MOSKAU – CHABAROVSK, 4. – 11. Februar 1989, dritter Teil: In Fernost
Wasja hat mich am nächsten Tag breit bekommen: Für 40 Rubel verkaufe ich Ihm mein Blitzlicht. Ein schlechter Preis, wie ich später feststelle. Ansonsten hat er kein Geld. Aber Moment, er nimmt ein Feuerzeug von mir und kommt wenig später mit 10 Rubeln wieder.
Er hat es verkauft, an den jungen Armenier in seinem Abteil.
Dieser heißt Aschot und ich will eigentlich kein Geld von ihm, nicht von einem Armenier, jetzt gerade nach dem Erdbeben in seiner Heimat.
Aber er will kein Geld zurück. So schenke Ich Ihm meine restlichen Feuerzeuge und zum Schluss meinen Reisewecker.
Er kommt aus Jerewan, von seiner Frau und seiner Tochter und fährt nach Wladiwostok. In Nachodka, 20 km entfernt von der Stadt, hat er mit Freunden eine Kooperative gegründet, eine Diskothek. Dort will er jetzt wieder hin. Das ist auch nicht gerade der nächste Weg.
Sein Russisch könnte besser sein, vor allem die Aussprache.
Trotzdem verstehen wir uns ganz gut und was das wichtigste ist – er lädt mich zu sich nach Wladiwostok ein. Genau diese Stadt will ich mir unbedingt anschauen. Eine Einladung für die Formalitäten auf der Botschaft In Tokio ? Aschot winkt ab. „Brauchst Du nicht, Wladiwostok Ist eine offene Stadt, jeder kann dorthin fahren.“ Ich bin mir nicht so sicher, vertraue ihm aber trotzdem.
Zu diesem, dem „geschäftlichen Teil“ lotst er mich übrigens hinaus auf den Gang. „Nicht dort drin, vor den Ohren der alten Tratschweiber.“ Er hält übrigens nichts von der Perestroika, gar nichts. Von Moskau sei noch nie etwas Gutes für sein Volk gekommen. Auch diesmal werde es nicht anders sein.
Ich bin verblüfft, wie genau er die armenische Geschichte kennt. Und er ist stolz darauf. Ja, er ist stolz darauf, dass in seiner Heimat die ältesten Kirchen der Welt stehen, dass Armenien auf 1700 Jahre Christentum zurückblicken kann. Armenien war erste Staat der Welt, der das Christentum zur Staatsreligion erhoben hat.
Bild unten (aus Wikipedia): Armenische Handschrift, 9. Jhd., Matenadaran – armenisches Handschriftenmuseum, Jerewan
Armenien hat ein Alphabet, dass um 700 Jahre älter ist als das Russische… Noch einmal: Was kann aus Moskau schon Gutes kommen ?
Und an Auswanderung denkt er auch schon mal.
Immerhin lebt über die Hälfte der Armenier außerhalb der Heimat, in Palästina, in Frankreich, in Amerika.
Noch ein letztes mal gehe ich in den Waggon mit dem Video-Raum, zusammen mit Aschot. Sie zeigen einen Kon-Fu-FiIm aus Hongkong. Und im Übrigen gibt es ja vorher noch die Video-Clips mit den Hits aus dem Westen.
Verzückt starrt Aschot auf Michel Jackson, der gerade auf einem Friedhof singt, während ein Rudel von Vampiren ihn und seine Freundin verfolgt. Hoffnungslos… sie wird von den Vampiren ergriffen, ausgesaugt und verwandelt sich in einen ebensolchen.
Aschot ist begeistert, wie alle vor dem Bildschirm. Er versteht nicht, dass ich Pop-Musik nicht mag.
Sowjetische Ruckmusik ? – Da findet er nichts dran. Außerdem ist die Bezeichnung unkorrekt. „Du meinst russischen Rock ? Russischen Heavy Metall ?“ – „Entschuldigung !“ Über den in Russisch gewechselten Worten habe ich ganz vergessen, dass dies gar nicht seine eigene Sprache ist.
„Was magst Du denn für Musik ?“ fragt er mich. „Folk – Musik, Country und Liedermacher.“ Sein Lieblingssänger wiederum ist eben Michael Jackson.
Die beiden „Tratschweiber“ bei ihm im Abteil sind eine ältere Ukrainerin und eine Russin, die fast ihr ganzes Leben in Ostsibirien verbracht hat. Letztere hat gerade einen Pullover für ihr Enkelkind erworben und betrachtet ihn. Seit Tagen schon läuft die Schaffnerin aus dem 7. Waggon mit einem Korb voll Kindersachen durch den Zug:
„Industriewaren ! Schauen Sie, welch schöne Sachen !“
Das Verkaufsabteil hatte ich schon Tage vorher betrachtet, auch den Pullover. Katja und Igor kamen mir damals entgegen: „Was willst Du hier ? Denkst Du. hier könne man etwas kaufen ?“ fragte Katja damals und Igor hatte den Kopf geschüttelt: „Nur Ladenhüter.“
Die Großmutter also packt seufzend den Pullover ein. Zumindest wird sie nicht reit leeren Händen auf Besuch kommen. „Was denken Sie ?“ frage ich, „sind die Russen hier anders als die westlich des Urals ?“
Sie nickt. „Ja. das wichtigste: hier gibt es nicht so eine Disziplin wie in Europa. Das Leben wird mir hier etwas zu leicht genommen.“
In mein Abteil sind drei junge Frauen eingezogen. Sie schlafen bereits, als ich mich endlich zu Bett lege. Am nächsten Tag erfahre ich, dass sie ebenfalls nach Chabarowsk fahren, auf das Technikum der „Fernöstlichen Eisenbahn“. Sie werden einmal auf dieser Strecke arbeiten.
Sie sind nicht sehr gesprächig und so ziehe ich mich immer öfter zu Aschot ins Abteil zurück, oder zu unserem Schaffner. Seine Glatze zeigt langsam wieder einen Schimmer von Haarwuchs und darunter muss wohl ein recht pfiffiger Kopf stecken.
„Spielst Du Schach ?“ fragt er mich. Ich nicke: „Nicht sehr gut.“ Wir spielen drei Partien, die ich alle verliere und unterhalten uns über dies und jenes. 150,- Rubel verdient er im Monat. Dafür muss er 14 Tage im Zug sitzen, nach Wladiwostok und zurück. Die nächsten 14 Tage hat er dann frei.
Man kann sich nicht viel leisten für 150 Rubel, soviel habe ich schon mitbekommen. Wie viel man sich leisten kann, das werde ich später noch erfahren. Ab und an verdient er sich ein paar Rubel dazu, wenn Ausländer im Zug sind.
„Willst Du Geld tauschen ?“ Nein danke, übermorgen will ich in Japan sein. Was sollte ich jetzt noch mit Rubel ? Für die Zukunft braucht er noch ein wenig Deutschkenntnisse. „Wie sagt man auf Deutsch: … ?“
Dann, am 11. Februar geht es endlich ans Aussteigen. Mit Aschot trinke ich einen letzten Tee und wickle mich in die zwei Hosen, die Jacke, den Mantel. Es ist nachts um eins Moskauer Zeit, will sagen: acht Uhr morgens Ortszeit. Über Chabarowsk ist gerade die Sonne aufgegangen.