen. Das hat zur Folge, dass die Leute mit mir ihr Brot teilen, ihren Speck, ihren Wodka, all die Dinge von denen sie selbst viel zu wenig haben.

Umgedreht wird erwartet, dass auch ich dies tue. Was ich in meiner Tasche habe, habe ich zu teilen oder zu verleugnen. Und erzählen muss ich alles, dann wird auch mir mitgeteilt: „Wenn Du morgen in Wladiwostok bist,“ sagt der Schlafgenosse, „steigst Du so schnell wie möglich in ein Taxi. Frage um Himmels willen keinen Milizionär nach dem Weg.“

Ja, diese sowjetische Norm des Zusammenlebens habe ich schon lange verinnerlicht.

Morgens zeitig geht er zu seinem Zug und wenig später sitze auch ich in dem meinen. Es geht in Richtung Süden. In mir steigt der Stolz auf.

Bild oben: So preiswert hatte ich noch nie übernachtet. Mit Bettwäsche und Duschen: 2 Rubel

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

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