MOSKAU – CHABAROVSK, 4. – 11. Februar 1989, zweiter Teil: In der Taiga
Igor hat sofort erkannt, dass die zwei neu einsteigenden Passagierinnen nette Menschen sind. „Tragen helfen“ flüstert er mir zu. Wenig später hat er ihre Taschen ins Abteil gehievt und sich mit ihnen bekannt gemacht. Dann braucht er noch ein paar Zigaretten. Ich selbst steuere eine Flasche böhmischen Weins dazu.
Wenig später sitzen wir bei ihnen im Abteil. Sie sind Studentinnen und fahren an ihre Universität nach lrkutsk. Politik, Perestroika ? Sie zucken mit den Schultern und Igor blickt mich vorwurfsvoll an: „Bitte nicht jetzt solches langweiliges Zeug !“
Es gibt wichtigere Dinge in Sibirien. Das mit der Liebe zum Beispiel. Igor hebt zu einem tiefen Seufzer an und es sitzt. Dass Igor auch eine eigene Familie hat, 12.000 km entfernt von seiner Frau und seiner Tochter arbeitet und sie so sechs mal Im Jahr sieht, hatte er schon erzählt. Nicht gewusst habe ich, dass dies in Sibirien allgegenwärtig ist. Später wird sie mir noch öfter begegnen, die Liebe auf Distanz: Junge Frauen die 5 Tage im Zug sitzen, auf der Reise zu ihren Männern die irgendwo, weit weg von daheim arbeiten oder dienen; in der Armee, in der Flotte.
Und umgedreht: Männer, die heimfahren zu Frau und Kind… tagelang.
„Glaubst Du an die ewige Liebe 7″ fragen mich die beiden Mädchen.
„Wenn ich daran glaube, wird es sie geben, wenn nicht, wird es sie nicht geben.“ sage ich. „Richtig,“ sagt die eine. „Wie hoffnungslos romantisch,“ sagt die andere.
In Irkutsk steigen die beiden wieder aus. In zwei Wochen wird die eine der beiden wieder heimfahren zu ihrem Mann. Es Ist nicht sehr weit, wie sie sagt. Wir haben es ja mitbekommen, nur 7 Stunden Eisenbahn.
Spätabends. Igor und Katja stehen am Fenster und starren in die Nacht. Dort draußen, im Dunkeln, hinter den Bäumen muss er sein. Der Baikal. Er hat seine Faszination auf alle Mitreisenden, selbst jetzt, da man Ihn gar nicht sieht. An allen Fenstern drücken sich die Leute die Nasen platt.
Bild unten: Ein Tagbild vom Baikal, aufgenommen auf der Rückfahrt.
Aus einem der Nachbarabteile kommt Wanja. Er Ist etwas über 40 Jahre alt und fährt auf Arbeit nach Komsomolsk am Amur. Er war 1976 als Techniker auf der Olympiade In München und weiß genau, was es alles im Westen zu kaufen gibt. Er fragt laufend nach diesem und jenem, was ich ihm wohl vermachen könnte. Den Fotoapparat ? Filme? Blitzlicht ? Mit seiner Tochter, die 4 Jahre alt ist, kommt er immer zu Oljescha zum Spielen. Aber Oljescha kann die Kleine nicht leiden. Sie ist zu zänkisch und will ihm ständig alles Spielzeug wegnehmen. Ich wiederum mag den Vater nicht leiden.
Heute ist für meine Freunde im Coupe der letzte Tag. Zusammen gehen wir Ins Restaurant. Nein – ich darf nichts bezahlen, alles bezahlen sie, wie auch Igor schon immer die Vorstellungen im Video-Waggon bezahlt hat.
In Tschita zweigt die Bahnlinie nach China ab. Wir fahren weiter nach Osten, immer an der Südgrenze der Sowjetunion entlang. Ich packe noch geschwind Geschenke aus und dann in der Nacht, zwei Stunden hinter Tschita steigen sie aus. Oljescha brüllt wie am Spieß, er will nicht in den dicken, unförmigen Anzug und auch die zwei paar Handschuhe sind ihm ein Gräuel. Außerdem ist er mit der Zeit ganz durcheinander. Es geht alles sehr schnell.
Nur ein kleines Bahnwärterhäuschen steht hier, mitten in der Taiga. Oleg wird von seinen Arbeitskollegen abgeholt, dann wird es noch zwei Stunden mit dem Jeep durch den Wald gehen. Ihr Wohnwagen dort auf der Baustelle wird schon vorgeheizt sein, Igors wohl aber nicht, er wird heute Nacht bei Schwester und Schwager schlafen. Morgen dann werden sie, dick verpackt, auf Arbeit stehen. Weit, weit weg von daheim. Aber lgor z.B. wird hier etwa viermal soviel verdienen wie einst als Busfahrer auf der Krim. Über drei Jahre läuft der Arbeitsvertrag. Man wird es aushalten.