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Vom Sinn des Soldatseins – Erinnerungen an den Wehrdienst in der DDR (Teil 2/9)

Fast jeder Mann, der ungefähr vor 1970 geboren wurde und bis 1990 in der DDR lebte, musste dort den Grundwehrdienst in der NVA oder anderen kasernierten Einheiten ableisten. Der Autor, Jahrgang 1960, erinnert sich in neun Kapiteln an seine eigenen entsprechenden Erfahrungen.

Kapitel 2

Neben meiner, der 20., gab es innerhalb der Kasernenmauern noch eine weitere, die 3. VP-Bereitschaft. Jede Bereitschaft besaß fünf Kompanien, welche wiederum in drei Züge und schließlich Gruppen sowie je einen Kompanietrupp unterteilt waren. In der Regel lebten die gut hun­dert Mann einer Kompanie in je einem separaten Block. Außerdem wurde meinem Fenster gegen­über ein Neubau hochgezogen, welcher demnächst eine strengstens geheime, extrem scharfe Elite-Einheit im Stile der bundesdeutschen Anti-Terror-Truppe GSG 9 beherbergen sollte. So war ich in den kommenden anderthalb Jahren / achtzehn Monaten / 545 Tagen fast ausschließ­lich von mehr als ­tausend uniformierten, überwiegend ein­gesperrten, einem engen Ver­hal­tens­kodex unter­worfenen Männern umgeben.

Wenn ich mich in meiner frischen Uniform im Spiegel be­trach­­tete, empfand ich den Anblick als jämmerlich. Ich hätte heulen mögen. Aber Selbst­mitleid half ja nicht weiter. Ich wusste, ich würde mich nicht nur mit der Kluft leidlich arrangieren müs­sen, son­dern mit allem, wofür sie stand: den Stumpfsinn und die Kargheit des militärischen All­tags, die politische Indoktrinierung, die sprachliche Verwahrlosung, die bestän­dige Entpersön­lichung und Erniedrigung. So sehr mir das klar war, so sehr war ich gewillt, mich davon niemals zur Gänze gefangen ­neh­men zu lassen. Wenig­stens mein Geist, nahm ich mir vor, sollte all das unbe­scha­det über­stehen.

Der im ganzen Land verbindliche Dienstplan zergliederte die folgenden 78 Wochen in ein kleinteiliges und langweiliges Einerlei nahezu identischer Abläufe. Punkt 6.00 Uhr pfiff der Unteroffizier vom Dienst (UvD) oder dessen Gehilfe (GUvD) und brüllte »Zweite Kompanie aufstehen!« Fünf Minuten mussten den schlaftrunkenen, teils noch verkaterten Soldaten genügen, um auf dem Klo ihr Wasser abzuschlagen und im weinroten Trainingsanzug draußen vor dem Kom­panie­gebäude in Reih und Glied anzutreten. Ihre schlechte Laune äußerten sie durch kollek­tives lautes Furzen. Es folgten zwanzig Minuten Frühsport unter­schiedlicher Intensität; bei mieser Laune des Vorgesetzten konnte die Sache in einen Zweitau­send­meterlauf oder in hef­tige Kraft­sport­übungen ausarten.

Bis 7.00 Uhr war Zeit, um sich an einer Art langem Viehtrog zu waschen, anzuziehen und die erste Stuben- und Revier­reini­gung des Tages zu absolvieren. Das Besteck in der seitlichen Hosentasche, die hässliche braune Plaste­tasse in der rechten Hand, jedoch ohne Koppel und Käppi, rückte die Einheit im Gleich­schritt in den Essensaal ein, wo es pappiges Weiß­brot, Marmelade, fettige Wurst und einen sehr süßen Ersatzkaffee gab. Das erste Dienst­halb­jahr kam als letztes an die Reihe und musste sich beim Essen sehr beeilen, denn bereits zwan­zig Minuten später beanspruchte die nächste Einheit die Tische, die vorher natürlich auch noch gesäubert werden mussten.

