Großstädter sehen gerne auf Alle und Alles jenseits der Metropolen herab. Ich gehörte lange dazu. Seit drei Monaten wohne ich nun im beschaulichen Buxtehude vor den Toren Hamburgs – und verliebe mich jeden Tag mehr in die Herzlichkeit und Schnelligkeit und den Zusammenhalt in der norddeutschen Provinz.
Noch vor wenigen Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, jemals ohne das pulsierende Leben einer großen Stadt existieren zu können. Jedenfalls, ohne dass es schnell erreichbar wäre. Schließlich kannte ich nichts anderes: aufgewachsen in Düsseldorf, Studium in Münster und Köln, Journalistenschule in München, erste Station als Hörfunkredakteur in Frankfurt, Korrespondent in Hamburg, Bonn, Berlin. Als Reporter viel unterwegs. Die letzten 22 Jahre wieder in Hamburg mit häufigen Aufenthalten in der Hauptstadt und anderen Metropolen auch im Ausland. Kleinstädte, Dörfer, das Land – das war nur etwas Folkloristisches für den Urlaub, möglichst außerhalb der Landesgrenzen. Aber dauerhaft da leben?
Mit den Jahren zog ich jedoch, als Folge mehrerer Trennungen, auch von meiner letzten festen Stelle, innerhalb Hamburgs immer mehr an den Stadtrand und dann auch noch südlich der Elbe – für richtige Hamburger ein No-Go. Und stellte fest, wahrscheinlich auch wegen zunehmenden Alters, dass ich den Trubel der City immer seltener vermisste. Und stattdessen Ruhe und Abgeschiedenheit zu schätzen lernte. Die vergangenenm sechs Jahre verbrachte ich mit meiner neuen Frau, auch sie eine Großstadtpflanze, allerdings sommers in einem russischen Dorf ihrer Großeltern groß geworden, das längst verschwunden ist, in einer früheren Bauernsiedlung, jetzt Schlafvorstadt, die gerade noch zu Hamburg gehört. Landschaftlich schön gelegen hinter dem großen Hafen an Heide, Wald und Hügeln (von den Hanseatischen Flachländlern „Harburger Berge“ genannt), nicht weit von der Elbe, aber toter als jedes echtes Dorf sein kann.
Wenn wir nach der Arbeit oder am Wochenende etwas unternehmen oder ausgehen wollten, fuhren wir deshalb von dort, statt eine beschwerliche Reise über die Elbbrücken oder durch den dauergesperrten und verstopften Elbtunnel zu unternehmen, ins Umland. Nach Lüneburg, Jork im Alten Land mit den vielen Apfel- und Kirschbäumen oder ins nahe Buxtehude mit seiner hübschen, vom Krieg verschonten Fachwerkaltstadt, netten Kneipen, Restaurants, Geschäften und ebenso liebenswerten Menschen. Deshalb war es nur ein kleiner Sprung über die Stadt- und Landesgrenze, als meine Frau neue Räume für ihr Geschäft suchte, hierher zu ziehen. Wir fanden ein älteres Haus, ungefähr so alt wie ich, und richteten es für uns her.
Hilfsbereitschaft ohne großes Gerede
Die Nachbarn, die fast alle hier schon immer oder seit Jahrzehnten leben, nahmen uns mit offenen Armen auf und versorgten uns mit Tipps und Ratschlägen fürs Eingewöhnen. Eine 75jährige frühere Musiklehrerin, die bei gutem Wetter häufig mit einem Buch im Garten sitzt, kam sogleich mit Brot und Salz, froh darüber, dass das Haus nebenan, das drei Jahre lange leer gestanden hatte, nachdem die letzte Bewohnerin, eine Freundin von ihr, gestorben war, nun wieder mit Leben gefüllt ist. Ihr Mann, ein stets verschmitzt lächelnder etwas schwerhöriger 86jähriger ehemaliger Finanzbeamter, lieh mir seinen nagelneuen Akku-Rasenmäher und die elektrische Heckenschere, um den verwilderten Garten wieder etwas in Form zu bringen. „Du musst die Geräte nicht selbst kaufen, kannst sie immer von mir haben“, sagte er dazu nur norddeutsch knapp. Ihr Kater Findus kam am nächsten Tag ebenfalls vorbei und sagte meinem leicht erschrockenen Hund Hallo.
Auch sonst staune ich über die Selbstverständlichkeit, mit dem einem hier Hilfe angeboten wird, ohne großes Gerede. Was ich in all den Großstädten, in denen ich gewohnt habe, höchst selten erlebt habe. Mitarbeiter von Ämtern und Behörden, städtischen Betrieben, Firmen und der örtlichen Bank rufen binnen kurzem zurück und erledigen Anträge, Aufträge und Anfragen in rasantem Tempo, worauf ich in Hamburg, gar Berlin, Wochen, Monate, wenn nicht vergebens gewartet hätte. Wo man sich häufig schon arg gedulden muss, um überhaupt einen Termin zu bekommen. Hier jedoch, Anruf beim Zahnarzt: „Wann wollen Sie kommen? Morgen früh um 8?“ Und das alles mit einer unbekümmerten Freundlichkeit, die mir immer noch fast verdächtig vorkommt. Dabei ist es wohl einfach nur Ausdruck einer entspannteren Lebenshaltung jenseits der hektischen Metropolen. Hier kennt fast jeder jeden und jede, ohne sich auf den Wecker zu gehen. Ganz anders als in unserem Reihenhaus zuvor, wo die unmittelbaren Nachbarn uns das Leben zunehmend mit ihrem Lärm und Gequatsche zur Hölle gemacht hatten.