7.45 Uhr war Morgen­appell. Die Gruppenführer, der Spieß oder gar der Kompaniechef kontrollierten die Sauberkeit und den Sitz der Uniformen, den Glanz der Stiefel, den Haarschnitt, die Rasur der noch unaus­geschlafe­nen Angetretenen, verbreiteten mehr oder weniger schlechte Laune und teilten mit, wie der Tag ablaufen würde. Um acht begann die Ausbildung. Die vier Wochen währende Grund­aus­bildung der Rekruten war mit Recht gefürch­tet; alles Künftige war dann aber meist nur Routine und Auf­frischung. Sturm­bahn, simulierte Sturm­gefechte durch künstlichen Nebel, Kraftsport, das Anlegen und Ein­packen der Schutz­aus­rüstung, das Auf- und Absitzen vom Trans­port-LKW, Häuserkampf mit Übungs­hand­granaten, die Benutzung des Gummiknüppels und des Schutz­schildes, ferner der Pistole Marke »Makarow« und der Kalasch­nikow-MPi, das akribische Aus­ein­andernehmen, Rei­ni­gen und Zusammensetzen der­selben, das Bergen und Versorgen von Verwun­deten, diverse Eil- und Orientierungs­märsche, endloses Exer­zieren im Stechschritt und normal, wie benutzt man den Feldspaten zum Bau einer Ver­teidi­gungs­stellung und zum effektiven Töten des Gegners – Langeweile kam vor­erst wahrlich nicht auf. Die Mittags­pause um 14.00 Uhr war hochwill­kom­men, selbst wenn das Essen nicht schmeckte, denn sie ermöglichte in der Regel auch ein kurzes Ausruhen im Bett oder das Lesen eines Briefes.

Wo all das, was wir hier in stupiden Lektionen beigebracht bekamen, in Wirklichkeit hätte angewendet wer­den sollen, wollte ich, wollte niemand von uns so genau wissen. Lieber amü­sierte ich mich über die umständliche Detailpusseligkeit und die Langeweile, rieb ich mich an der Schikane und Schinderei der Ausbildung, als dass ich deren Zweck mir klar­machen wollte. Und ich hatte Glück, dass ich mit diesem Zweck während des gesamten Wehrdienstes nicht ein einziges Mal ernst­haft behelligt wurde.

Ein paarmal stand ich an einsamen Autobahnhaltebuch­ten, um der in ihren Nobelkarossen vorbeibrausenden Partei- und Staatsführung freie Fahrt zur Leip­ziger Messe zu verschaffen. Ich musste die schimpfenden Parkenden davon abhalten, wieder loszufahren, ehe nicht die Autobahn freigegeben war, ohne ihnen den Grund für die Sperrung verraten zu dürfen. Ein mitleidiger netter Mensch aus einem Westauto steckte mir einen Apfel zu, mit dessen Annahme ich bereits gegen die Vorschrift ver­stieß.

Ein andermal sollte unsere Ein­heit irgendein Jugendfestival mit kubanischen Gästen ab­sichern und wurde dazu nach Ro­stock verlegt. Wir schliefen in einer Schule, einmal auch in einer riesigen Turnhalle, und muss­ten bei Aufmärschen stundenlang Kordon stehen, aber das war es auch schon. Ältere Diensthalb­jahre berichteten von heftigeren Einsätzen, darunter von einer Massenschlägerei beim Werdera­ner Baumblütenfest, wo sie die vom Obstwein Betrunkenen auseinander­knüp­peln mussten.

Die größte Angst hatten wir aber vor sogenannten Russen­treib­jagden. Denn es kam immer wieder vor, dass verzweifelte sowjetische Soldaten desertierten und, da sie nichts zu ver­lieren hatten, sich be­­waff­net versteckten. In der Sowjetarmee war die Unterjochung einfacher Soldaten noch um ein Vielfaches brutaler als in der NVA; dort wurde die Prügelstrafe praktiziert, und Heimaturlaub erhielten die Muschkoten in den zwei Jahren ihres Dienstes höchstens einmal. Die deutsche Bereit­schaftspolizei wurde dazu eingesetzt, in Schützen­kette beispielsweise durch die Wälder zu streifen und den amoklaufenden Deserteur in die Enge zu treiben. Sobald er aufgespürt und ein­gekreist war, erledigten die russi­schen Kampfgenossen an ihrem Kameraden den tödlichen Rest.