„Wir sind hier eben anders“
Mit der Briefträgerin bin ich wie mit anderen seit dem ersten Tag per Du. Auch sie freut sich, dass da wieder jemand wohnt und bleibt gerne zu einem kleinen Plausch. Der Zeitungszusteller klingelte und entschuldigte sich, weil er die Sonntagszeitung (aus einer hessichen Großstadt!) wiederholt nicht rechtzeitig erhalten hatte und sie mir deshalb nicht in den Briefkasten stecken konnte. Jetzt bringt sie die Postbotin. In dem breiten Grünstreifen an der nächsten Straße, wo ich dreimal am Tag mit meinem Hund Gassi gehe oder im nahen Forst, werden der wenige Unrat und das Laub jetzt im Herbst zweimal die Woche entfernt. Dieser Tage sah ich dort zwei Arbeiter der Stadtwerke, die eine kleine Unebenheit im Fahrradweg ausbesserten. In Hamburg würde niemand im Traum auf die Idee kommen. Als ich die Arbeiter darauf ansprach, sagten sie nur: „Wir sind hier eben anders.“
Den Kauf des Hauses und Verkauf unseres bisherigen hat ein örtlicher Makler, bis vor kurzem Fraktionschef der Grünen im Rat der Stadt, mit steter Freundlichkeit höchst professionell und schnell abgewickelt. Eine ansässige Elektrofirma (ausführliches Angebot drei Stunden nach der Besichtigung durch den Chef per Mail!) und ein polnischer Allround-Handwerker, der ein paar Straßen weiter wohnt, mit einem ägyptischen Helfer haben unsere neue Bleibe mit mir in nur sechs Wochen auf Vordermann gebracht. Der bisherige Eigentümer, Fliesenlegermeister wie sein Vater, der das Haus 1952 für die Familie gebaut hat, zeigte mir jeden Winkel seines Elternhauses und ist gleichfalls immer zur Hilfe bereit: „Ruf einfach an!“
Selbst die Internetversorgung ist deutlich besser als im „Tor zu Welt“, wie sich Hamburg nennt. Hier war schon ein Glasfaseranschluss gelegt. Im unseren bisherigen großstädtischen Domizil hätten wir noch Jahre darauf warten müssen. Und als ich die Stadtwerke anrief, weil der neu eingebaute digitale Stromzähler noch nicht in deren System eingetragen war und ich deshalb die Verbrauchswerte nicht online melden konnte, wurde ich nicht etwa vertröstet. Ein äußerst zuvorkommender Angesteller entschuldigte sich dafür: „Moin, sollte nicht sein, ich kümmere mich sofort darum“, nahm die Zählerstände auch für Gas und Wasser telefonisch auf und trug sie für mich ein. „Dann müssen Sie das nicht später machen.“
Erdbeeren wachsen nicht an Bäumen
Bedauerlich nur, dass die kleinen Läden ringsum fast alle dicht gemacht haben, seit es am nahen Bahnhof ein Geschäftszentrum gibt. Neuerdings auch einen Bio-Supermarkt. Da sind Kleinstädte nicht anders als die großen. Immerhin gibt es in der Nähe weiterhin zweimal die Woche einen schönen Markt, wo Bauern aus der Nordheide und dem Alten Land ihre Waren feielbieten. Und man kann auch gut in ihren Hofläden einkaufen. Auch dort oft mit einem munteren Gespräch verbunden. So erzählte uns neulich die Besitzerin eines Obsthofes, dass Schulfreunde ihrer Tochter aus Hamburg zu Besuch waren. Die staunten, als nach der Party am nächsten Morgen von ihr frisch gepflückte Erdbeeren auf dem Tisch standen. „Ihr könnt selbst welche pflücken, sagte ich ihnen. Aber wo wachsen die denn?, fragten sie. Die wussten es wirklich nicht. Die dachten wohl an Sträuchern oder Bäumen.“
Erzähle mir also keiner mehr etwas von „Provinz“. Hinter dem Mond leben vielmehr viele in den Großstädten. Wer’s nicht glaubt, komme gerne in die alte Hansestadt an der Este, wo der Schwanz sprichwörtlich mit dem Hund bellt und Hase und Igel aus dem bekannten Märchen um die Wette laufen: „Ick bün all hier.“ Aber sich Fuchs und Hase keineswegs gute Nacht sagen. Und wir schon jetzt nicht mehr weg möchten.