Als im Herbst 1980 das Nach­barland Polen bro­delte, litten wir wochenlang unter Urlaubs­sperre. Eben noch hatte ich voller Sympathie das Sta­tut von »Soli­dar­ność« vervielfältigt, schon stand zu befürchten, dass die Armeen der übrigen War­schauer Ver­trags­staaten wie vormals 1968 in die ČSSR nun in Polen einmarschieren würden, um den Aufruhr blutig niederzuschlagen. Ich war verzweifelt, denn ich wusste wirklich nicht, wie ich mich, hätten sich die Führungen der übrigen Warschauer Vertragsstaaten zu einem derart kata­strophalen Schritt entschlossen, verhal­ten sollte. Befehlsverweigerung? Mit allen Konsequenzen? Knast im berüchtigten Militär­gefäng­nis Schwedt? Zum Glück ging der bittere Kelch, mich entscheiden zu müssen, an mir vorüber. Die Urlaubs­sperre wurde auf­gehoben; der polnische General Jaruzelski versuchte ein Jahr später im Allein­gang, sein aufgebrachtes Volk unter die Knute des Kriegsrechts zu zwingen.

Ein letztes Mal war ich mit den potenziellen Konsequenzen meiner militärischen Ausbildung am 7. und 8. Oktober 1989 konfrontiert, als Bereitschaftspolizisten in Berlin und anderswo friedlich demon­strierende Bür­ger zusam­men­schlugen und jagten, um sie auf LKWs zu pferchen und dem Stasiknast »zuzu­führen«. Drei Wochen zuvor hatten Josephin und ich in Leipzig selbst mit­demon­striert; massiv begleitet wurde unser Zug ebenfalls von Bereitschaftspolizei, die damals jedoch nicht gegen uns vorging. Hätte sie es getan, hätten wir, das wusste ich, unbedingt fort­lau­fen müssen, was die Beine hergaben. (Jose­phin war mit Lisa schwanger!)

Dass ich dann in Berlin – anders als manche meiner Freunde und Be­kannten – nicht unter den Demon­strie­renden und womöglich Verhaf­teten war, lag nur daran, dass ich mit dem gerade erst ein Jahr alten Lukas allein zu Hause saß und für ihn sorgen musste. Glück gehabt. Das noch grö­ßere Glück bestand freilich darin, dass ich zwar Bereit­schafts­­polizist, jedoch nur einer im Status der Reserve war. Denn meine militärische Aus­­­bildung hatte ja eigentlich exakt darauf abgezielt, in einer Situation, wie sie jetzt endlich ein­trat und die ich rück­­haltlos unterstützte, auf der Seite der Staatsmacht mit Waffengewalt gegen das eigene Volk und das eigene politische und mensch­liche Gewissen vor­gehen zu können und vorgehen zu müssen. Der 2007 im Lukas Verlag erschienene Bild-Text-Band »Linienuntreue« enthält ein paar Fotografien, auf denen am 7. Oktober 1989 Pots­damer Bereitschafts­poli­zisten aus der 9., der 5 sowie »meiner« 20. Kompanie einen einschüch­ternden Kordon gegen Demon­stranten bilden und sie gewaltsam auf die Ladefläche eines LKW zwingen.

 

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Über Frank Böttcher

Frank Böttcher wurde 1960 in Lutherstadt Wittenberg geboren und lebt seit 1981 in Berlin. In den 1990er Jahren schrieb er Kunstkritiken und dergleichen für den Tagesspiegel. Vor allem aber ist er Verleger des 1995 gegründeten, bis heute existierenden kleinen, aber feinen Lukas Verlags.

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